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4.3 Anwendung des Deprival value-Konzepts in Netzen
4.3.1 Anwendbarkeit des Deprival value-Konzepts in unterschiedlichen Bewertungskontexten
Weder in Netzindustrien noch in anderen Wirtschaftssektoren hat sich das Deprival
value-Konzept bislang durchsetzen können.107 Einer der Hauptkritikpunkte ist die
starke Abhängigkeit der Wertermittlung vom jeweiligen Bewertungskontext, die die
resultierenden Wertansätze dem Vorwurf der Subjektivität aussetzt (vgl. Edwards/Kay/Mayer 1987: S. 41-48). Aus einer entscheidungsorientierten Perspektive
ist aber gerade die Anwendbarkeit des Konzepts in ganz unterschiedlichen Kontexten die besondere Stärke des Konzepts (vgl. Wright 1984). In Netzindustrien ist
diese Stärke von besonderer Bedeutung, weil es in Netzen eine Vielfalt von Bewertungskontexten gibt.
In Abschnitt 3.3.4 wurde das vielfältige Produktspektrum in Netzindustrien und
die Notwendigkeit einer konsistenten, disaggregierten Kapitalkostenermittlung bereits aufgezeigt. Das Deprival value-Konzept ist offen genug, um dieser Vielfalt von
Bewertungskontexten gerecht zu werden. Angesichts des erheblichen Wandels der
Bewertungskontexte im Zuge der Liberalisierung wird deutlich, dass der Blick in die
Vergangenheit nicht weiterhilft. Entsprechend fragwürdig erscheint der Informationsgehalt historischer Anschaffungskosten und mit Hilfe geschlossener Abschreibungspläne ermittelter Buchwerte (vgl. Knieps/Küpper/Langen 2001: S. 769). Das
Deprival value-Konzept dagegen ist inhärent zukunftsorientiert. Für jedes Kapitalgut
bedeutet jede Bewertung eine interdependente Aktualisierung aller damit zusammenhängenden Zukunftspläne.108 Genauso wie die ursprüngliche Investitionsentscheidung ist auch jede Neubewertung ein komplexes Alternativenkalkül, in der es
eine Vielzahl von Opportunitätskosten zu berücksichtigen gilt.
Beim Deprival value-Konzept werden alle relevanten Marktdaten in das Kalkül
integriert.109 Die Verfügbarkeit wettbewerblicher Marktpreise ist jedoch keine zwingende Notwendigkeit für die Anwendbarkeit des Konzepts. Das Deprival value-
Konzept ist unabhängig von der Marktform anwendbar. Die entscheidende Frage ist,
ob ein Kapitalgut ersetzt wird oder nicht. Sowohl im Falle eines marktmächtigen
Monopolisten als auch im Falle eines im Wettbewerb stehenden Unternehmens führt
107 "Deprival value (often as 'value to the owner' or 'value to the business') has become not unfamiliar in Britain and Australia. However, it is little known elsewhere, and is not always understood. This is a pity. It provides a coherent principle for selecting the most defensible type
of current value for each kind of asset and liability, and for finding the value's size. Its general
use would make accounts more consistent and comprehensible" (Baxter 2003: S. 1). Vgl.
hierzu auch die in Abacus-Forum (1998) enthaltenen Symposiumsbeiträge über die Erfahrungen in mehreren Ländern. Auf ein Beispiel aus den Netzindustrien wird in Abschnitt 4.3.2
eingegangen.
108 Auch und gerade im Regulierungskontext bedarf die Kostenrechnung einer kapitaltheoretischen Fundierung (vgl. Küpper 2003: S. 30 ff.).
109 Zum Prinzip des Marktbezugs vgl. Knieps/Küpper/Langen (2001: S. 760 f.).
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die Anwendung des Deprival value-Konzepts zu einer klaren konzeptionellen Trennung von Kosten und Gewinnen. Die Anwendbarkeit des Konzepts ist auch nicht
davon abhängig, dass die Finanzierung ausschließlich über Entgelte der Konsumenten erfolgt, sondern ist auch im Falle staatlicher Bereitstellung und Finanzierung
gegeben. Falls z.B. ein Kapitalgut nur auf Grund einer staatlichen Zuschusszahlung
angeschafft wurde, dann ist die allererste (und letztlich entscheidende) Frage, wenn
man das Deprival value-Konzept anwendet: Würde der Staat den Zuschuss heute
auch bezahlen, wenn das Kapitalgut nicht bereits vorhanden wäre?110
Einer Verselbständigung der Ermittlungsmethoden für Abschreibung, Kapitalbasis und Verzinsung wird bei konsequenter Anwendung des Deprival value-Konzepts
vorgebeugt.111 Die Interpretation von Bewertung als fiktive Investitionsrechnung
macht deutlich: Um den Wert von Bestandsgrößen (Kapitalbasis) zu bestimmen,
werden die Werte aller relevanten zukünftigen Stromgrößen (Abschreibung) benötigt, die – analog dem Vorgehen in der Investitionsrechnung – zu diskontieren sind
(Verzinsung). In welcher Weise unternehmerischen Risiken im Investitionskalkül
Rechnung getragen wird, ist ein zentraler Bestandteil der Bewertung. Der Bewertende muss z.B. entscheiden, ob ein stationärer oder ein dynamischer Entscheidungskontext vorliegt. Obwohl nun aber diese Entscheidung erhebliche Auswirkungen auf
die ermittelten Kapitalwerte haben kann, hat sie keinerlei Konsequenzen für die
Wahl des Bewertungskonzepts, denn das Deprival value-Konzept ist – wie in Abschnitt 4.2.2 gezeigt – sowohl in stationären als auch in dynamischen Entscheidungskontexten anwendbar.
Wenn man das Deprival value-Konzept als fiktive Investitionsrechnung interpretiert, dann liefert es auch eine relativ einfache Antwort auf die Frage, wer in liberalisierten Netzindustrien bewerten sollte. Die fiktive Investitionsrechnung zur Bewertung von Altinvestitionen sollte konsequenterweise von denselben Entscheidungsträgern ausgestaltet und durchgeführt werden, die auch die Entscheidungskompetenz
für Neuinvestitionen haben. Selbst in regulierten Netzbereichen liegt diese Entscheidungskompetenz überwiegend bei den Unternehmen, die als Eigentümer die wirtschaftliche Verfügungsgewalt haben. Konsequenterweise sollte dann auch die
Abschreibungs- und Kapitalwertermittlung als unternehmerische Aufgabe angesehen werden. So gesehen bekräftigt das Deprival value-Konzept die grundsätzliche
Kritik an der Verwendung administrativer Preisregeln und regulatorischer Kostenrechnungen in liberalisierten Netzindustrien (vgl. Knieps 2003b: S. 992-994).
110 Auf die Anwendung des Deprival value-Konzepts bei staatlich finanzierten Kapitalgütern
wird in den Abschnitten 7.2.1 und 8.3.2 noch näher eingegangen.
111 Schon vor der Liberalisierung hat Kahn kritisiert, dass sich in Theorie und Praxis der Regulierung die Ermittlung von Wertansätzen für das eingesetzte Kapital (Rate base), von Abschreibungen (Depreciation) und von zugelassenen Verzinsungen (Rate of return) mehr und
mehr zu scheinbar eigenständigen Untersuchungsgegenständen entwickelt haben, obwohl sie
doch eigentlich interdependent zu sehen seien (vgl. Kahn 1988: S. I/32).
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4.3.2 Beispiel für die Implementierung des Deprival value-Konzepts
Die Europäische Kommission hat im Jahr 1998 das Deprival value-Konzept explizit
als Orientierungshilfe zur Bewertung von Kapitalgütern in einem liberalisierten
Telekommunikationsmarkt empfohlen (vgl. Europäische Kommission 1998: S. 9 u.
32). Gleichwohl sind unmittelbare praktische Anwendungen des Konzepts in Europas Netzindustrien bislang nicht bekannt geworden. Erhebliche Anstrengungen zur
Umsetzung des Konzepts in die Praxis gab es aber in den Netzindustrien Neuseelands, insbesondere im dortigen Stromsektor.
Zu Beginn der 1990er Jahre wurde der Stromsektor Neuseelands einer grundlegenden ordnungspolitischen Neuordnung unterzogen. Die bis dato den Wettbewerb
verhindernden gesetzlichen Marktzutrittsschranken wurden abgebaut. Um möglichen Diskriminierungsanreizen vorzubeugen, wurde eine Umstrukturierung der
Unternehmen erzwungen, so dass Stromerzeugung und Stromübertragung nunmehr
weitgehend vertikal separiert sind. Die Stromübertragungebene, d.h. die Teilbereiche des Stromsektors mit den geringsten Wettbewerbspotenzialen (nationales Hochspannungsnetz plus lokale Verteilnetze), wurde einer so genannten Light handed
regulation nach dem Commerce Act von 1986 unterworfen. D.h. der Gesetzgeber
verzichtete auf die Einführung einer expliziten ex ante-Regulierung der verbleibenden Marktmacht. Dieser Verzicht war allerdings verbunden mit der Drohung, diese
Entscheidung nochmals zu überdenken und ggf. zu revidieren, falls die Unternehmen ihre Marktmacht erkennbar missbrauchen.112 Um das Erkennen von Missbräuchen zu erleichtern und damit der Drohung eine zusätzliche Glaubwürdigkeit zu
verleihen, wurden umfangreiche sektorspezifische Veröffentlichungspflichten – so
genanntes Information disclosure – gesetzlich verankert (vgl. Brunekreeft 2003a:
Kap. 10).
Von Anfang an wurden von den mit der Administration betrauten Behörden Informationen über Kapitalwerte als wesentlicher Teil der Information disclosure
angesehen.113 Als Referenzpunkt der Kapitalwertermittlung wird das Deprival value-
Konzept verwendet. Ausgehend von diesem Referenzpunkt werden von allen neu-
112 "Eine besondere neuseeländische Spezialität besteht in der Drohung der Regierung, zu mehr
Regulierung zurückzukehren, falls die involvierten Netzkonkurrenten sich nicht wettbewerbsmäßig verhalten" (Knieps 1997b: S. 259). Zur analytischen Fundierung mit Hilfe des
Regulatory Threat-Konzepts vgl. Brunekreeft (2003a: Kap. 9).
113 Ursprünglich zuständig war das Ministry of Commerce, später dann das Ministry of Economic Development, und heute ist die Commerce Commission für die Durchsetzung der Veröffentlichungspflichten verantwortlich (vgl. Commerce Commission 2004b: S. 9). Mittlerweile
gibt es neben der Commerce Commission noch die Electricity Commission als weitere Regulierungsbehörde: "To ensure that the broad approach to regulating lines businesses results in
no inconsistencies or duplications of effort, the Commission and the Electricity Commission
will be working closely together in reviewing the information disclosure regime (and the requirements for preparing regulatory accounts) and resetting Transpower's thresholds" (Commerce Commission 2004b: S. 17). Die Aufgaben der Behörden überlappen sich: "It should be
noted that the Electricity Commission is currently developing a new pricing methodology,
which may or may not include replacement cost concepts" (Transpower 2006: S. 33).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.