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2.4 Zentraler Zweck der Kostenermittlung nach der Liberalisierung
Die im Zuge der Liberalisierung vollzogenen Paradigmenwechsel folgen alle einem
gemeinsamen Impetus, der auf die Stärkung der Märkte, die Intensivierung des
Wettbewerbs und die Schaffung zusätzlicher Freiräume für unternehmerisches Handeln abzielt. Selbstverständlich gab es auch bereits vor der Liberalisierung vielerlei
Markttransaktionen in Netzen. Aber es ist offenkundig, dass nicht nur der Umfang
sondern insbesondere die Differenziertheit dieser Markttransaktionen durch die
Liberalisierung drastisch zugenommen haben. Man denke allein nur an die von
Grund auf neu geschaffenen Märkte für Netzinfrastrukturkapazitäten, z.B. für Eisenbahntrassen oder Stromdurchleitung. Für die Allokation dieser knappen Güter
wurden vor der Liberalisierung andere Allokationsmechanismen eingesetzt, z.B.
administrative Zuteilungsregeln oder einfache First come first serve-Regeln. Allein
schon die Schaffung dieser Märkte hat unternehmerische Kreativität freigesetzt, die
durch den allenthalben verschärften Wettbewerbsdruck zusätzlich stimuliert wurde.
Vor diesem Hintergrund spielen Kosteninformationen für Netzunternehmen nach
der Liberalisierung im Hinblick auf den eigenen Fortbestand und die Zukunftssicherung eine ganz andere Rolle als zuvor.19
Der resultierende Reformbedarf lässt sich daran festmachen, dass sich der zentrale Zweck der Kostenermittlung in Netzen durch die Liberalisierung verändert hat
(vgl. Abbildung 2.1). Die Rückführung der Regulierung auf die monopolistischen
Bottlenecks führt dazu, dass sich in Netzbereichen mit funktionsfähigem Wettbewerb (vgl. Tabelle 2.3) die "aufgezwungenen" Rechnungszwecke auf die Bestandsbewertung reduzieren.20 Gleichzeitig führt die Marktöffnung in allen Netzbereichen
(auch bei den monopolistischen Bottlenecks) zu einer Bedeutungszunahme des internen Rechnungszwecks 'Planung'. Denn nicht nur potenzielle und tatsächliche
Marktneulinge haben nach der Marktöffnung völlig neue Freiheiten21, sondern auch
die eingesessenen Unternehmen haben mehr Flexibilität. Wo mehr Freiheit und
Flexibilität zugelassen sind, da gibt es mehr zu planen und zu entscheiden; und wo
mehr zu entscheiden ist, da wächst der Bedarf an entscheidungsrelevanten Kosteninformationen.22
19 "Es ist unbestritten, daß eine umfassende Marktöffnung des Telekommunikationssektors auch
eine Herausforderung für die Kostenrechnung darstellt" (Albach/Knieps 1997: S. 71).
20 Wenn der Staat als Besteller ausschreibt, dann bedarf es keiner extern "aufgezwungenen"
Preiskalkulation. Vielmehr werden die sich an der Ausschreibung beteiligenden Unternehmen
ihre eigenen Gebote auf Basis ihrer internen Kostenrechnung erstellen.
21 Vor der Liberalisierung gab es in Netzsektoren zwar ebenfalls Beispiele für partiellen Marktzutritt, aber insgesamt betrachtet waren dies die (eher seltenen) Ausnahmen von der Regel.
Einige Beispiele für diese Ausnahmen gab es im zwischenstaatlichen US-amerikanischen Telekommunikationsverkehr (vgl. Knieps 1985: S. 102-138).
22 Jamison (2006: S. 8) unterteilt diesen Bedarf in drei Klassen von Fragestellungen: a) Ganze
Unternehmen gründen, aufkaufen, verkaufen oder schließen? b) Einzelne Produkte oder Produktgruppen einführen oder vom Markt nehmen? c) Output einzelner Produkte erhöhen oder
zurückfahren?
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Auf Wettbewerbsmärkten werden die Unternehmen permanent mit derartigen
Entscheidungsproblemen konfrontiert.23 Dabei spielen Markteintritte und Innovationen eine ganz besondere Rolle – nicht nur in den Netzsektoren. Aus der industrie-
ökonomischen Forschung ist bekannt, dass hohe Markteintrittsraten in einem Wirtschaftssektor oft einhergehen mit einer hohen Innovationsrate und Effizienzsteigerungen (vgl. Geroski 1995: S. 431). Diese Entwicklungen in der Kostenrechnung
adäquat abzubilden ist nicht nur für die Marktneulinge eine große Herausforderung,
sondern auch und gerade für die alteingesessenen Unternehmen:
"Numerous case studies have suggested that entry is often used as a vehicle for introducing
new innovations (...), and many show that entry often encourages incumbents to drastically cut
slack from their operations (this is particularly the case in newly deregulated industries). (...) It
is also worth noting that high correlations between entry and innovative activity do not imply
that entrants are always, or even often, the major source of innovation in markets. Many case
studies show that entry stimulates incumbents to introduce new products and processes which
they had been holding back" (Geroski 1995: S. 431).
Die Suche nach neuen Technologien, neuen Produkten und Produktqualitäten sowie
neuen Preisstrukturen sind ein wesentliches Charakteristikum geöffneter Netze. In
Branchenstudien zur Performance einzelner Liberalisierungen in Netzsektoren
taucht regelmäßig das Problem auf, dass die Effekte dieser Differenzierung kaum
hinreichend erfasst werden können (vgl. Knieps 2006b: S. 204-211). Die adäquate
Erfassung und Abbildung dieser neuen Vielfalt in liberalisierten Märkten ist eine
Herausforderung für die empirische Forschung:
"The results of research on the performance of industries after price and entry regulations are
removed/relaxed suggests that research in industrial organization and related public policy prescription has placed too much emphasis on static efficiency gains or losses and not enough
emphasis on the factors influencing the rate and direction of product and process innovation
which are likely to have much larger consumer welfare effects" (Joskow 2005: S. 188).
Die Modellierung der neuen Vielfalt in den Netzsektoren stellt aber nicht nur für die
Industrieökonomie, die traditionell eine Branchenperspektive einnimmt, vor neue
Herausforderungen. Auch die Betriebswirtschaftslehre, die traditionell die Perspektive eines einzelnen Unternehmens einnimmt, steht vor neuen Herausforderungen.
Da diese neue Vielfalt unmittelbare Konsequenzen für die Abbildung des Betriebsgeschehens in der Kostenrechnung haben muss, hat insbesondere das Teilgebiet der
Kostenrechnung wieder deutlich an Bedeutung gewonnen (vgl. Küpper 2002: S. 30).
Eine künstliche Trennung des Kostenermittlungsproblems in eine unternehmerische und eine wirtschaftspolitische Dimension würde jedoch in die Irre führen.
Stattdessen sollte der entgegengesetzte Weg eingeschlagen werden, denn aus ökonomischer Sicht handelt es sich um die zwei Seiten derselben Medaille. Wirtschaftspolitische Anforderungen an ökonomisch fundierte Kosteninformationen müssen
sich auch auf der unternehmerischen Ebene mit anerkannten ökonomischen Prinzipien einer entscheidungsorientierten Kostenermittlung darstellen lassen – und zwar
23 Vgl. das oben in Abschnitt 2.1 wiedergegebene Beispiel der imaginären Fabrik von J.M.
Clark.
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durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen, seien sie nun wettbewerblich,
reguliert oder subventioniert (vgl. Gawel 1995: S. 239 f.).24 Dass die aus der Zeit vor
der Liberalisierung stammenden Kostenrechnungswerke das allein schon deshalb
nicht leisten können, weil sie für ganz andere Zwecke konzipiert und eingesetzt
wurden, soll abschließend anhand eines Beispiels demonstriert werden, bei dem sich
die Notwendigkeit zur grundlegenden Reform bereits frühzeitig abzeichnete.
Bei dem Beispiel handelt es sich um die Leistungs- und Kostenrechnung der
ehemaligen Deutschen Bundespost. Sie wurde in den 1950er Jahren als Vollkostenrechnung auf Bundesebene konzipiert, d.h. im Prinzip wurde davon ausgegangen,
dass für sämtliche Teile des (damals breiten) Leistungsspektrums der Deutschen
Bundespost das Bundesgebiet in seiner Gesamtheit der jeweils relevante Markt sei.
Das vorrangige Ziel des Rechenwerks bestand darin, ausgehend vom Jahresabschluss für das Vorjahr eine nach Kostenträgern (Briefdienst, Telefondienst usw.)
differenzierte Ergebnisrechnung zu erstellen, die dem Verwaltungsrat vorzulegen
war. Nachdem auch "intern in der Deutschen Bundespost zunehmend die fehlende
Regionalisierung und Planungsorientierung beklagt" wurde (Strohbach 1987: S.
287), erteilte der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen im Jahr 1983
zwei wissenschaftlichen Gutachtern den Auftrag zur kritischen Bestandsaufnahme
als Ausgangspunkt für entsprechende Reformvorschläge. Der Gutachter W. Kilger
fasste die Ergebnisse seiner Bestandsaufnahme in deutlichen Worten zusammen:
"Der Haupteinwand gegen die auf Bundesebene durchgeführte Leistungs- und Kostenrechnung besteht darin, daß sie die Aufgabe der Kostenkontrolle und die dispositiven Aufgaben
nicht erfüllt, obwohl diese beiden Aufgaben bei der Zielformulierung durch die Deutsche
Bundespost besonderes Gewicht beigemessen wurde. [...] Von dem zur Zeit praktizierten System [...] gehen aufgrund seiner zentralen Ausrichtung keine Anregungen zur Kostenverantwortung und keine Motivation zum wirtschaftlichen Einsatz von Produktionsfaktoren aus. [...]
[N]ur in lokalen Kostenstellen (in Verbindung mit einer analytischen Kostenplanung) können
betriebswirtschaftlich fundierte Kriterien für die Abhängigkeit der Kosten von der Verkehrsleistung gebildet und entscheidungsrelevante Kosten ermittelt werden" (zitiert nach Strohbach
1987: S. 290 f.).25
W. Kilger begründete seinen Befund mit Hilfe einiger anschaulicher Beispiele, z.B.
dem weitgehenden Fehlen einer Anlagebuchhaltung, die diesen Namen verdient.
Gemäß ihrer Anlagebuchhaltung bestand der Kapitalbestand der Deutschen Bundespost im Wesentlichen nur aus Kraftfahrzeugen und Gebäuden (Mengengerüst), deren ökonomischer Wert sich darüber hinaus seit ihrer Anschaffung nicht mehr
grundlegend verändert hat (historische Anschaffungskosten als Wertgerüst). Unter
24 Schon J.M. Clark bekannte sich zu einem interdisziplinären Ansatz (vgl. Clark 1923: S. ixxii), den nach ihm auch R.H. Coase wiederholt propagiert hat (vgl. Coase 1990).
25 Zu einem ähnlichen Befund hinsichtlich der Kostenrechnung der öffentlichen Verkehrsbetriebe in der Schweiz kam seinerzeit Rieder: "In der Kostenrechnung öffentlicher Verkehrsbetriebe wurde das Relevanzkriterium bislang sehr stark vernachlässigt. Insbesondere sind u.W.
keine Anwendungen bekannt, die den Vergleich kurzfristiger Entscheidungen zulassen; sei es
für Plan-Ist-Vergleiche oder für Entscheidungen zwischen mehr als zwei Alternativen (0-
Variante eingeschlossen)" (Rieder 1981: S. 37 f.).
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diesen Voraussetzungen war das Rechnen mit kalkulatorischen Abschreibungen und
kalkulatorischen Zinsen weder üblich noch möglich (vgl. Strohbach 1987: S. 292).
Das Beispiel der Deutschen Bundespost und die in den 1980er Jahren in Auftrag
gegebenen Gutachten machen deutlich, dass es bereits vor der Liberalisierung Ansätze zu einer Reform der Kostenrechnungswerke einzelner Netzunternehmen in
Richtung einer stärkeren Entscheidungsorientierung gab.26 Was diesen Ansätzen
aber fehlte, war die zwingende Notwendigkeit ihrer konsequenten (und nicht nur
punktuellen) Umsetzung. Die zwingende Notwendigkeit zur Reform der Kostenrechnung ergab sich erst als Folge der tiefgreifenden Änderungen der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen im Zuge der Liberalisierung (vgl. Albach/Knieps
1997). So lautet denn auch das Fazit dieses Kapitels: Entscheidungsrelevante Kosteninformationen für interne Planungszwecke sind erst im Zuge der Liberalisierung
zum dominierenden Zweck unternehmerischer Kostenermittlung geworden. Daraus
folgt die Notwendigkeit, sich näher mit den Grundprinzipien der Ermittlung entscheidungsrelevanter Kosten in Netzen vertraut zu machen. Dies ist Gegenstand des
nachfolgenden Kapitels 3.
26 Für den Eisenbahnsektor hat bereits Rieder (1981) einen entsprechenden Reformvorschlag
vorgestellt.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.