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1 Einleitung
Es ist nicht überliefert, ob sich Chief Justice John Marshall der Reichweite der Entscheidung seines Gerichtes bewusst war, als er am 24. Februar 1803 das Urteil im
Verfahren „Marbury v. Madison“ verkündete, mit dem die „Inthronisation der Verfassungsgerichtsbarkeit als Hüter der Verfassung“ (Brugger 1987: 5) ihren Anfang
nahm. Ebenso wenig ist bekannt, ob das Gericht in Kenntnis dieser Reichweite anders entschieden hätte als es dies damals tat. Mit Sicherheit sagen lässt sich lediglich, dass die Etablierung des höchstrichterlichen Prüfungsrechts, die mit dieser Entscheidung vollzogen wurde, nicht spurlos an den liberalen Demokratien moderner
Prägung vorüber gegangen ist.
Über die Rolle von Verfassungsgerichten, ihr Wirken und ihren Einfluss auf die
politische Willensbildung einer politischen Gemeinschaft sind aus der Geschichte
recht unterschiedliche Einschätzungen überliefert. So hatte etwa Charles-Louis de
Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, der mit seiner Schrift „Vom Geist
der Gesetze“ von 1748 als einer der Väter der modernen Idee der Gewaltenteilung
gilt, die richterliche Gewalt noch als „in gewisser Weise gar nicht vorhanden“ („En
quelque façon nulle“; Montesquieu 1992: 220) angesehen. Berühmt geworden ist
auch Alexander Hamiltons Diktum in den Federalist Papers (Nr. 78), dass von den
drei Gewalten in der Demokratie die Justiz die einflussloseste sei, da sie weder über
die Macht des Schwertes (wie die Exekutive) noch die Macht der Geldbörse (wie die
Legislative) verfüge, sondern lediglich mit Entscheidungsgewalt ausgestattet sei, was
sie zur schwächsten der drei Gewalten degradiere (Hamilton et al. 1982: 471 ff.).
Am 24. Februar 1803 entschied der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten
von Amerika also in seiner (hier ist das Wort einmal angebracht) epochalen Entscheidung „Marbury v. Madison“, dass Gesetze eines demokratisch legitimierten
Parlamentes an den Maßstäben der Verfassung überprüft werden können, und – in
der Rückschau noch wichtiger – dass es der Oberste Gerichtshof selbst ist, der diese
Überprüfung durchführen darf, kann und muss (vgl. zur Wirkung der Entscheidung
Heun 2003). War der US-Supreme-Court bis zu diesem Tag, ganz die Einschätzung
Hamiltons stützend, vermutlich tatsächlich die schwächste der drei demokratischen
Gewalten, markierte diese Entscheidung den Beginn einer auch mehr als 200 Jahre
später nicht gänzlich ausgeräumten Kontroverse um das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber in liberalen Demokratien.
Die Perzeption von Gerichten als weitgehend einflusslosen Akteuren ist mittlerweile einer deutlich anderen gewichen, und es ist fraglich, ob sich Montesquieu oder Hamilton ihre damalige Einschätzung heute noch einmal zu wiederholen trauten. Durchforstet man die neuere Literatur, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass
sich die Einschätzung gar in ihr Gegenteil gewandelt hat – wenn auch nicht immer so
forsch formuliert wie es etwa in dem Buchtitel „Democracy by Decree: What Happens
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When Courts Run Government“ (Sandler/Schoenbrod 2003) zum Ausdruck kommt.
Gleichwohl ließen sich eine Reihe jüngerer Publikationen anführen, die das Wirken
und die Rolle von höchsten Gerichten in Demokratien überaus kritisch bewerten. So
haben etwa Neal Devins und Louis Fisher nachzuweisen versucht, dass gewählte
Repräsentanten sehr viel effektiver als Gerichte individuelle Rechte schützen
(Devins/Fisher 2004; siehe auch Hirschl 2004; Waldron 2006; Bellamy 2008; Tushnet 2008) – während umgekehrt Kim Lane Scheppele herausgefunden haben will,
dass Gerichte sehr viel demokratischer agieren als Parlamente (Scheppele 2005).
Umgeachtet dieser Kontroverse kann das 20. Jahrhundert in der Rückschau nicht
nur als ein Jahrhundert der Demokratie und der Demokratisierung betrachtet werden
(Merkel 1999, 2004b), sondern auch als ein Jahrhundert des Siegeszuges der Verfassungsgerichtsbarkeit. Hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade einmal zwei
Demokratien eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit Normenkontrollkompetenz etabliert (USA und Schweiz1; Österreich folgte 1920), gab es am Ende dieses Jahrhunderts kaum mehr liberal-demokratische Staaten, die keine Gerichtsbarkeit mit „besonderen Zuständigkeitsnormen im verfassungsrechtlichen Bereich“ (Stern 1997:
411) etabliert hatten.
Die Demokratisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts sind selbst ein wesentlicher
Grund für die erfolgreiche Ausbreitung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Autokratische Systeme und ihre Machteliten haben naturgemäß kein Interesse an unabhängigen Gerichten, die ihre Handlungsfähigkeit kontrollieren und einschränken könnten.
Es ist aus der Geschichte kein nicht-demokratischer Staat bekannt, der eine effektive
richterliche Kontrolle der politisch Herrschenden etabliert hätte, und auch theoretisch erscheint die Annahme plausibel, Regeln richterlicher Kontrolle vor allem in
solchen Systemen zu vermuten, in denen eine herrschende Mehrheit prinzipiell in
absehbarer Zeit mit dem Verlust dieser Herrschaft rechnen muss; nur dann nämlich
ist es für den augenblicklichen Machthaber rational, Herrschaft durch richterliche
Kontrolle zu beschränken (Shapiro 2003: 19). Der umfangreiche Herrschaftsanspruch
autoritärer Systeme hingegen ist prinzipiell unverträglich mit verfassungsrechtlich
festgelegten Grenzen dieser Herrschaft.2 Nicht zuletzt die Erfahrungen mit autokratischer Herrschaft und dem Missbrauch von Machtpositionen innerhalb dieser Herrschaftssysteme haben zunächst nach 1945 und dann noch einmal vermehrt nach
1989 dafür gesorgt, dass die Sicherung individueller Grundrechte durch Gerichte ins
Bewusstsein der sich demokratisierenden Staaten und ihrer Bevölkerungen gedrun-
1 Ob die Schweiz zu diesem Zeitpunkt bereits als „Demokratie“ zu bezeichnen ist, ist durchaus
strittig. Streng genommen handelte es sich um eine „defekte Demokratie“ (Merkel et al. 2003),
da erst im Jahr 1971 Frauen in allen Kantonen das Stimmrecht zuerkannt wurde.
2 Zwar existierten historisch in einer Reihe autokratisch regierter Staaten formal auch Verfassungsgerichte (etwa in Jugoslawien oder der Türkei), diesen kam aber entweder nur eine Alibi-
Funktion zu oder sie waren in ihren Durchsetzungskompetenzen deutlich eingeschränkt und
hatten daher mit funktionierenden, unabhängigen Gerichten liberal-demokratischer Provenienz
nur wenig gemein. Siehe für ein differenziertes Bild der Rolle von Gerichten in autokratischen
Systemen aber auch Ginsburg/Moustafa (2008).
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gen ist und dann ihren Weg in die neu geschaffenen Verfassungen gefunden hat.
Folgt man den Daten von Freedom House, so fand sich im Jahre 1900 unter 130
souveränen Staaten der Erde keine einzige völlig freie Demokratie. Im Jahre 2000
hingegen ließen sich von 192 Staaten 120 als demokratisch und 16 als eingeschränkt
demokratisch klassifizieren (vgl. die Daten bei Merkel 2004c: 198 f.). Die Etablierung von Verfassungsgerichten erklärt sich also nicht unwesentlich aus den Demokratisierungsprozessen selbst, die in den letzten Jahrzehnten weltweit zu beobachten
gewesen sind (vgl. auch Tate 1995: 28 ff.).
Die gewaltenteilige Konstruktion demokratischer Systeme lässt die Etablierung
einer Verfassungsgerichtsbarkeit ebenso folgerichtig erscheinen wie die spätestens
nach 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte forcierte Politik der
Durchsetzung individueller (Menschen)Rechte, deren Etablierung eine gerichtliche
Instanz mit entsprechender Durchsetzungsgewalt vonnöten machte. Die Grundrechtskataloge moderner Verfassungen verlangen geradezu nach einer Instanz, welche die faktische Geltung dieser Grundrechte garantiert (siehe auch Henkin 1990).
Die Anfänge des judicial review – des Rechts also, Gesetzesakte des Parlamentes
und Handlungen der Exekutive zu überprüfen – lassen sich bis ins 18. Jahrhundert,
in einem Fall gar bis in das Jahr 16103 zurückverfolgen: Zwar hatte sich im Zuge der
Französischen Revolution in Kontinentaleuropa zunächst die Auffassung durchgesetzt, dass alleine die Legislative über die Annahme von Gesetzen zu bestimmen
habe, und dass Gerichte sich dieser obersten Gewalt unterzuordnen hätten. In den
vom französischen Zivilrecht beeinflussten kontinentaleuropäischen Rechtssystemen
manifestierte sich diese Auffassung aufs Deutlichste; die „verspätete Konstitutionalisierung“ Deutschlands etwa ist nicht zuletzt auf diesen Einfluss zurückzuführen
(vgl. Grimm 1994, insb. 31-66; Vorländer 1999). Bis heute lassen sich auch in der
Konstruktion des französischen Verfassungsrates, dem Conseille Constitutionnel,
die Legate dieser Entwicklung erahnen (vgl. Stone 1992). Gleichwohl hatten in den
amerikanischen Kolonien während der Periode der „Articles of Confederation“
bereits einige Gerichte auf Staatenebene parlamentarische Gesetzesakte für ungültig
erklärt (vgl. Schwartz 2000: 14; Heun 2003: 273 ff.), und auch die in der Paulskirchenversammlung 1849 erarbeitete erste demokratische deutsche Verfassung hatte
bereits ein starkes Reichsgericht vorgesehen, das mit der Kompetenz zur Normenkontrolle ausgestattet gewesen wäre, hätte die Verfassung denn je das Licht der Welt
erblickt. Selbst die Möglichkeit zur Verfassungsklage hatte die Paulskirchenverfassung schon implementiert: § 126 der Reichsverfassung sah sowohl „Klagen der
Einzelstaaten gegen die Reichsgewalt wegen Verletzung der Reichsverfassung durch
Erlassung von Reichsgesetzen“ vor wie auch „Klagen deutscher Staatsbürger wegen
3 Ironischerweise ist die erste Ausübung von judicial review ausgerechnet in England aktenkundig geworden, das sich in der Folgezeit bekanntlich zum Paradebeispiel eines Systems der Parlamentssouveränität entwickelt hat. Im berühmten „Dr. Bonham’s Case“ von 1610 entschied
Sir Edward Cook, dass „when an Act of Parliament is against common right and reason, or repugnant, or impossible to be performed, the common law will controul it, and adjudge such
Act to be void” (zitiert in Cappelletti/Adams 1966: 1211).
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Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte.“ Aber auch in
anderen Gegenden der Welt waren bereits früh Züge von judicial review erkennbar:
Fast alle lateinamerikanischen Staaten – mit Ausnahme von Chile, Paraguay und
Uruguay – hatten schon im 19. Jahrhundert Systeme richterlicher Normenkontrolle
etabliert. Gleiches galt für Griechenland, Dänemark und Rumänien um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert (vgl. Schwartz 2000: 16 ff.).
Jedoch ist fraglich, inwieweit die formalen Kompetenzen zur Normenkontrolle auch
tatsächliche Auswirkungen auf die politischen Vorgänge in den genannten Ländern
hatten. In Lateinamerika waren die Gerichte eingebettet in instabile Regimestrukturen,
die eine faktisch funktionierende Gerichtsbarkeit in den meisten Fällen verhinderten.
Die häufig stattfindenden Regimewechsel erleichterten ein Funktionieren ebenfalls
nicht. Ähnliches gilt auch für die angeführten kontinentaleuropäischen Beispiele
(Cappelletti/Adams 1966: 1214). Der „Siegeszug“ der Verfassungsgerichtsbarkeit
begann faktisch erst mit der Installierung des österreichischen Staatsgerichtshofes
1920, der zunächst nach 1945 und dann nach Fall des „Eisernen Vorhangs“ 1989 zum
Vorbild für eine vitale Verfassungsgerichtsbarkeit in West- und Osteuropa wurde.4
Vielleicht verdeutlicht nichts die rasante Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit so gut wie ein Blick auf die im Zuge der „3. Demokratisierungswelle“
(Huntington 1991) etablierten demokratischen Systeme Osteuropas: Keine einzige
neu etablierte Demokratie verzichtete darauf, ein Verfassungsgericht mit Kompetenzen zur Normenkontrolle an der Spitze des Rechtssystems zu etablieren, die meisten
folgten dabei sogar dem Modell Hans Kelsens und etablierten einen spezialisierten
Verfassungsgerichtshof (vgl. Schwartz 2000 und ausführlich Kapitel 4 dieser Untersuchung). Nun ist dieser Befund in der Rückschau wenig überraschend: Zum einen
hatten im Jahre 1989 fast alle demokratischen Staaten der Welt Gerichte mit Kompetenzen zur Normenkontrolle ausgestattet, sodass das verfassungsrechtliche Umfeld
eine solche Etablierung nahe legte. Zum anderen aber hatten die post-autoritären
Gesellschaften Osteuropas ähnliche Erfahrungen machen müssen wie sie der spanische Verfassungsrichter Luis Lopez Guerra für das post-autoritäre Spanien formuliert
hat (vgl. Schwartz 2000: 19): Die teils massiven Verletzungen der Grund- und Menschenrechte während der Zeit autokratischer Herrschaft – oftmals sogar unter Mithilfe
des jeweiligen Parlaments – haben die Notwendigkeit einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit ins Bewusstsein rücken lassen. Verfassungsgerichte sind in
Erinnerung vergangener Rechtsverletzungen als Sicherungsinstanzen für den Fall
installiert worden, dass parlamentarische Mehrheiten wieder die Verfassung und die
dort garantierten Rechte verletzen sollten. Die Etablierung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit zum Zeitpunkt des Regimewechsels von einem autoritären zu einem
demokratischen Regime kann also als eine rationale Reaktion auf die Erfahrungen der
4 Der erste nach dem Modell Hans Kelsens etablierte spezialisierte Verfassungsgerichtshof war
allerdings nicht der österreichische, sondern der tschechoslowakische, der bereits im Februar
1920 seine Arbeit aufnahm (der österreichische folgte im Oktober desselben Jahres). Dessen
Wirkung war jedoch nur sehr gering: Während seines 18-jährigen Bestehens verhandelte der
Gerichtshof lediglich zwei Parlamentsgesetze (vgl. Schwartz 2000: 18).
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autoritären Vergangenheit und die Unsicherheit der Zukunft gesehen werden (vgl.
auch Ginsburg 2003; Scheppele 2003; Bryde 2006; Romeu 2006).
1.1 Verfassungsgerichte und Gesetzgeber
Wenn die Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit in aller Welt eine solche Erfolgsgeschichte darstellt, weshalb muss dieser Geschichte mit dieser Arbeit eine neue
Episode hinzugefügt werden? Weshalb erscheint es lohnend, der Arbeit von Verfassungsgerichten in etablierten Demokratien eine weitere Untersuchung zu widmen?
Ein erster Grund liegt darin, dass sich der so genannte „neue Konstitutionalismus“
(Shapiro/Stone Sweet 2002) zwar mittlerweile über die gesamte Welt ausgebreitet hat
und ein empirisches Faktum darstellt, die sozialwissenschaftliche Analyse dieses
Phänomens aber dahinter zurückgeblieben ist. Rechtspolitik als Teilbereich der Politikwissenschaft hat an Einfluss innerhalb des Faches verloren und die Beschäftigung
mit rechtspolitischen Phänomenen ist mehr und mehr in die Rechtswissenschaft abgewandert (so auch Shapiro/Stone Sweet 2002: 3 ff.; Beyme 2001). Erst in jüngerer
Zeit sind wieder vermehrt politikwissenschaftliche Studien zur Rechtspolitik erschienen (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3 dieser Arbeit); die vorliegende Arbeit will
diesen Trend stärken.
Ein zweiter Grund ergibt sich direkt aus dem hier zu untersuchenden Gegenstand:
Gemessen an ihrer faktischen Verbreitung stellt die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit zweifellos eine Erfolgsgeschichte dar. Normativ hingegen ist ihr Wirken keineswegs unumstritten und eine zunehmende Anzahl empirischer Studien
zeigt, dass vermehrt kritisch nach der Rolle von Verfassungsgerichten in demokratischen Gemeinwesen gefragt wird. Als ein Hauptproblem wird dabei häufig das mitunter prekäre Verhältnis von Gericht und Gesetzgeber (Regierung oder Parlamentsmehrheit) thematisiert. Der amerikanische Rechtsgelehrte Alexander Bickel hat
hierfür den wirkungsmächtigen Begriff der „countermajoritarian difficulty“ geprägt,
die darin bestehe, dass nicht über Wahlen legitimierten Richtern erlaubt wird, Gesetze „niederzuschlagen“, die von gewählten Repräsentanten des Volkes verabschiedet wurden (Bickel 1986).
Der Konflikt zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit ist kein neuer, er ist vielmehr ein „Evergreen“ (Schuppert 1988) der staatsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Debatte. Seit der US-Supreme Court im Jahre 1803 zum ersten Mal einen Gesetzesakt des Parlamentes annulliert hat, zieht sich der Konflikt
zwischen demokratischem Primat der Parlamentsgesetzgebung und Kontrolle derselben durch ein höchstes Gericht durch die Geschichte liberaler Demokratien. Verfassungsgerichte genießen zwar im internationalen Vergleich ein hohes Ansehen
unter den Bürgern, und empirische Befunde deuten darauf hin, dass sich hinter dieser hohen Zustimmung eine grundsätzliche Akzeptanz der richterlichen Normenkontrolle verbirgt (Gibson et al. 1998); dieser diffuse support (Easton 1965) speist sich
unter anderem aus der Kontrollfunktion der Gerichte, welche die Sicherung indivi-
18
dueller Grundrechte vor dem Missbrauch durch die Exekutive oder Dritte gewährleistet. Gleichwohl geraten Gerichte immer wieder durch heftige öffentliche Reaktionen auf kontrovers rezipierte Urteile in Legitimationsnöte. Das Bundesverfassungsgericht etwa hat dies Mitte der 1990er Jahre erfahren müssen, als in kurzen
zeitlichen Abständen drei wichtige Urteile aus Karlsruhe („Sitzblockaden“, „Soldaten sind Mörder“, „Kruzifix-Beschluss“) zu heftigen Angriffen aus Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft führten, die die Legitimation des Gerichtes zeitweilig
erschütterten (vgl. Lamprecht 1996; Wesel 1996; Höffe 1999; Limbach 1999). Ähnliche Reaktionen auf kontroverse Entscheidungen lassen sich in fast allen liberalen
Demokratien feststellen, in denen Gerichte das Recht zur Normenkontrolle ausüben
– insbesondere dann, wenn sie über gesellschaftlich kontroverse Themen entscheiden müssen, wie etwa in der Abtreibungsdebatte, in Fragen der Meinungsfreiheit
oder der Minderheitenförderung. In der Öffentlichkeit weniger umstritten erscheinen
hingegen Urteile zur Finanz- oder Wirtschaftspolitik, die aber wiederum von den
politischen Akteuren mit besonderem Argwohn verfolgt werden, ziehen diese Urteile doch mitunter monetär ungemein kostenträchtige Folgen nach sich.
Verfassungsgerichte operieren institutionell an der Nahtstelle von Politik und
Recht. Dass sie zugleich rechtliche und politische Akteure sind, erklärt auch, weshalb ihre Stellung und ihre Aufgaben in Demokratien mitunter umstritten sind. Wie
Robert Dahl schon 1957 in Bezug auf den US-Supreme Court süffisant anmerkte:
„As a political institution, the court is highly unusual, not least because Americans are not
quite willing to accept the fact that it is a political institution and not quite capable of denying
it; so that frequently we take both positions at once. This is confusing to foreigners, amusing to
logicians, and rewarding to ordinary Americans who thus manage to retain the best of both
worlds” (Dahl 1957: 279).
Einerseits urteilen Verfassungsgerichte idealiter auf der Grundlage der Verfassung
und der dort niedergelegten Grundsätze, deren Auslegung ihnen übertragen worden
ist. Sie versuchen, über rechtswissenschaftlich akzeptierte Methoden Verfassungsnormen adäquat und eindeutig auszulegen und auf diese Weise zur Lösung ihnen
vorgetragener Rechtsprobleme zu gelangen. Systemtheoretisch gesprochen sind sie
hoch spezialisierte Organe, die in der verbindlichen Rechtsauslegung eine spezifische Funktion für das Gesamtsystem übernehmen, die von keinem anderen Akteur
ausgefüllt werden kann. Durch ihre Letztentscheidungskompetenz in Streitfällen
legen sie Rechtsnormen verbindlich aus und sorgen so für die Integration des
Rechtssystems auf der einen und des Gesamtsystems Gesellschaft auf der anderen
Seite (Schneider 1999b). Andererseits sind Verfassungsgerichte aber ebenso – direktdemokratisch nur schwach legitimierte – politische Akteure, die mitunter gesellschaftlich kontroverse Fragen an Stelle der Parlamente entscheiden, denen als zentraler Repräsentationsinstanz einer (repräsentativen) Demokratie eigentlich primär
die Aufgabe zukommen sollte, Gesetze zu erlassen.
Verfassungsgerichte werden damit (notgedrungen) selbst zu „politischen Akteuren“, indem sie durch ihre Urteile konkrete Policies beeinflussen oder gar autoritativ
bestimmen. Sie sind auf Einfluss im politischen Prozess bedacht, antizipieren die
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Präferenzen anderer Akteure und stehen wegen ihrer Letztentscheidungskompetenz
häufig im „Sturmzentrum“ (O’Brian 2003) der politischen Auseinandersetzung. Ihre
Entscheidungen sind insofern „politisch“ im Sinne Dahls (1957), als sie zum einen
nicht selten inhaltliche Policy-Vorgaben an den Gesetzgeber richten und weil sie
zum anderen nicht immer ausschließlich deduktiv aus Rechtsnormen gewonnen
werden können, sondern auf der Basis von rationalen Wert- und Einschätzungsurteilen gefällt werden müssen (abweichende Urteile von einzelnen Verfassungsrichtern
beweisen zudem, dass man mit den gleichen rationalen Auslegungsmethoden mitunter zu gänzlich verschiedenen, möglicherweise ebenso gut begründeten Ergebnissen
gelangen kann). Wenn eine Urteilsfindung aber nicht in jedem Fall deduktiv aus
Verfassungsnormen oder Präzedenzfällen abgeleitet werden kann, sondern neue
Kriterien „gefunden“ oder konstruiert werden müssen, wird ein Verfassungsgericht
in der öffentlichen Wahrnehmung schnell zu dem, was Robert Dahl einen – demokratietheoretisch abnormen – „national policy-maker“ nennt (ebd.).5
Es überrascht daher nicht, dass gerade von Seiten der politischen Akteure (und
auch der Wissenschaft) regelmäßig die Forderung nach richterlicher Zurückhaltung
und Selbstbeschränkung erhoben wird (vgl. z. B. Höffe 1999). Der US-Supreme
Court hat mit der Figur des „judicial self-restraint“ den Versuch unternommen, diesen Forderungen nachzukommen, ohne aber im Effekt weniger Einfluss auf die
Gesetzgebung auszuüben als zuvor (vgl. O’Brian 2003).6 So scheint es vor allem die
vermeintlich fehlende Grenzziehung zwischen den Kompetenzen des Verfassungsgerichts und des (parlamentarischen) Gesetzgebers zu sein, welche die Debatte um
Gerichte und Parlamente am Leben hält und ihr bis heute Schwung verleiht.
Problematisiert wird dies sowohl von Seiten der Politik als auch von Seiten der
Richter selbst. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse etwa betonte
die spannungsreiche Beziehung zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, als er – pikanterweise auf dem deutschen Juristentag – mit Blick auf den bundesdeutschen Kontext anmerkte: „Beide Seiten – Parlament und Bundesverfassungsgericht – sollten darauf achten, dass die Grenze zwischen Judikative und Exekutive
nicht überschritten wird. Da diese Grenze zwischen Parlamenten und Verfassungs-
5 Allerdings weist Dahl zugleich darauf hin, dass empirisch betrachtet parlamentarische Mehrheiten mittel- und langfristig – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer ihre jeweilige Policy-Position durchsetzen konnten, weshalb die demokratietheoretische Problematik empirisch
weit weniger relevant sei als die theoretische Sicht vermuten lasse (Dahl 1957: 286 ff; siehe
hierzu auch Howard 2008).
6 Gunnar Folke Schuppert hat zu Recht darauf verwiesen, dass der Begriff des „self-restraint“
insofern missverständlich ist, als er den Blick auf funktionell-rechtliche Grenzen der Rechtsprechung verstellt (vgl. Schuppert 1980; 1988, hier insb. Fn. 5). „Richterliche Zurückhaltung“
ist keine Frage freiwilliger Großzügigkeit von Seiten der Richter, sondern ein rechtliches oder
demokratisches Funktionserfordernis (vgl. auch Grimm 1976). Zudem ließe sich einwenden,
dass die Forderung nach richterlicher Zurückhaltung verkennt, dass Gerichte gerade durch die
Normenkontrolle eine wichtige Funktion in Demokratien ausüben, deren Preisgabe die Qualität der Demokratie selbst wesentlich beeinträchtigen würde. Siehe hierzu insbesondere Kapitel
6 dieser Untersuchung.
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gericht offenbar unklar ist, dürfte es erst recht unklar sein, wie sie durch formaljuristisch-handwerkliche Hilfestellung gefunden werden soll“ (Thierse 2004: 2). Und die
ehemalige Verfassungsrichterin Rupp-von Brünneck zitierend, fuhr er fort: „Es wird
eine der wesentlichen Aufgaben der Rechtsprechung der Zukunft sein, Zusammenhänge zwischen der Reichweite der Gesetzesprüfung und der Funktionsverteilung
zwischen verschiedenen Gewalten deutlich zu machen und von daher Kriterien zu
entwickeln, die trotz der Erweiterung des Prüfungsfeldes verhindern, dass das Bundesverfassungsgericht in die Rolle des Ersatzgesetzgebers gerät“ (ebd.).
Aber auch von Seiten der Richter wird dieses grundsätzliche Problem als solches
perzipiert. So hat etwa der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem seinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Bundesverfassungsgericht gewidmeten Aufsatz angemerkt, dass eine demokratische Legitimation
der Verfassungsgerichtsbarkeit unabdingbare Voraussetzung für ihr erfolgreiches
Wirken ist. Demokratische Legitimation soll
„verhindern, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit, zum Schutz der Verfassung errichtet, zu einer
unkontrollierten Übermacht gegenüber anderen Gewalten wird und dadurch die demokratische
Verfassungsstruktur gefährdet, statt sie zu sichern. Sie soll erreichen, daß die Kontrolle anderer
vom Volk legitimierter Gewalten, insbesondere des Gesetzgebers, selbst als vom Volk ausgehend angesehen werden kann. Und sie soll dabei Bedingungen schaffen, die es positiv ermöglichen und nicht etwa behindern, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit als Hüter der vom Volk beschlossenen und getragenen Verfassung effektiv wirksam wird“ (Böckenförde 2000b: 177).
Angesichts dieser tatsächlichen oder vermeintlichen Konkurrenzstellung von Verfassungsgerichten und Gesetzgebern verwundert es nicht, dass Verfassungsgerichte
häufig und gerne als machtvolle „Nebenregierungen“ (z. B. Schmidt 1992: 46), als
„Kontra-Regierungen“ (Wildenmann 1969) oder, in moderner institutionentheoretischer Sprache, als „Vetospieler“ (z. B. Tsebelis 2002) bezeichnet werden. Aber sind
sie das tatsächlich?
Verfassungsgerichte als „Vetospieler“?
Der Begriff des Vetospielers ist in der modernen Politikwissenschaft insbesondere
von George Tsebelis geprägt worden (Tsebelis 1995, 2000, 2002; siehe aber auch
Immergut 1990 zum Begriff der „Vetopunkte“). Tsebelis versteht unter einem Vetospieler einen solchen (kollektiven oder individuellen) Akteur, dessen Zustimmung
erforderlich ist, um einen bestimmten legislativen Status quo zu verändern.7 Der
Status als Vetospieler kann durch verfassungsrechtlich-institutionelle Bestimmungen
zugewiesen sein (institutional veto players) oder durch die Spezifika des politischen
Systems, wenn Akteure innerhalb der institutionellen Vetospieler Vetomacht erlangen (partisan veto players). Die jeweilige Policy-Position eines Vetospielers und die
7 „A veto player is an individual or collective actor whose agreement is required for a policy
decision” (Tsebelis 1995: 293).
21
Konstellation der Vetoakteure untereinander bestimmen dann die Möglichkeiten
einer Veränderung des Status quo: Eine Veränderung wird nur innerhalb der
Schnittmenge der Policy-Positionen (dem winset) stattfinden können.
Die Grundannahmen des Vetospieler-Modells lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. Erstens: Je höher die Anzahl der Vetospieler, desto geringer ist die
Chance einer Veränderung des Status quo; Zweitens: Je größer die ideologische/
programmatische Distanz zwischen den Akteuren, desto geringer ist ebenfalls die
Chance einer Status-quo-Veränderung. Drittens können kollektive Vetospieler umso
leichter Veränderungen verhindern, je höher die interne Kohäsion des jeweiligen
Akteurs ist. Neben „klassischen“ Vetospielern wie Präsidenten, Parlamentskammern
oder Koalition(spartei)en zählt Tsebelis auch Gerichte und insbesondere Verfassungsgerichte zu den institutionellen Vetospielern, wenn sie befugt sind, die Verfassung autoritativ zu interpretieren. Sie können seiner Meinung nach deshalb als Vetospieler konzeptionalisiert werden, weil unter bestimmten Umständen ihre Zustimmung zur Veränderung des Status quo vonnöten ist.
Allerdings unterscheiden sich (Verfassungs-)Gerichte in mehrerlei Hinsicht von
anderen politischen Vetoakteuren, weshalb eine Präzisierung der Tsebelisschen Annahmen notwendig erscheint. Zunächst sind Verfassungsgerichte nicht per se Spieler
im Policy-Prozess, da sie von einer dritten Partei angerufen und ins Spiel gebracht
werden müssen. Sie sind also allenfalls „triggered veto players“ (Lhotta 2003). Kein
Verfassungsgericht westlicher Demokratien besitzt die Kompetenz, eigeninitiativ (ex
offizio) tätig zu werden und beispielsweise Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu
überprüfen. Der Zugang zum Gericht variiert zudem von sehr restriktiven Modellen,
in denen nur Teile der Exekutive das Gericht anrufen können (z. B. Österreich 1920-
27, Frankreich vor 1974), über Modelle des limitierten Zugangs, in denen zusätzlich
parlamentarischen Minderheiten der Zugang zum Gericht eingeräumt wird (z. B.
Frankreich nach 1974), bis hin zu sehr offenen Systemen mit Möglichkeiten der Verfassungsbeschwerde (z. B. Deutschland), die mitunter nicht einmal von Betroffenen
vorgebracht werden muss (wie etwa in Ungarn; vgl. zur unterschiedlichen institutionellen Ausgestaltung des Zugangs zu Verfassungsgerichten Kapitel 4 dieser Arbeit).
Anders als im Falle institutioneller Vetospieler muss ein Verfassungsgericht also
nicht in jedem Fall einer Status-quo-Veränderung zustimmen, weil es nicht automatisch mit dieser Veränderung befasst ist und über sie zu befinden hat. Es kann jedoch
durch einen anderen Akteur zum Vetospieler gemacht werden und würde daher besser als „potentieller“ oder „konditionaler Vetospieler“ bezeichnet, der je nach institutioneller Gelegenheitsstruktur von anderen Akteuren zum Mitspielen „gezwungen“
wird. Eine differenzierte Untersuchung zur Rolle von Gerichten im Politikprozess
muss also zunächst die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zum Gericht berücksichtigen, um zeigen zu können, unter welchen Umständen und Konstellationen
aus einem potentiellen „Vetospieler Verfassungsgericht“ ein tatsächlicher wird.8
8 Tsebelis (2000) argumentiert weiter, dass Gerichte dann besonders aktivistisch in Politikprozesse eingreifen, wenn viele Vetospieler eine Veränderung des Status quo verhindern. In sol-
22
Zudem sind Verfassungsgerichte mit unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet, die ihren Einfluss auf die Politik – und damit ihre Intensität als Vetospieler –
variieren lassen. So besitzt etwa der französische Verfassungsrat keine Kompetenz
zur konkreten Normenkontrolle; er kann nur solche Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen, die noch nicht in Kraft getreten sind. Dem US-Supreme Court
auf der anderen Seite ist keine abstrakte Normenkontrolle erlaubt, er entscheidet
lediglich konkrete Streitfälle, über deren Annahme er außerdem faktisch frei entscheiden kann (vgl. u. a. Brugger 1987). Der Hohe Rat der Niederlande wiederum
besitzt qua Verfassung (Art. 120) generell keine Kompetenz zur Prüfung von Gesetzesakten (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 4 dieser Arbeit).
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird zu diskutieren sein, ob Gerichten überhaupt
eine eigene Policy-Position unterstellt werden kann, die mit der politischer Akteure
vergleichbar ist (wie dies etwa Richard Posner behauptet; vgl. Posner 1993). Anders
als bei diesen, so könnte man einwenden, bestimmt sich die Entscheidung eines Gerichtes über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zumindest nicht primär (und in
jedem Fall nie ausschließlich) aus den persönlichen und/oder politischen Präferenzen
seiner Mitglieder, sondern mindestens ebenso über die Auslegung spezifischer Verfassungsnormen. Zwar kann und muss nicht davon ausgegangen werden, dass Richter
generell ihre persönlichen Präferenzen bei Entscheidungsfindungen völlig außer acht
lassen (können); durch die hohe Spezialisierung und die Notwendigkeit öffentlicher
Rechtfertigung auf der Basis rechtlicher Normen kann aber zumindest unterstellt werden, dass in den allermeisten Fällen persönliche Präferenzen keinen ausschlaggebenden Einfluss auf den Urteilsspruch haben (vgl. zustimmend Ashenfelter et al. 1995,
Landfried 1984; eingeschränkt Rohde/Spaeth 1976; anders jedoch für den US-Supreme Court Segal/Spaeth 2002; siehe hierzu auch die Diskussion in Kapitel 3 dieser
Untersuchung). Es wird zu fragen sein, ob sich die Policy-Position eines Gerichtes
tatsächlich eher aus den politischen Präferenzen seiner Richter speist, oder ob nicht
mindestens ebenso sehr der Abgleich einer zu prüfenden Norm mit den Vorgaben des
Verfassungsrechts für die Position eines Verfassungsgerichts verantwortlich ist.9
chen Fällen eröffne sich für Gerichte ein größerer Handlungsraum. Empirisch plausibler erscheint allerdings die Annahme, dass Gerichte dann aktivistischer agieren, wenn sie von oppositionellen Akteuren aktiviert werden, die bei einer bereits erfolgten Status-quo-Veränderung
unterlegen waren und die Entscheidung über den Gerichtsweg wieder zu revidieren versuchen.
In diesen Fällen werden diese Akteure über den Umweg des Verfassungsgerichtes selbst zu
(indirekten) Vetospielern, obwohl ihnen eigentlich keine institutionelle Vetoposition zukommt.
Erfolgt hingegen keine Veränderung des Status quo, fehlt es in der Regel an Anreizen, das Gericht überhaupt einzuschalten. Der Grund für einen höheren Aktivismus des Verfassungsgerichts ist daher weniger in der Vetostruktur des politischen Prozesses zu vermuten als vielmehr
in den Aktivierungsanreizen, die auf antragsbefugte Akteure wirken.
Auch Alivizatos (1995) erklärt – neben dem Dezentralisierungsgrad eines politischen Systems
und der parlamentarischen Polarisation – die Anzahl der Vetospieler zu einem relevanten Faktor für die Aktivität eines Gerichtes, ohne dies jedoch näher zu begründen (Alivizatos 1995).
9 Darüber hinaus verweist Tsebelis (2002: 227) darauf, dass der meist konsensuale Bestellungsmodus von Verfassungsrichtern sicherstelle, dass der Median der Policy-Präferenzen des Gerichtes in etwa dem der politischen Akteure insgesamt entspreche; Verfassungsgerichte werden
23
In diesem Licht wird auch kritisch zu prüfen sein, ob Verfassungsgerichte als
„strategische Akteure“ konzeptionalisiert werden können, wie auch Tsebelis dies
implizit tut (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3.2.1 dieser Untersuchung). Insbesondere rational-choice-orientierte Modelle und Theorien (siehe z. B. van Geffen 2001;
Epstein/Knight 1998; Epstein et al. 2001) unterstellen Gerichten eine ähnlich rationale Strategie wie anderen politischen Akteuren (etwa Parlamenten, Regierungen
oder Parteien). Dabei bleibt jedoch meist unterbestimmt, worin genau die strategische Orientierung des Akteurs Verfassungsgericht bestehen soll. Van Geffens Argumentation (van Geffen 2001) beispielsweise legt nahe, dass Verfassungsgerichte
bei der Auslegung von Verfassungsnormen nicht alleine aufgrund verfassungsrechtlicher Argumente oder eigener „politischer“ Präferenzen entscheiden, sondern vor
allem die Handlungen und Handlungsoptionen der anderen politischen Akteure
antizipieren und bei ihrer Entscheidung berücksichtigen. Nach dieser Auffassung
wird die Entscheidung eines Gerichtes unter anderem davon beeinflusst, ob das
Gericht damit rechnen muss, dass der Gesetzgeber durch ein neues Gesetz oder eine
Änderung der Verfassung das getroffene Urteil zu unterlaufen versuchen wird (vgl.
auch Tsebelis 2002: 222). Das Gericht bezieht also nach dieser Sichtweise bereits in
seinem Urteilsspruch mögliche Reaktionen der politischen Akteure in sein Kalkül
mit ein, urteilt anders als es ohne diese antizipierte Reaktion geurteilt hätte und handelt in diesem Sinne strategisch. Es wählt seine in der Entscheidung zum Ausdruck
kommende Policyposition in Abhängigkeit der Handlungsmöglichkeiten und Präferenzen anderer Akteure.
Diese Modellannahme eines strategisch kalkulierenden Verfassungsgerichts ist
aber nicht von vorne herein evident. Sie erscheint schon deswegen nicht ganz plausibel, weil in fast allen etablierten Demokratien die prozeduralen Hürden zur Verfassungsänderung so hoch liegen, dass eine Orientierung an einer möglicherweise
„drohenden“ Verfassungsänderung wenig rational wäre (siehe zur konstitutionellen
Rigidität beispielsweise die Daten bei Lijphart 1999: 220 sowie Lorenz 2005). Auch
wäre ein Gericht nicht gehindert, einen gleichlautenden neuen Parlamentsbeschluss
diesseits der Verfassungsänderung in einem weiteren Verfahren ebenso zu annullieren wie im ersten Fall. Vor allem aber bleibt diese strategische Modellannahme
zunächst die Antwort auf die Frage schuldig, weshalb Verfassungsgerichte überhaupt ein Interesse daran haben sollten, nicht durch den (Verfassungs)Gesetzgeber
überstimmt zu werden.
Diese letzte Frage kann plausibel beantwortet werden, allerdings muss unter dem
Begriff der „strategischen Orientierung“ etwas anderes verstanden werden als im
eben dargestellten Modell: Da Verfassungsgerichte in besonderer Weise auf die
freiwillige Befolgung ihrer Urteile durch politische und gesellschaftliche Akteure
angewiesen sind, liegt es nahe anzunehmen, dass Gerichte und Richter im Entscheialso als Vetospieler „absorbiert“. Auch dieses Argument ist nicht unproblematisch. Es ist nur
dann plausibel, wenn angenommen werden kann, dass diese Policy-Präferenzen bei der Urteilsfindung tatsächlich eine beherrschende Rolle spielen. Siehe auch dazu die Diskussion in
Kapitel 3 dieser Untersuchung.
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dungsfindungsprozess auch die Wirkung ihrer Urteile in der Öffentlichkeit antizipieren müssen. Anders als die Exekutive verfügt ein Verfassungsgericht bekanntlich
nicht über einen Beamtenapparat, der ein ergangenes Urteil auch faktisch in Politik
und Gesellschaft implementieren und dort auch gegen Widerstände durchsetzen
könnte. Die „Macht“ des Gerichtes beruht letztlich ausschließlich auf seiner Legitimität und dem Vertrauen, das ihm durch politische wie gesellschaftliche Akteure
entgegengebracht wird. Mehr noch: Die Macht zur Umsetzung einer Entscheidung
liegt nicht selten in den Händen derer, die durch eine Entscheidung selbst betroffen
sind: den politischen Akteuren; diesem Umstand sind sich zweifellos auch die handelnden Richter bewusst (vgl. etwa Limbach 1999). Deswegen scheint die Annahme
nicht abwegig, dass ein Gericht die Wirkung seiner Entscheidungen in der (politischen) Öffentlichkeit zumindest antizipieren muss. Problematisch kann dies dann
werden, wenn sich ein Gericht tatsächlich in einer Legitimationskrise befindet. Dann
wird es unter Umständen sehr viel stärker auf die Wirkung und gesellschaftliche
Akzeptanz seiner Urteile achten als dies seinem Auftrag, die Verfassung und ihre
Grundlagen zu schützen, gut tut.
Es wird im weiteren Verlauf der Untersuchung also auch zu diskutieren sein, ob
die „strategischen Orientierungen“ eines Verfassungsgerichts eher auf die Präferenzen anderer Akteure oder auf die eigenen Legitimationsgrundlagen bezogen sind.
Dieter Grimm beispielsweise (vgl. Grimm in Badinter/Breyer 2004: 29) plädiert
implizit für letzteres, wenn er die fehlende Orientierung der Gerichte an den Interessen und Präferenzen politischer Mitspieler mit der Eigenlogik der juristischen Sphäre erklärt. Aus systemtheoretischer Sicht arbeite das juristische Subsystem mit dem
ihm eigenen Rechtscode (legal/illegal), der inkompatibel sei mit dem Code des politischen Systems (durchsetzbar/nicht durchsetzbar). Der für Verfassungsgerichte
entscheidende Gesichtspunkt einer Entscheidung sei deshalb, so Grimm, ob ein vom
Parlament vorgelegtes Gesetz verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist.
Dass tatsächlich manches dafür spricht, (Verfassungs-)Gerichte und politische Akteure in ihren Strukturen und Handlungsorientierungen grundlegend voneinander zu
unterscheiden, zeigt die idealtypische Gegenüberstellung von Gerichten und Parlamenten in Abbildung 1.1, die Torbjörn Vallinder vorgenommen hat (Vallinder 1995).
Erstens unterscheiden sich nach Vallinder Gerichte und Parlamente hinsichtlich
der handelnden Akteure. Während vor einem Gericht in der Regel zwei Streitparteien vor einer unabhängigen dritten agieren, ist es Merkmal parlamentarischen Handelns, dass mehrere Akteure beteiligt sind, denen keine unabhängige Instanz vorsitzt. Zweitens unterscheiden sich die Arbeitsmethoden beider Foren grundlegend.
Geht es vor Gericht zunächst um offene Anhörungen und Gewichtung von Argumenten im Lichte anzuwendender Rechtssätze, handeln parlamentarische Akteure
vor allem mit dem Ziel, durch Bargaining und Kompromissfindung innerhalb wie
zwischen den Parteien zu einem mehrheitsfähigen Ergebnis zu gelangen, das zunächst nicht durch externe Bedingungen oder Vorgaben beeinflusst ist oder mit
solchen in Übereinstimmung gebracht werden muss. Die Entscheidungsfindung
selbst – drittens – ähnelt sich zwar insofern, als sowohl Gerichte als auch Parlamente
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mittels Mehrheitsverfahren Entscheidungen treffen. Die Grundlage dieser Entscheidungsfindung unterscheidet sich dennoch fundamental: Während Richter ihre Entscheidung an Rechtsnormen ausrichten und begründen müssen, ist Parlamentariern
keine Begründung für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten abverlangt. Sie müssen sich weder öffentlich für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten rechtfertigen
noch ihre Beweggründe darlegen. Dies kann zwar in Einzelfällen gegenüber der
eigenen Wählerschaft nützlich und sinnvoll erscheinen, institutionell vorgesehen ist
es aber nicht. Viertens unterscheidet sich der Output beider Organe grundlegend:
Während Gerichte einzelne Streitfälle zu entscheiden haben (die allerdings Ausstrahlungswirkung auf ähnlich gelagerte Fälle entfalten können), entscheiden Parlamente über allgemeine Regeln und Normen und setzen diese verbindlich fest. Zudem bestimmen sie inhaltlich konkrete Policies, die in einer Gesellschaft Wirkung
entfalten sollen, und sind in der Wahl dieser Inhalte prinzipiell frei (zumindest solange, wie sich diese Inhalte innerhalb der konkreten Verfassungsordnung bewegen). Verfassungsgerichte können von sich aus keine Policies bestimmen, allenfalls
in konkreten Streitfällen inhaltliche Vorgaben vornehmen (was aber gleichwohl
umstritten sein kann). Im Ergebnis schließlich – fünftens – gelangen Gerichte (idealiter) zur einzig richtigen Lösung in einem rechtlichen Streitfall, während Parlamente zu genau dem inhaltlichen Ergebnis gelangen, das unter den gerade herrschenden
Mehrheitsverhältnissen im Gesetzgebungsprozess möglich und durchsetzbar war,
prinzipiell aber auch anders hätte ausfallen können.10
Abbildung 1.1: Merkmale gerichtlichen und parlamentarischen Handelns
Gerichte Parlamente
Akteure Zwei Parteien und
unabhängiges Gericht
Mehrere Parteien
Arbeitsmethode Offene Anhörung, Gewichtung
von Argumenten
Bargaining, Kompromissfindung
Entscheidungsfindung Mehrheitsprinzip unabhängiger
Richter
Mehrheitsprinzip
Output Entscheidung einzelner
Rechtsfälle mit genereller Ausstrahlung auf ähnliche Fälle
Allgemeine Regeln
(Gesetze oder Verordnungen),
Policies
Ergebnis Idealiter: Die einzig richtige
Entscheidung durch korrekte
Auslegungsmethoden
Politisch durchsetzbare
Verhandlungslösung
Quelle: Vallinder 1995
10 Inwiefern dies allerdings auch für Verfassungsgerichte gilt, wird noch zu diskutieren sein. Die
Vorstellung, dass Gerichte zu einer einzig richtigen Auslegung des Rechts gelangen könnten,
ist zumindest umstritten.
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Man muss Vallinders Gegenüberstellung nicht in ihrer Gänze überzeugend finden.
Zumindest aber kann mit ihr festgehalten werden, dass sich Verfassungsgerichte und
politische Akteure offenbar so wesentlich in ihren Strukturen und Handlungsorientierungen unterscheiden, dass eine Gleichsetzung von verfassungsgerichtlichen und
politischen Vetoakteuren inadäquat erscheinen muss. Verfassungsgerichte können,
müssen aber nicht als Vetospieler in Erscheinung treten, und wenn sie es tun, agieren sie mit einer anderen Handlungsorientierung als politische Vetospieler.
Allerdings haben die Urteile der Gerichte unter Umständen erhebliche Auswirkungen auf politische Prozesse und Inhalte. Auch als „konditionale Vetospieler“ mit
eigener Handlungslogik beeinflussen sie die Politiken gewählter Regierungen und
parlamentarischer Mehrheiten und üben damit einen erheblichen Einfluss auf die
Verfassungswirklichkeit liberaler Demokratien aus. Damit drängen sich zwei Fragen
auf, die im Mittelpunkt der hier vorgelegten Untersuchung stehen werden: Erstens
muss analytisch die Frage gestellt werden, ob Verfassungsgerichte überhaupt als
„demokratische Akteure“ verstanden werden können oder ob sie ein Fremdkörper
demokratischen Regierens sind. Zweitens muss untersucht werden, wie sich das
Handeln von Verfassungsgerichten faktisch auf den demokratischen Regierungsprozess auswirkt und welche Auswirkungen verfassungsgerichtliches Agieren auf die
Qualität von Demokratien hat. Allgemein muss damit nach der demokratischen
Rolle von Verfassungsgerichten gefragt werden, spezifisch nach dem besonderen
Kooperationsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber.
Bevor die diese Untersuchung anleitenden Fragestellungen näher präzisiert werden, soll ein kurzer Blick auf die politikwissenschaftliche Debatte zu diesem diffizilen Verhältnis die Relevanz des hier diskutierten Problemkomplexes unterstreichen.
1.2 Stand der (sozialwissenschaftlichen) Diskussion
Die sozial- und politikwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Themenkomplex
Recht und Politik, konkreter mit der Rolle und dem Einfluss von Verfassungsgerichten auf Politikprozesse, hat in den letzten Jahren wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren, nachdem dieses Thema Jahrzehnte lang eine fast ausschließliche Domäne der Rechts- und Staatswissenschaften gewesen ist. Die lange Vernachlässigung dieser Thematik in den Sozialwissenschaften überrascht insofern, als gerade
die Analyse von Politikprozessen und Policyzyklen eine Beschäftigung mit dem
Einfluss von Gerichten auf diese nahe gelegt hätte (vgl. zu den „Versäumnissen“ der
politik- wie der rechtswissenschaftlichen Debatte van Ooyen/Möllers 2006b). Da
zudem wichtige, für demokratische Gesellschaften elementare Politiken nicht selten
von Gerichten (mit)entschieden worden sind – man denke nur an das Abtreibungsrecht, Fragen der Finanz- und Steuerpolitik oder die Ermöglichung oder Verhinderung von Politiken zur Minderheitenförderung (affirmative action) – verwundert es
umso mehr, dass gerade die (europäische) Politikwissenschaft, von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen (z. B. Beyme 1985, Landfried 1984; Stone 1992; Stone
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie – demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert – in demokratische Prozesse intervenieren.
Der vorliegende Band analysiert die spezifischen Funktionen, die Verfassungsgerichte für demokratische Regierungssysteme erbringen und argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur keine Gegenspieler demokratischer Politik sind, sondern dass sie für demokratisches Regieren schlichtweg konstitutiv sind. Anhand einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten 55 Jahre wird empirisch belegt, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agiert und damit wesentlich zur hohen Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.
Sascha Kneip ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratieforschung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).