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7 Entscheidungsrelevante Kosten öffentlicher Unternehmen
7.1 Der Staat in der Unternehmerrolle
In Kapitel 2 wurde die Privatisierung öffentlicher Unternehmen als einer der drei
ordnungspolitischen Bausteine der Liberalisierung der Netzindustrien charakterisiert. Die beiden anderen Bausteine sind die Einführung des Bestellerprinzips für
defizitäre Leistungen und die Beschränkung der Marktmachtregulierung auf monopolistische Bottlenecks. Obwohl es im Zuge der Liberalisierung zu zahlreichen Privatisierungen kam, ist der Anteil öffentlicher Unternehmen in einzelnen Netzindustrien nach wie vor signifikant.217 In diesen Netzindustrien agiert der Staat in bis zu
drei Rollen gleichzeitig: a) Er agiert in der Rolle des Unternehmers, wenn er über
entsprechende Eigentumsrechte einen beherrschenden Einfluss auf ein oder mehrere
Unternehmen dieser Branche ausüben kann; b) er agiert in der Rolle des Bestellers,
wenn er politisch erwünschte Leistungen gegen Entgelt beschafft; c) er agiert in der
Rolle des Regulierers, wenn er Unternehmen mit Marktmacht reguliert. Aus analytischer Sicht sind diese drei Rollen klar auseinanderzuhalten (vgl. Abschnitt 2.3).
Ebenfalls klar auseinanderzuhalten sind formelle ("Schein"-)Privatisierungen und
materielle ("echte") Privatisierungen. Während die frühere Deutsche Bundesbahn im
Zuge der Bahnreform 1994 nur formell privatisiert wurde (Umwandlung in eine
Aktiengesellschaft mit dem Bund als alleinigem Aktionär), ist die Deutsche Telekom AG mittlerweile auch materiell privatisiert, d.h. die Mehrheit der Aktien liegt
bei privaten Kapitalgebern (vgl. Knieps 2006b: S. 203). Die Grenzen zwischen formellen und materiellen Privatisierungen sind häufig fließend. Gerade auf der Ebene
der kommunalen Gebietskörperschaften (Städte, Gemeinden, Landkreise) war in den
letzten Jahren eine Fülle so genannter Ausgliederungen und Teilprivatisierungen
(z.B. im ÖPNV und im Wasser-/Abwasserbereich) zu beobachten, ohne dass dies zu
einem signifikanten materiellen Rückzug der Kommunen aus der Unternehmerrolle
geführt hat (vgl. Killian/Richter/Trapp, Hrsg., 2006).
Die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage der Abgrenzung zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen einerseits sowie zwischen öffentlichen Unter-
217 So hat die OECD durch Umfrage bei ihren Mitgliedstaaten ermittelt, dass Energie, Post,
Telekommunikation und Verkehr, d.h. typische Netzindustrien, zu den Wirtschaftssektoren
zählen, in denen öffentliche Unternehmen – komparativ gesehen – immer noch die größte
Rolle spielen (vgl. OECD 2005: S. 34 f.). In Deutschland ist z.B. der Staat nach wie vor der
wichtigste Eigentümer und Betreiber von Verkehrsinfrastrukturen (vgl. Storr 2001: S. 138-
152 und Wissenschaftlicher Beirat für Verkehr beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen 2005).
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nehmen und öffentlicher Verwaltung andererseits soll hier nicht vertieft werden.218
Für die Zwecke des vorliegenden Kapitels ist es ausreichend, von folgendem Begriffsverständnis auszugehen:
"Als öffentliche Unternehmen werden daher im weiteren jene sich im Mehrheitseigentum der
öffentlichen Hand befindenden Organisationen bezeichnet, die Leistungen gegen (ein nicht
zwangsläufig kostendeckendes) Entgelt veräußern und die – sowohl in organisatorischer Hinsicht als auch im Hinblick auf ein spezifisches, vom übrigen Verwaltungshandeln isolierbares
Leistungsprogramm – über eine gewisse Autonomie vom politisch-administrativen System
verfügen" (Theuvsen 2001: S. 26).219
In Netzindustrien stellen öffentliche Unternehmen typischerweise Güter bereit, für
die ein Entgelt von den Nutzern erhoben werden kann. Ob die Entgelte tatsächlich
kostendeckend sind (oder theoretisch sein könnten), sei dahingestellt. Es handelt
sich jedenfalls nicht um reine öffentliche Güter im ökonomischen Sinne, die
zugleich durch Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität in der Nutzung gekennzeichnet sind.220 Die öffentliche Bereitstellung ist nicht zwingend erforderlich. Die
von öffentlichen Unternehmen in Netzindustrien bereitgestellten Güter können auch
von privaten Unternehmen gegen ein entsprechendes Entgelt bereitgestellt werden
(vgl. Neumärker 2003: S. 6-12).
In den vorangegangenen Kapiteln 3 bis 6 wurden die grundlegenden Konzepte einer entscheidungsorientierten Kostenermittlung in Netzindustrien herausgearbeitet.
Dabei lag der Schwerpunkt auf den Kapitalkosten, weil diese in Netzindustrien von
besonderer Bedeutung sind. Im vorliegenden Kapitel 7 werden diese Konzepte auf
öffentliche Unternehmen angewendet. Dabei wird die Frage nach der normativen
Rechtfertigung des Status quo (vgl. Vanberg 2004: S. 162-164), d.h. in diesem Fall
der Existenz öffentlicher Unternehmen, ausgeblendet.221 Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, wie im Status quo entscheidungsrelevante Kosteninformationen
bezüglich der in den öffentlichen Unternehmen bereitgestellten Netzleistungen generiert werden können. Solche Kosteninformationen sind nicht nur für die jeweiligen
Unternehmensführungen von Interesse, sondern auch für den Staat in seinen drei
Rollen als Eigner, Besteller und Regulierer. Es soll zunächst verdeutlicht werden,
dass die Konzepte zur entscheidungsorientierten Ermittlung der Kapitalkosten auf
öffentliche genauso wie auf private Unternehmen anwendbar sind (Abschnitt 7.2),
218 Zur Abgrenzung aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht vgl. Theuvsen (2001: S. 22-27) und
Brede (2005: S. 25-28); zur Abgrenzung aus rechtswissenschaftlicher Sicht vgl. Storr (2001:
S. 35-52) und Fabry (2002: S. 2-5).
219 "A public enterprise may be understood to be an organisation in which the majority ownership and/or control is non-private, and which is intended to be viable through sales activity on
the basis of price-cost relationships" (Ramanadham 1991: S. 5).
220 Wegeinfrastrukturen wurden lange Zeit als reine öffentliche Güter charakterisiert. Auch wenn
es immer noch gewisse Infrastrukturbereiche geben mag, die durch Nicht-Rivalität in der
Nutzung gekennzeichnet sind (z.B. Eisenbahnnebenstrecken), so ist mittlerweile die generelle
Annahme eines öffentlichen Guts angesichts der zunehmenden Stauproblematik in vielen Infrastrukturbereichen nicht mehr plausibel (vgl. Knieps 1990: S. 195-198).
221 Zu den normativen Argumenten für Privatisierungen vgl. Abschnitt 2.3.3.
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um davon ausgehend die Konsequenzen für die Preise öffentlicher Unternehmen
aufzeigen zu können (Abschnitt 7.3).
7.2 Kapitalkostenermittlung in öffentlichen und privaten Unternehmen nach einheitlichen Prinzipien
7.2.1 Abschreibung und Kapitalbewertung
Grundlegend für die entscheidungsorientierte Ermittlung von Abschreibungsprofilen
und Kapitalwerten ist das in Kapitel 4 ausführlich vorgestellte Deprival value-
Konzept. Demnach ist der Kapitalwert ein "Opportunitätswert", der dem Wert der
nächstbesten Alternative entspricht. Ausgangspunkt der Bewertung ist die Frage,
was ein Unternehmen tun würde, wenn das ihm gehörende Kapitalgut nicht vorhanden wäre. Die Ermittlung der nächstbesten Alternative resultiert aus der Gegenüberstellung der Wiederbeschaffungskosten des Kapitalguts (Replacement cost, RC),
seines Ertragswerts (Present value, PV) und seines Nettoverkaufswerts (Net realisable value, NRV). Der Deprival value (DV) bestimmt sich dann wie folgt:
DV = min[RC, max(PV, NRV)]
Der Deprival value kann im Prinzip prospektiv für jeden beliebigen Zeitpunkt während der physischen Lebensdauer eines Kapitalguts ermittelt werden. Aus den Differenzen zwischen den Werten zu Beginn und Ende der einzelnen Perioden der Lebensdauer ergibt sich das ökonomische Abschreibungsprofil (vgl. Abschnitt 4.2). In
Kapitel 4 wurde implizit davon ausgegangen, dass es sich bei dem bewertenden
Unternehmen, das das Deprival value-Konzept anwendet, um ein privates Unternehmen handelt, das das Ziel der Gewinnmaximierung verfolgt und nur Leistungen
anbieten kann, deren Entgelte mindestens ihre Kosten decken. Es stellt sich die Frage, ob – und ggf. welche – Modifikationen bei Anwendung des Konzepts auf öffentliche Unternehmen notwendig sind (vgl. Steering Committee 1994 und Walker/
Clarke/Dean 2000).
Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich zwei der drei Deprival value-
Komponenten unmittelbar an Marktpreisen auf den Inputmärkten für Realkapital
orientieren. Sowohl die Wiederbeschaffungskosten (RC) als auch der Nettoverkaufswert (NRV) werden durch die Entwicklungen auf den Investitionsgütermärkten
determiniert. Dass für öffentliche Unternehmen systematisch höhere oder niedrigere
RC und NRV relevant sind, ist nicht plausibel.222 So konzentriert sich die Frage nach
möglichen Unterschieden zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen bei der
Anwendung des Deprival value- Konzepts auf die Komponente Ertragswert (PV).
Um die Diskussion dieses Punkts zu vereinfachen, soll im Folgenden zwischen dem
222 Es kann hier offengelassen werden, ob öffentliche Unternehmen im Einzelfall niedrigere oder
höhere Preise für Kapitalgüter bezahlen (oder beim Wiederverkauf erhalten) als private Unternehmen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.