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10 Zusammenfassung
Funktionsfähige Netze sind für eine moderne Volkswirtschaft essentiell. Netze ermöglichen den Transport von Personen, Gütern oder Informationen. Am augenfälligsten wird dies beim Transport von Personen und Waren auf der Straße, mit der
Eisenbahn, im Flugzeug oder mit dem Schiff. Neben diesen klassischen Verkehrsnetzen gibt es Versorgungsnetze, die dem kontinuierlichen Transport von spezifischen Verbrauchsgütern wie Wasser, Elektrizität, Gas oder Öl zu den Abnehmern
dienen. Auch für die Entsorgung gibt es spezifische Netze, z.B. für Abwasser. Die
Post, die Telekommunikation und das Kabelfernsehen sind Beispiele für die netzbasierte Übermittlung von Informationen
Über die ökonomischen Kosten der Netze war vor Beginn der Liberalisierung in
Europa relativ wenig bekannt. Die Netzindustrien wurden auf der Anbieterseite von
öffentlichen Unternehmen dominiert, deren Investitions- und Preispolitik sich in
starkem Maße an politischen Erwägungen bzw. gemeinwirtschaftlichen Zielen zu
orientieren hatte. Im Gegenzug wurden die Unternehmen durch gesetzliche Marktzutrittsschranken vor Wettbewerb geschützt und Kostenunterdeckungen aus den
öffentlichen Haushalten ausgeglichen. Unter diesen Rahmenbedingungen war eine
entscheidungsorientierte Kostenermittlung für die Unternehmen nur von untergeordneter Bedeutung.
Die Liberalisierung der Netzindustrien beinhaltet drei zentrale Bausteine: Erstens,
einen Paradigmenwechsel weg von einer umfassenden Regulierung des gesamten
Sektors hin zu einer umfassenden Marktöffnung mit einer disaggregierten Regulierung der monopolistischen Bottlenecks. Zweitens, einen Paradigmenwechsel weg
von einer intransparenten internen oder externen Subventionierung defizitärer Leistungen hin zum Bestellerprinzip. Drittens, einen Paradigmenwechsel weg von allzuständigen öffentlichen Unternehmen hin zur Verlagerung der Leistungserstellung
auf private Unternehmen.
Die drei Paradigmenwechsel folgen alle einem gemeinsamen Impetus, der auf die
Stärkung der Märkte, die Intensivierung des Wettbewerbs und die Schaffung zusätzlicher Freiräume für unternehmerisches Handeln abzielt. Bereits vor der Liberalisierung gab es vielerlei Markttransaktionen in Netzen, aber der Umfang und die Differenziertheit dieser Markttransaktionen haben durch die Liberalisierung signifikant
zugenommen. Ein Beispiel sind die von Grund auf neu geschaffenen Märkte für
Netzinfrastrukturkapazitäten, etwa für Eisenbahntrassen oder Stromdurchleitung.
Für die Allokation dieser knappen Güter wurden vor der Liberalisierung überwiegend administrative Zuteilungsregeln eingesetzt.
Schon vor der Liberalisierung gab es vereinzelte Ansätze zu einer Reform der
Kostenrechnungswerke von Netzunternehmen in Richtung einer stärkeren Entscheidungsorientierung. Was diesen Ansätzen aber fehlte, war die zwingende Notwendigkeit ihrer konsequenten (und nicht nur punktuellen) Umsetzung. Die zwingende
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Notwendigkeit zur Reform der Kostenrechnung ergab sich erst als Folge der tiefgreifenden Änderungen der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen im Zuge der
Liberalisierung.
In geöffneten Netzen tätige Unternehmen werden permanent mit Entscheidungsproblemen konfrontiert. Nicht nur potenzielle und tatsächliche Marktneulinge haben
nach der Marktöffnung völlig neue Freiheiten, sondern auch die alteingesessenen
Unternehmen haben mehr Flexibilität. Der Einsatz neuer Technologien, die Einführung neuer Produkte und Produktqualitäten sowie die Erprobung innovativer Preisstrukturen sind ein wesentliches Charakteristikum geöffneter Netze. Insbesondere
für Investitionsentscheidungen und die Preispolitik benötigen die Unternehmen fundierte Kosteninformationen.
Die Kosten von Netzen sind auch für die Wirtschaftspolitik von erheblichem Interesse. Vor allem bei der Regulierung monopolistischer Bottlenecks und der Bestellung defizitärer Leistungen benötigt der Staat Kosteninformationen. Zur Regulierung wurden im Zuge der Liberalisierung unabhängige Regulierungsbehörden eingerichtet; in Deutschland insbesondere die Bundesnetzagentur. Zu Beginn des
Liberalisierungsprozesses standen Fragen der Abgrenzung der regulierungsbedürftigen Netzbereiche und der Auswahl geeigneter Regulierungsinstrumente im Mittelpunkt des wirtschaftspolitischen Interesses. Inzwischen hat sich der Schwerpunkt
der Debatte auf Costing-Fragen verlagert, z.B. die Ermittlung der so genannten Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung als Maßstab für regulierte Preise. Neuerdings vermehrt diskutiert wird die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es
regulierungsbedingt zu einer Verzerrung der Investitionsanreize kommen kann.
Eine künstliche Trennung des Kostenermittlungsproblems in eine unternehmerische und eine wirtschaftspolitische Dimension würde jedoch in die Irre führen.
Stattdessen sollte der entgegengesetzte Weg eingeschlagen werden, denn aus ökonomischer Sicht handelt es sich um die zwei Seiten derselben Medaille. Wirtschaftspolitische Anforderungen an ökonomisch fundierte Kosteninformationen müssen
sich auch auf der unternehmerischen Ebene mit anerkannten ökonomischen Prinzipien einer entscheidungsorientierten Kostenermittlung darstellen lassen – und zwar
durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen, seien sie nun wettbewerblich,
reguliert oder subventioniert. Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, hierfür eine
systematische methodische Grundlage zu legen.
Aus der Zielsetzung der Arbeit folgt die Notwendigkeit, sich näher mit den ökonomischen Grundprinzipien der Ermittlung entscheidungsrelevanter Kosten in Netzen vertraut zu machen. Der Fokus auf die grundlegenden Prinzipien erfordert die
Ausblendung der spezifischen kostenseitigen Details der einzelnen Netzsektoren.
Stattdessen stehen diejenigen ökonomischen Konzepte im Mittelpunkt, die konsistent sowohl sektorübergreifend als auch innerhalb einer Netzindustrie für alle Netzbereiche durchgängig anwendbar sind.
Im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren sind Netzindustrien sehr kapitalintensiv, so dass die Kapitalkosten – im Vergleich zu den Prozesskosten – einen relativ großen Anteil an den Gesamtkosten ausmachen. Sehr kapitalintensiv sind insbesondere die Netzinfrastrukturen, die die grundlegende Basis für die Bereitstellung
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von Netzdiensten darstellen. Folgende Eigenschaften unterscheiden typische Netzinfrastrukturen von typischen Kapitalgütern in anderen Wirtschaftssektoren: große
Investitionsvolumina, technologisch bedingte Unteilbarkeiten, lange Planungs- und
Bauphase, lange wirtschaftliche Lebensdauer und weitgehende Irreversibilität.
Kapitalgüter mit diesen Eigenschaften gibt es auch in anderen Wirtschaftssektoren, z.B. der Immobilienwirtschaft oder beim Abbau natürlicher Ressourcen. Was
nun bei Netzen als zusätzlicher – und letztlich zentraler – Unterschied hinzukommt,
das ist die signifikante Komplementarität der in Netzen eingesetzten Kapitalgüter.
Die Komplementarität führt zum Problem der Kostenallokation, das in Netzindustrien besonders ausgeprägt ist. Verbundvorteile spielen in Netzen eine zentrale Rolle.
Horizontale Verbundvorteile bezeichnen Kostenvorteile bei gemeinsamer Bereitstellung von Leistungen auf derselben Wertschöpfungsstufe einer Netzindustrie (z.B.
mehrere Dienste). Vertikale Verbundvorteile bezeichnen dagegen Kostenvorteile bei
gemeinsamer Bereitstellung von Leistungen auf unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen einer Netzindustrie (z.B. Dienst und zugehörige Infrastruktur).
Folgende Gründe sprechen für ein vertikal disaggregiertes Vorgehen bei der Kostenermittlung in Netzindustrien: • Die Ursachen für die besondere Kapitalintensität von Netzen liegen auf der
Infrastrukturebene. • Die horizontalen Verbundvorteile auf den beiden Ebenen sind ausgeprägter als
die vertikalen Verbundvorteile zwischen Dienste- und Infrastrukturebene. • Regulierungsbedürftige monopolistische Bottlenecks gibt es nur auf der Infrastrukturebene. • Die vertraglichen Beziehungen zwischen Staat und Privaten sind bei defizitären
Infrastrukturen sehr viel langfristiger als bei defizitären Diensten.
Nachdem in den Kapiteln 2 und 3 die grundsätzliche Notwendigkeit und die konzeptionellen Grundlagen entscheidungsrelevanter Kosten in Netzindustrien dargestellt
wurden, steht in den nachfolgenden Kapiteln 4 bis 6 die entscheidungsorientierte
Ermittlung disaggregierter Kapitalkosten im Mittelpunkt. Es wird zwischen den
beiden Kapitalkostenkomponenten Wertverzehr (Abschreibung) und Verzinsung des
eingesetzten Kapitals unterschieden. Abschreibungen spiegeln die Opportunitätskosten auf den Inputmärkten für Realkapital (z.B. Maschinen) wider. Die Verzinsung
spiegelt dagegen die Opportunitätskosten auf den Inputmärkten für Finanzkapital
(z.B. Aktien) wider. Die aus ökonomischer Sicht optimal zu gestaltende physische
Dimensionierung des Kapitaleinsatzes (Mengengerüst) hängt von beiden Wertkomponenten ab.
Konventionelle Abschreibungsverfahren verteilen die Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten eines Kapitalguts nach einer festen Regel über die Perioden seiner
Lebensdauer, z.B. linear, degressiv gestaffelt oder als Annuität (zusammen mit der
Verzinsung). Diese Verfahren gehen davon aus, dass die Entscheidung für die Beschaffung des Kapitalguts bereits gefallen ist. Dies wiederum setzt voraus, dass die
erwarteten Anschaffungskosten und die erwartete wirtschaftliche Lebensdauer bereits geschätzt wurden. Damit ist die potenzielle Entscheidungsrelevanz dieser Art
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der Abschreibungsermittlung von vornherein stark eingeschränkt. Ein konventionelles Abschreibungsverfahren ist seinem Wesen nach vergleichbar mit einem Gemeinkostenschlüssel. Genauso wie jede andere Form der Gemeinkostenschlüsselung
sind auch konventionelle Abschreibungsverfahren vom Grundsatz her unvereinbar
mit entscheidungsrelevanter Kostenermittlung.
Der Zusammenhang zwischen Abschreibung, Kapitalbewertung und Verzinsung
wurde bereits im Jahr 1888 von Eugen von Böhm-Bawerk analytisch fundiert.
Grundlegend für die entscheidungsorientierte Ermittlung von Abschreibungsprofilen
und Kapitalwerten ist jedoch das Deprival value-Konzept, das darauf aufbauend
insbesondere von James Bonbright maßgeblich entwickelt wurde. Demnach ist der
Kapitalwert ein "Opportunitätswert", der dem Wert der nächstbesten Alternative entspricht. Ausgangspunkt der Bewertung ist die Frage, was ein Unternehmen tun würde, wenn das ihm gehörende Kapitalgut nicht vorhanden wäre. Der Ermittlung der
nächstbesten Alternative resultiert aus der Gegenüberstellung der Wiederbeschaffungskosten des Kapitalguts, seines Ertragswerts und seines Nettoverkaufswerts.
Das Deprival value-Konzept ist offen genug, um der Vielfalt der Bewertungskontexte in liberalisierten Netzindustrien gerecht zu werden. Angesichts des erheblichen
Wandels der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen im Zuge der Liberalisierung
wird deutlich, dass der Blick in die Vergangenheit nicht weiterhilft. Entsprechend
fragwürdig erscheint der Informationsgehalt historischer Anschaffungskosten und
mit Hilfe geschlossener Abschreibungspläne ermittelter Buchwerte. Das Deprival
value-Konzept dagegen ist inhärent zukunftsorientiert. Für jedes Kapitalgut bedeutet
jede Bewertung eine interdependente Aktualisierung aller damit zusammenhängenden Zukunftspläne. Genauso wie die ursprüngliche Investitionsentscheidung ist auch
jede Neubewertung ein komplexes Alternativenkalkül, in der es eine Vielzahl von
Opportunitätskosten zu berücksichtigen gilt.
Beim Deprival value-Konzept werden alle relevanten Marktdaten in das Kalkül
integriert. Die Verfügbarkeit wettbewerblicher Marktpreise ist jedoch keine zwingende Notwendigkeit für die Anwendbarkeit des Konzepts. Das Deprival value-
Konzept ist unabhängig von der Marktform anwendbar. Die entscheidende Frage ist,
ob ein Kapitalgut ersetzt wird oder nicht. Sowohl im Falle eines marktmächtigen
Monopolisten als auch im Falle eines im Wettbewerb stehenden Unternehmens führt
die Anwendung des Deprival value-Konzepts zu einer klaren konzeptionellen Trennung von Kosten und Gewinnen.
Einer Verselbständigung der Ermittlungsmethoden für Abschreibung, Kapitalbasis und Verzinsung wird bei konsequenter Anwendung des Deprival value-Konzepts
vorgebeugt. In welcher Weise unternehmerischen Risiken im Investitionskalkül
Rechnung getragen wird, ist ein zentraler Bestandteil der Bewertung. Der Bewertende muss z.B. entscheiden, ob ein stationärer oder ein dynamischer Entscheidungskontext vorliegt. Obwohl nun aber diese Entscheidung erhebliche Auswirkungen auf
die ermittelten Kapitalwerte haben kann, hat sie keinerlei Konsequenzen für die
Wahl des Bewertungskonzepts, denn das Deprival value-Konzept ist sowohl in stationären als auch in dynamischen Entscheidungskontexten anwendbar.
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Die Zinskosten spiegeln die Renditeerwartungen der Investoren auf den Finanzkapitalmärkten wider. Grundlegend für die entscheidungsorientierte Ermittlung der
Zinskosten eines Unternehmens ist das Cost of capital-Konzept. Der durchschnittliche Kapitalkostensatz (Weighted Average Cost of Capital – WACC) ergibt sich aus
den jeweiligen Renditeforderungen der Eigenkapital- und Fremdkapitalgeber, gewichtet mit dem Anteil von Eigen- und Fremdkapital am Gesamtkapital. Problematisch an der Ermittlung der Kapitalkosten ist insbesondere die Ermittlung der Eigenkapitalkosten. Hier gilt das Capital Asset Pricing Model (CAPM) mit seiner Unterscheidung zwischen systematischen und unsystematischen Risiken als Best Practice.
Parallel bzw. teilweise überlappend mit der sprunghaften Entwicklung der Finanzmarkttheorie hat sich seit den 1970er Jahren die Regulatory Finance sukzessive
zu einem immer wichtiger werdenden Teilgebiet der Regulierungsökonomie entwickelt. Im Mittelpunkt stehen Anwendungen und Implikationen der modernen Finance-Konzepte im Kontext der Regulierung marktmächtiger Unternehmen. Vergleicht
man die Literatur zur Corporate Finance (Fokus auf unregulierte Unternehmen) und
die Literatur zur Regulatory Finance (Fokus auf regulierte Unternehmen) in Bezug
auf die angewandten Methoden zur Ermittlung der Eigenkapitalkosten, so ist mittlerweile zwischen beiden Gebieten kein signifikanter Unterschied mehr zu erkennen.
In der internationalen Regulierungspraxis gilt das CAPM mittlerweile als Best
Practice. Die relativ einfache, transparente und für Dritte nachvollziehbare Anwendbarkeit des CAPM sowohl in unregulierten als auch in regulierten Kontexten ist ein
besonderer Vorteil des CAPM in liberalisierten Netzindustrien. Trotz der Stärken
einer konsequenten Kapitalmarktorientierung gilt es auch, sich ihrer Schwächen
bewusst zu sein. Kapitalmarktorientierte Zinskosten können zwangsläufig nur die
Risiken widerspiegeln, die auf Kapitalmärkten gehandelt werden. Darauf hat schon
Frank Knight hingewiesen, und die anhaltende Diskussion um das CAPM zeigt die
Aktualität dieser Aussage.
WACC und CAPM liefern die analytische Basis, um entscheidungsrelevante
Zinskosten konsistent sowohl in wettbewerblichen als auch in regulierten Netzbereichen zu ermitteln. Diese Konsistenz ist vor allem dann wichtig, wenn regulierte
Unternehmen sowohl in regulierten als auch in unregulierten Märkten aktiv sind. Bei
Fragestellungen dieser Art stehen Zinskostendifferentiale zwischen unterschiedlichen Produktmärkten im Mittelpunkt. Zur Bestimmung dieser Differentiale ist es
vor allem wichtig, einen Eichpunkt als relativen Anker zu haben, der weithin bekannt und akzeptiert ist. Das CAPM liefert einen solchen Eichpunkt.
Auffallend ist jedoch, dass wenn Regulierungsbehörden geschäftsbereichsbezogene Zinskosten ermitteln, dies regelmäßig zu dem Ergebnis führt, dass die für die
regulierten Geschäftsbereiche ermittelten Zinskosten niedriger sind als die für die
unregulierten Geschäftsbereiche. Insoweit diese Zinskostendifferentiale auf unterschiedliche Risikocharakteristika der Geschäftsbereiche zurückgeführt werden können, ist gegen diese Praxis nichts einzuwenden. Sie sollte jedoch nicht als Indiz
aufgefasst – oder gar damit begründet – werden, dass die Existenz von Marktmacht
oder der Einsatz bestimmter Regulierungsinstrumente per se niedrigere Zinskosten
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zur Folge habe. Solch generelle Wirkungshypothesen sind weder theoretisch noch
empirisch hinreichend fundiert begründbar.
Es gilt zu unterscheiden zwischen dem Wert- und dem Mengengerüst der Kapitalkosten. Abschreibungsprofile und Zinskostensätze (Wertgerüst) determinieren
maßgeblich die Investitionspolitik und damit die Zusammensetzung der in einem
Unternehmen eingesetzten Kapitalgüter (Mengengerüst). Grundlage für die entscheidungsorientierte Ermittlung des Mengengerüsts ist die langfristige Strategie des
Netzbetreibers. Diese Strategie ist der Ausgangspunkt für Entscheidungen sowohl
über die Veränderung des Umfangs der eingesetzten Kapitalgüter (Investition und
Desinvestition) als auch die Disaggregation des bereits vorhandenen Kapitalstocks
als Voraussetzung für ein entscheidungsorientiertes Asset Management. Dabei ist
bei neuen und bereits bestehenden Netzteilen nach einheitlichen Prinzipien vorzugehen – eine Grundregel, die insbesondere in der verkehrspolitischen Praxis auch heute noch häufig verletzt wird.
Angesichts gegenläufiger Tendenzen in der jüngeren Regulierungspraxis ist zu
betonen, dass es sich bei der Gestaltung des Mengengerüsts um eine unternehmerische Aufgabe handelt. Dieser originär unternehmerische Charakter sollte auch dann
erhalten bleiben, wenn ein Netzbetreiber Marktmacht hat und reguliert wird. Die
Regulierungsbehörden haben in jüngster Zeit erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Angaben der Unternehmen über die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung nicht nur zu überprüfen sondern auch eigenständig zu ermitteln (regulatorisches Benchmarking, analytische Kostenmodelle). Dies ist ein Schritt in die
falsche Richtung.
Während regulatorische Schattenrechnungen intensiv diskutiert werden, führt das
Instrument der Accounting Separation eher ein Schattendasein. Angesichts der gro-
ßen Bedeutung diskriminierungsfreier Zugangstarife für den Wettbewerb auf den
nachgelagerten Netzebenen ist diese vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit verwunderlich. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, man könne durch eine möglichst
perfekte Ermittlung der Kosten der effizienten Leistungserstellung das Diskriminierungsproblem lösen. Aus diesem Grund ist den Potenzialen von Accounting Separation wieder größere Beachtung zu schenken. Unter Umständen erübrigen sich dann
weitreichendere strukturelle Eingriffe in die Handlungsfreiheit der regulierten Unternehmen (bis hin zur eigentumsrechtlichen Separierung), wie sie derzeit im Kontext der Entbündelung vermehrt diskutiert werden.
Obwohl es im Zuge der Liberalisierung zu zahlreichen Privatisierungen kam, ist
der Anteil öffentlicher Unternehmen in einzelnen Netzindustrien nach wie vor signifikant (Kapitel 7). In diesen Netzindustrien agiert der Staat in bis zu drei Rollen
gleichzeitig: a) Er agiert in der Rolle des Unternehmers, wenn er über entsprechende
Eigentumsrechte einen beherrschenden Einfluss auf ein oder mehrere Unternehmen
dieser Branche ausüben kann; b) er agiert in der Rolle des Bestellers, wenn er politisch erwünschte Leistungen gegen Entgelt beschafft; c) er agiert in der Rolle des
Regulierers, wenn er Unternehmen mit Marktmacht reguliert. Aus analytischer Sicht
sind diese drei Rollen klar auseinanderzuhalten.
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Die Konzepte entscheidungsorientierter Kostenermittlung sind bei öffentlichen
Unternehmen genauso anwendbar wie bei privaten Unternehmen. Auch und gerade
die Kapitalkostenermittlung kann in öffentlichen und privaten Unternehmen nach
einheitlichen Prinzipien erfolgen. Sowohl das Deprival value-Konzept als auch das
Cost of capital-Konzept sind im Kontext öffentlicher Unternehmen anwendbar.
Politische Einflussnahmen des staatlichen Eigners auf die langfristige Investitionsstrategie (Mengengerüst) erhöhen allerdings nicht nur die Gefahr von Fehlinvestitionen, sondern erschweren auch die Bewertung der bereits vorhandenen Kapitalgüter.
Falls Größenvorteile vorliegen, gibt es einen Trade-off zwischen dem Ziel einer
effizienten Allokation auf der Marktebene und der Notwendigkeit zur Kostendeckung auf der Unternehmensebene. Kostenbasierte und wertbasierte Formen der
Preisbildung sind nicht als Substitute sondern als Komplemente zu verstehen. Der
klassische Marktmechanismus zur Kombination dieser beiden Formen der Preisbildung ist die Preisdifferenzierung. Preisdifferenzierung und Kostenorientierung sind
auch bei öffentlichen Unternehmen kein Widerspruch. In liberalisierten Netzindustrien können öffentliche Unternehmen auf Dauer nur bestehen, wenn sie über differenzierte Preise ihre gesamten entscheidungsrelevanten Kosten, einschließlich der
Kapitalkosten, decken können.
Insbesondere in den Verkehrssektoren gibt es monopolistische Bottlenecks, die
gleichzeitig reguliert und subventioniert werden (Kapitel 8). Ein aktuelles und illustratives Beispiel ist der Eisenbahnsektor in Deutschland. Seit dem Jahr 2006 gibt es
eine explizite Zugangs- und Entgeltregulierung der Eisenbahninfrastruktur durch die
Bundesnetzagentur. Gleichzeitig werden die Investitionen in die Eisenbahninfrastruktur zu einem großen Teil durch Zuschüsse aus den öffentlichen Haushalten
finanziert. Mit Hilfe des Konzepts der defizitären monopolistischen Bottlenecks
kann gezeigt werden, dass Regulierung von Marktmacht auch in diesem Fall normativ gerechtfertigt ist. Allerdings beschränkt sich der Regulierungsbedarf auf die
Sicherstellung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs. Eine Preisregulierung ist
nicht erforderlich. Zur Abgrenzung der profitablen von den defizitären monopolistischen Bottlenecks ist eine horizontale Accounting Separation erforderlich.
Falls dem Besteller die Möglichkeit zur wettbewerblichen Ermittlung des Subventionsbedarfs nicht zur Verfügung steht, bleibt ihm nur der Weg über die rechnerische Ermittlung. Die rechnerische Ermittlung des Subventionsbedarfs bei defizitären monopolistischen Bottlenecks und die Kostenermittlung bei profitablen monopolistischen Bottlenecks sind isomorphe ökonomische Problemstellungen. Es stellt
sich deshalb die Frage, ob der Besteller bei der Lösung dieses Problems nicht auf die
Dienste einer Regulierungsbehörde zurückgreifen sollte.
Ein aktuelles Beispiel sind die Zuständigkeiten und Aufgaben der Bundesnetzagentur. Im Bereich von Post und Telekommunikation ist die Bundesnetzagentur
bisher schon sowohl für die Marktmachtregulierung als auch die Ausübung der
Bestellerfunktion zuständig. Im Eisenbahnsektor obliegt ihr nur die Marktmachtregulierung. Da der Subventionsbedarf auf der Ebene der Eisenbahninfrastruktur derzeit nicht im Rahmen wettbewerblicher Verfahren ermittelt wird, ist zu überlegen,
ob die Bundesnetzagentur in diese Aufgabe eingebunden wird.
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Bei defizitären monopolistischen Bottlenecks wird auch dann, wenn keine Subventionierung vorliegt, eine Regulierungsbehörde benötigt, um den diskriminierungsfreien Zugang zu gewährleisten. Darüber hinaus muss durch diese Behörde das
Preisniveau in den profitablen Bottleneck-Bereichen reguliert werden. Allein schon
die Abgrenzung zwischen profitablen und defizitären monopolistischen Bottlenecks
im Rahmen der horizontalen Accounting Separation erfordert auf Seiten der Regulierungsbehörde auch entsprechende Kosteninformation über die defizitären Bereiche.
Genauso wie im Regulierungskontext spielt auch im Subventionierungskontext
die unternehmerische Kostenermittlung eine zentrale Rolle bei der Fundierung wirtschaftspolitischer Entscheidungen. Bei der Prüfung und Auswertung der vom Unternehmen vorgelegten Kosteninformationen könnten politische Besteller auf die Expertise und das angesammelte Know-how der Regulierungsbehörde zurückgreifen.
Dadurch kann auch leichter sichergestellt werden, dass Kostenermittlungen mit dem
Zweck der Regulierung monopolistischer Bottlenecks und Kostenermittlungen mit
dem Zweck der Subventionierung monopolistischer Bottlenecks ökonomisch fundiert und konsistent nach einheitlichen Prinzipien durchgeführt werden.
Das Problem des Regulierungsrisikos steht im Zentrum der Diskussionen über
möglicherweise fehlende Investitionsanreize in liberalisierten Netzindustrien (Kapitel 9). In letzter Zeit wird vermehrt nach Kompensationsmöglichkeiten für die regulierten Unternehmen gesucht, z.B. das temporäre Aussetzen von Regulierung (Access holidays). Um die ökonomische Rechtfertigung einer Kompensation von Regulierungsrisiken analysieren zu können, ist es erforderlich, auf das Verhalten der
Regulierungsbehörden im Regulierungsprozess näher einzugehen.
Regulierungsinstrumente werden von Regulierungsbehörden implementiert. Im
Mittelpunkt der Implementierung steht die Festlegung von Regulierungsparametern.
Bei der Rate of return-Regulierung ist der zentrale Regulierungsparameter die zugelassene Kapitalverzinsung, bei der Price cap-Regulierung ist es die Produktivitätsfortschrittsrate (X-Faktor). Angesichts der Komplexität der Kostenermittlung in
Netzen ist nicht auszuschließen, dass der Regulierungsbehörde dabei Mess- oder
Prognosefehler unterlaufen. Derartige Fehler führen dazu, dass die Werte zukünftiger Regulierungsparameter aus der ex ante-Sicht der betroffenen Firmen unsichere
bzw. stochastische Größen sind. Verbesserte Methoden der Regulatory Finance
können einen wichtigen Beitrag leisten, um Mess- und Prognosefehler oder regulierungsbedingte Asymmetrien bei der Kostenermittlung adäquat zu berücksichtigen
und zu kompensieren.
Das eigentliche Kernproblem des Regulierungsrisikos besteht in der Möglichkeit
diskretionären Reguliererverhaltens auf Grund des Einflusses von Interessengruppen. Dieses Kernproblem kann durch verbesserte Kostenermittlung allein nicht gelöst werden. Es muss auch glaubwürdig sein, dass die Regulierungsbehörde die
Deckung der ermittelten Kosten durch entsprechende Erlöse zulassen wird. Der
Rahmen der normativen Theorie der Regulierung erweist sich als zu eng, um das
Problem des regulatorischen Opportunismus erklären und lösen zu können. Dazu ist
eine Verknüpfung der Konzepte zur entscheidungsorientierten Kostenermittlung mit
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der positiven Theorie der Regulierung erforderlich. Dadurch wird deutlich, dass
entscheidungsorientiertes Costing in liberalisierten Netzindustrien auch eine nicht zu
unterschätzende ordnungspolitische Dimension hat.
Die Regulierungsbehörde ist zur Lösung des Opportunismusproblems auf den
Gesetzgeber angewiesen. Der Gesetzgeber muss den diskretionären Handlungsspielraum der Regulierungsbehörde klar definieren und begrenzen, um die Glaubwürdigkeit und die Selbstbindungsfähigkeit der Behörde bei der Regulierungsumsetzung zu
stärken. Die Beachtung der Kostendeckungsbeschränkung ist ein ganz zentrales
Element des disaggregierten Regulierungsmandats. Die wirtschaftspolitische Relevanz entscheidungsrelevanter Kosten im Regulierungskontext lässt sich somit nicht
nur auf die normative sondern auch auf die positive Theorie der Regulierung gründen. Die Verknüpfung von entscheidungsorientierter Kostenermittlung und positiver
Theorie der Regulierung ist ein vielversprechender Forschungsansatz.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.