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4.3.2 Beispiel für die Implementierung des Deprival value-Konzepts
Die Europäische Kommission hat im Jahr 1998 das Deprival value-Konzept explizit
als Orientierungshilfe zur Bewertung von Kapitalgütern in einem liberalisierten
Telekommunikationsmarkt empfohlen (vgl. Europäische Kommission 1998: S. 9 u.
32). Gleichwohl sind unmittelbare praktische Anwendungen des Konzepts in Europas Netzindustrien bislang nicht bekannt geworden. Erhebliche Anstrengungen zur
Umsetzung des Konzepts in die Praxis gab es aber in den Netzindustrien Neuseelands, insbesondere im dortigen Stromsektor.
Zu Beginn der 1990er Jahre wurde der Stromsektor Neuseelands einer grundlegenden ordnungspolitischen Neuordnung unterzogen. Die bis dato den Wettbewerb
verhindernden gesetzlichen Marktzutrittsschranken wurden abgebaut. Um möglichen Diskriminierungsanreizen vorzubeugen, wurde eine Umstrukturierung der
Unternehmen erzwungen, so dass Stromerzeugung und Stromübertragung nunmehr
weitgehend vertikal separiert sind. Die Stromübertragungebene, d.h. die Teilbereiche des Stromsektors mit den geringsten Wettbewerbspotenzialen (nationales Hochspannungsnetz plus lokale Verteilnetze), wurde einer so genannten Light handed
regulation nach dem Commerce Act von 1986 unterworfen. D.h. der Gesetzgeber
verzichtete auf die Einführung einer expliziten ex ante-Regulierung der verbleibenden Marktmacht. Dieser Verzicht war allerdings verbunden mit der Drohung, diese
Entscheidung nochmals zu überdenken und ggf. zu revidieren, falls die Unternehmen ihre Marktmacht erkennbar missbrauchen.112 Um das Erkennen von Missbräuchen zu erleichtern und damit der Drohung eine zusätzliche Glaubwürdigkeit zu
verleihen, wurden umfangreiche sektorspezifische Veröffentlichungspflichten – so
genanntes Information disclosure – gesetzlich verankert (vgl. Brunekreeft 2003a:
Kap. 10).
Von Anfang an wurden von den mit der Administration betrauten Behörden Informationen über Kapitalwerte als wesentlicher Teil der Information disclosure
angesehen.113 Als Referenzpunkt der Kapitalwertermittlung wird das Deprival value-
Konzept verwendet. Ausgehend von diesem Referenzpunkt werden von allen neu-
112 "Eine besondere neuseeländische Spezialität besteht in der Drohung der Regierung, zu mehr
Regulierung zurückzukehren, falls die involvierten Netzkonkurrenten sich nicht wettbewerbsmäßig verhalten" (Knieps 1997b: S. 259). Zur analytischen Fundierung mit Hilfe des
Regulatory Threat-Konzepts vgl. Brunekreeft (2003a: Kap. 9).
113 Ursprünglich zuständig war das Ministry of Commerce, später dann das Ministry of Economic Development, und heute ist die Commerce Commission für die Durchsetzung der Veröffentlichungspflichten verantwortlich (vgl. Commerce Commission 2004b: S. 9). Mittlerweile
gibt es neben der Commerce Commission noch die Electricity Commission als weitere Regulierungsbehörde: "To ensure that the broad approach to regulating lines businesses results in
no inconsistencies or duplications of effort, the Commission and the Electricity Commission
will be working closely together in reviewing the information disclosure regime (and the requirements for preparing regulatory accounts) and resetting Transpower's thresholds" (Commerce Commission 2004b: S. 17). Die Aufgaben der Behörden überlappen sich: "It should be
noted that the Electricity Commission is currently developing a new pricing methodology,
which may or may not include replacement cost concepts" (Transpower 2006: S. 33).
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seeländischen Stromnetzbetreibern seit 1994 regelmäßig Kapitalwerte ermittelt und
veröffentlicht. Sie sind dazu gesetzlich verpflichtet. Diese Verpflichtung steht in
keinem Zusammenhang mit allgemeinen handels- oder steuerrechtlichen Rechnungslegungspflichten, sondern ist Bestandteil des sektorspezifischen Regulierungsregimes, dem die neuseeländische Stromwirtschaft seit ihrer Liberalisierung unterworfen ist. Schon 1994, dem Jahr der Einführung der Information disclosure, wurde
von der zuständigen Behörde eine Anleitung zur Durchführung der Kapitalbewertung herausgegeben und seitdem mehrfach überarbeitet (vgl. Commerce Commission 2004a und 2004b). Die Unternehmen sind gehalten, sich bei der Bewertung der
relevanten Anlagegüter114 an den Vorgaben dieses Handbuchs zu orientieren.115
Dass der neuseeländische Ansatz der Light handed regulation mittlerweile als gescheitert gilt, kann schwerlich mit unzureichenden Kosteninformationen begründet
werden (vgl. Bertram/Twaddle 2005).116 Das Problem ist viel grundsätzlicher: Durch
Informieren und Drohen allein lässt sich stabile Marktmacht nicht disziplinieren
(vgl. Knieps 1997b: S. 259 f.). Im neuseeländischen Stromsektor hat man auf die
sich frühzeitig abzeichnenden Regulierungsdefizite mit immer weitergehenden Ver-
öffentlichungspflichten und (vermeintlichen) Verschärfungen der Regulierungsdrohung reagiert. Was den zuständigen Behörden bis dato fehlt, sind die Mittel, um die
Regulierungsdrohung bei Bedarf auch einmal zügig und effektiv wahrmachen zu
können (vgl. Brunekreeft 2003a: S. 203 f.). Das Beispiel Neuseeland zeigt: Entscheidungsorientiertes Costing ist für sich genommen noch keine hinreichende Bedingung für eine effektive Marktmachtdisziplinierung.
4.3.3 Fazit
Das Deprival value-Konzept ist ein ökonomisch fundiertes Bewertungskonzept. Es
ist besonders geeignet als Referenzpunkt für die konsistente, entscheidungsorientierte Bewertung von Kapital in Netzen. Das Konzept ist sowohl für stationäre als auch
für dynamische Entscheidungskontexte geeignet. Liberalisierte Netze sind durch
eine Vielfalt unterschiedlicher Bewertungskontexte gekennzeichnet, wobei erschwerend hinzukommt, dass wettbewerbliche Marktpreise nur eingeschränkt verfügbar
sind. Das Deprival value-Konzept ist unabhängig von der Marktform anwendbar.
Die Interpretation der Deprival value-Ermittlung als fiktive Investitionsrechnung
114 Zu den System fixed assets wird nur die Teilmenge der Anlagegüter gezählt, die in unmittelbarem technischen Zusammenhang mit der Stromübertragung stehen. Bürogebäude, Kraftfahrzeuge und sonstige Anlagegüter, die auch anderen Zwecken dienen könnten, zählen nicht
dazu (vgl. Commerce Commission 2004a: S. 11 und 2004b: S. 11 f.).
115 Wie der Wertermittlungsprozess in der Praxis abläuft zeigt beispielhaft der Jahresbericht von
Transpower, dem Unternehmen, das das nationale neuseeländische Hochspannungsnetz betreibt (vgl. Transpower 2006).
116 Auch Bertram/Twaddle (2005) stützen ihren empirischen ex post-Befund (substanzielle
Monopolgewinne im Zeitraum 1994-2002) im Wesentlichen auf die Daten, die durch die
Veröffentlichungspflichten erst zugänglich wurden.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.