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zweite Kapitalgut der Ertragswert, d.h. DV(2) = PV(2), oder der Nettoverkaufswert,
d.h. DV(2) = NRV(2), maßgeblich ist. Letzteres wäre ein Signal für den Verkauf des
Kapitalguts. Es würde damit aus der Menge N der im Unternehmen eingesetzten
Kapitalgüter – und damit auch aus der ursprünglich als relevant eingestuften Teilmenge S – herausfallen.166 Die Wahl zwischen Einzel- und Gruppenbewertung kann
also Rückwirkungen auf die Zusammensetzung des relevanten Mengengerüsts haben.
Eine a priori-Festlegung auf Einzel- oder Gruppenbewertung ist nicht sinnvoll
(vgl. Edwards/Kay/Mayer 1987. S. 55-63 und Engels 1969: S. 16 f.). Die Einzelbewertung hat den Vorteil, dass sie eine differenzierte Kostenermittlung ermöglicht.
Dem steht als Nachteil gegenüber, dass Verbundeffekte nicht hinreichend erfasst
werden können; dazu ist die Gruppenbewertung besser geeignet.167 Als Fazit dieses
Abschnitts ist festzuhalten, dass es bei der Anwendung des Deprival value-Konzepts
auf die entscheidungsorientierte Partitionierung des Mengengerüsts ankommt. Eine
isolierte Bewertung der einzelnen Elemente bzw. Komponenten des Mengengerüsts
( Ni? ) greift für sich genommen zu kurz. Stattdessen sind auch Gruppen bzw.
Kombinationen von Kapitalgütern ( NS ? ) zu berücksichtigen. Weil im Netzkontext Verbundeffekte besonders wichtig sind, ist hier auch die Notwendigkeit zur
Berücksichtigung solcher Kombinationen von Netzkomponenten besonders groß.
6.2 Das Mengengerüst im Netzkontext
6.2.1 Strategische Entwicklung des Mengengerüsts aus der Perspektive des Netzbetreibers
Die minimalen Kosten der Bereitstellung von Netzinfrastrukturkapazitäten und
Netzdienstleistungen sind keine objektiv bestimmbaren Größen. Ihre Ermittlung ist
eine unternehmerische Aufgabe. Dies beinhaltet die Bestimmung eines optimalen
brik. Wenn ein einzelnes Fließband durch ein Feuer zerstört würde, würde es wahrscheinlich
durch ein weitgehend baugleiches Fließband ersetzt. Wenn dagegen die ganze Autofabrik
zerstört würde, würde man die Fabrik wahrscheinlich anders konfigurieren und möglicherweise sogar – wegen Innovationen in der Arbeitsorganisation – auf herkömmliche Fließbänder verzichten.
166 Aus den externen Bilanzen würde das Kapitalgut auch dann herausfallen, wenn es nicht
verkauft würde: "Anlagen, die in Zukunft nicht mehr benötigt werden, gehören nicht zum betriebsnotwendigen Vermögen. Wenn sich zeigt, daß Anlagen in Zukunft nachhaltig keine die
Buchwerte deckenden Erlöse erbringen werden, sind sie handelsrechtlich (außerordentliche
Abschreibung) wie steuerlich (Teilwertabschreibung) abzuschreiben" (Albach/Knieps 1997:
S. 92).
167 Schon R. Coase hat gezeigt, dass es bei einer entscheidungsorientierten Kostenermittlung
sowohl auf die Marginal- als auch die Totalbedingungen ankommt: "We may, however, lay
down as a general rule that it will pay to expand production so long as marginal revenue is
expected to be greater than marginal cost and the avoidable costs of the total output less than
the total receipts" (Coase 1952: S. 110 f.).
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Mengengerüsts der Kapitalkosten aus der entscheidungsorientierten Perspektive des
jeweiligen Netzbetreibers (vgl. Knieps 2003c: S. 15 f.).168 Im Mittelpunkt steht nicht
die Optimierung des Kapitalgüterbestands zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern
die optimale Entwicklung des Mengengerüsts im Zeitablauf.169 Die explizite Berücksichtigung der strategischen Entwicklung des Mengengerüsts ist der Schlüssel
zur investitionstheoretischen Fundierung der Kostenrechnung (vgl. Küpper 1985).170
Dazu ist die Einbettung der Investitionsplanung in ein systematisches Asset Management erforderlich, das wiederum an die Kostenrechnung angebunden ist (vgl. Peterson 2002: Kap. 5 u. 6).
Selbst wenn alle Unternehmen identisch wären, könnte es keinen objektiven Kostenmaßstab geben, aber es wäre unerheblich, bei welchem Unternehmen die Kosten
ermittelt werden, denn jede Ermittlung würde – unabhängig vom Unternehmen –
zum selben Ergebnis führen. Aber die Homogenitätsannahme ist gerade im Netzkontext besonders unrealistisch. Aus der Perspektive der strategischen Managementforschung sind zwei Faktoren besonders wichtig, um die Heterogenität von Unternehmen zu beschreiben und zu erklären: a) der Ressourcenbestand, der dem Unternehmen zur Verfügung steht; b) die Strategie, die das Management auf Basis dieses
Ressourcenbestands verfolgt (vgl. Besanko et al. 2007: Kap. 11 u. 12 sowie Cashian
2007: Kap. 7 u. 12).
Die wichtigste Ressource eines Netzbetreibers ist das von ihm aufgebaute Netz.
Zentrale Charakteristika eines Netzes sind die räumliche Ausdehnung, die Topologie
und die Nutzungsmöglichkeiten.171 Das gilt sowohl für Netzbetreiber auf der Ebene
der Netzinfrastrukturen als auch für Netzbetreiber auf der Ebene der Netzdienstleistungen.172 Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Ebenen besteht in der ausgeprägten Pfadabhängigkeit der Netzentwicklung auf der Infrastrukturebene (vgl.
Abschnitt 3.3.1).
Das zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtbare Netz und der damit einhergehende Kapitalgüterbestand verkörpern die Resultate vergangener Entscheidungen.
168 Auch die so genannten Minimalkostenkombinationen der Produktions- und Kostentheorie
(vgl. Fandel 2005: S. 233-250) sind nicht minimal im absoluten Sinne, sondern minimal relativ zum jeweiligen unternehmerischen Kontext.
169 "From a policy point of view the problem is not to bring the existing structure close to the
best practice structure at some point in time, but to optimize a process that is going on continuously" (Førsund/Hjalmarsson 1974: S. 141).
170 Die Hervorhebung des Mengengerüsts der Kapitalkosten macht deutlich, dass nicht nur eine
Verknüpfung der Kostenermittlung mit der Investitions- und der Kapitalmarkttheorie nötig
ist, sondern darüber hinaus auch eine Anbindung an die Produktionstheorie und die Theorie
der Unternehmung (vgl. Küpper 2007: S. 6-11). Zum Zusammenhang zwischen strategischer
Planung und Unternehmensbewertung vgl. Ballwieser (1990) und Kuhner/Maltry (2006: Kap.
4).
171 Die wichtigsten netztopologischen Grundformen sind der Stern, der Baum, der Ring, der Bus
und das vermaschte Netz (vgl. Bobzin 2006: S. 230). Im Hinblick auf die Verwendungsmöglichkeiten lassen sich spezialisierte und Mehrzweck-Infrastrukturen unterscheiden (vgl.
Knieps 2007: S. 33).
172 Meffert (2002: Sp. 1287) unterscheidet sinngemäß "Netzbetreiber mit physischem Netz" und
"Netzbetreiber mit virtuellem Netz".
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Die vom Management verfolgte Strategie dagegen verkörpert den selbst gesteckten
Rahmen zukünftiger Entscheidungen.173 Aufgrund der Pfadabhängigkeit muss die
unternehmerische Strategie eines Netzbetreibers auf der Infrastrukturebene notgedrungen sehr langfristig orientiert sein, um wirksam sein zu können.174 Das hat zur
Konsequenz, dass sich der konkrete Inhalt einer Strategie oder eines Strategiewechsels nur sehr zeitverzögert in einem real veränderten Kapitalgüterbestand widerspiegelt. Die Anpassungsgeschwindigkeit auf der Infrastrukturebene ist in den durch
signifikanten technischen Fortschritt geprägten dynamischen Netzsektoren, z.B. der
Telekommunikation, tendenziell höher als in vergleichsweise stationären Netzsektoren.175 Auf der Ebene der Netzdienstleistungen können demgegenüber auch in stationären Netzsektoren kurz- oder mittelfristig signifikante Strategiewechsel umgesetzt
werden, die dann auch sehr rasch von den Konsumenten (und den Konkurrenten)
wahrgenommen werden.176
6.2.2 Differenzierte Investitionsmodellierung nach einheitlichen Prinzipien
Bei der Modellierung des Mengengerüsts der Kapitalkosten (Investitionsmodellierung) ist eine differenzierte Vorgehensweise erforderlich (vgl. Knieps 2003c: S. 16-
18). Es gilt insbesondere zu unterscheiden zwischen neuen und bestehenden Netzteilen. Zur Modellierung neuer und bestehender Netzteile spielen im Netzkontext zwei
Methoden eine wichtige Rolle: analytische Kostenmodelle und Benchmarking.
Die Grundidee analytischer Kostenmodelle lässt sich zurückführen auf das Konzept der Engineering Production Functions (vgl. Chenery 1949 und 1953).177 "Ihr
Anliegen ist es, die Gesetzmäßigkeiten produktiver Zusammenhänge industrieller
173 "[A] cost analysis which is to be useful in decision-making needs to be historical dynamics,
not comparative statics" (Turvey 1969: S. 287).
174 Es lassen sich drei Grundformen der Netzentwicklung unterscheiden: a) Vollständiger Neuaufbau ohne Rücksicht auf die Netztopologie des bestehenden Netzes; b) Vollständige Erneuerung mit Beibehaltung der bestehenden Netztopologie; c) Partielle Modernisierung ("Upgrading") des bestehenden Netzes (vgl. Albach/Knieps 1997: S. 20 und Knieps 2007: S. 33).
175 In den Verkehrssektoren kann es leicht über ein Jahrzehnt dauern, bis ein Strategiewechsel zu
einer tatsächlichen Änderung des Mengengerüsts führt. Ein Beispiel ist der Hochgeschwindigkeitsverkehr der Eisenbahn. Während in Frankreich die Neubaustrecken für den TGV ausschließlich für diesen spezialisierten Zweck gebaut wurden, verfolgte die damalige Deutsche
Bundesbahn bei den ersten ICE-Neubaustrecken noch eine Mehrzweckstrategie (Personenund Güterverkehr). Nach einem zwischenzeitlichen Strategiewechsel wurde die Neubaustrecke Köln-Rhein/Main nur noch für den reinen Personenverkehr gebaut.
176 Ein Beispiel ist der Aufbau von Liniennetzen nach dem so genannten Hub and spoke-System
im Zuge der Deregulierung des amerikanischen Luftverkehrs (vgl. Knieps 1987b: S. 36 f. und
Besanko et al. 2007: S. 375 f.).
177 "In den USA wurde die Theorie der "engineering production functions" von Chenery begründet und von vielen anderen Autoren weiterentwickelt. Die "engineering functions" entsprechen der deutschen Theorie der Kosteneinflussgrößen" (Albach/Knieps 1997: S. 52). Zur Genesis von Chenerys Konzept vgl. Wibe (1984), Smith (1986), Gasmi et al. (2002: S. 15 f.)
und Fandel (2005: S. 127-143).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.