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führt, sondern dass auch die mit den Bestellungen verfolgten Ziele selbst unter Legitimationsdruck geraten. Der Wettbewerb verändert nicht nur die relevanten Knappheiten, er macht sie auch transparenter und bewusster. Aus der derzeit in der Realität
beobachtbaren Existenz staatlich finanzierter Netzteile (S-Klasse) sollte deshalb
nicht der Schluss gezogen werden, deren Finanzierung sei auch idealtypisch und per
se eine staatliche Aufgabe. Entsprechende Ziele bedürfen in jedem Sektor der Konkretisierung durch die Politik und der Legitimation durch die Bürger. Erst daran
anschließend stellt sich aus ökonomischer Sicht die Frage nach möglichst marktkonformen Instrumenten zur Zielerreichung. Marktorientierte Kosteninformationen
spielen bei ihrer Implementierung eine zentrale Rolle. Sowohl auf der Seite der
staatlichen Besteller als auch auf Seiten der im Bieterwettbewerb stehenden Unternehmen hat die Einführung des Bestellerprinzips die Kosteninformationsbedürfnisse
deutlich erhöht.15
2.3.3 Paradigmenwechsel III: Kapitalseitige Marktöffnung durch Privatisierung
öffentlicher Unternehmen
In Netzsektoren spielen öffentliche Unternehmen weltweit – mit Ausnahme der
USA – traditionell eine herausragende Rolle. In den meisten Ländern Europas wurden vor der Liberalisierung nahezu alle Netzsektoren von öffentlichen Unternehmen
dominiert. Ursprünglich wurden die meisten Netze mit privatem Risikokapital und
von privaten Unternehmen aufgebaut (Beispiel Eisenbahn). Nach und nach kam es
aus mannigfachen politischen, ökonomischen, sozialen und z.T. auch militärischen
Gründen in fast allen europäischen Ländern zu mehr oder weniger umfassenden
Verstaatlichungen; eine Ära, die ihren Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg
erreichte (vgl. Millward 2005).
In den 1980er Jahren kam es zu einer Trendwende und es begann weltweit eine
Ära der Privatisierungen mit – insbesondere in den 1990er Jahren – stetig steigenden
jährlichen Privatisierungserlösen. Nach Schätzungen von Thomson Financial, einem
Anbieter von Finanzinformationen, überschritten in der zweiten Jahreshälfte 1999
die bis dato weltweit kumulierten Privatisierungserlöse die Grenze von einer Billion
US-Dollar und dürften mittlerweile auch die Marke von 1,5 Billionen US-Dollar
überschritten haben (vgl. Megginson 2005: S. 21). Nimmt man die Privatisierungserlöse als Maßstab, so zeigt sich eine Konzentration der Privatisierungsaktivitäten
auf relativ wenige Wirtschaftssektoren. Im Zeitraum 1990 bis 2000 gab es folgende
sektorale Aufteilung (vgl. Megginson 2005: S. 26): • Telekommunikation (36%) • Strom (16%) • Finanzdienstleister (15%) • Öl und Gas (10%)
15 Dies wird im nachfolgenden Kapitel in Abschnitt 3.3.3 noch ausführlicher begründet.
29
• Verkehr (6%) • Sonstige (17%)
Selbst wenn man Öl und Gas wegen Abgrenzungsschwierigkeiten nicht zu den
Netzsektoren zählt, so kamen immer noch mehr als die Hälfte der Privatisierungserlöse aus den Netzsektoren Telekommunikation, Strom und Verkehr. Eine deutliche
Dominanz der Netzsektoren bei den Privatisierungserlösen zeigen auch die sektoralen Daten für 30 OECD-Staaten im Zeitraum 1991 bis 2001 (vgl. OECD 2002a: S.
50 f.). Die Auswertung der Weltbank von 7.860 Privatisierungstransaktionen in 120
Entwicklungsländern im Zeitraum 1990 bis 2003 (kumulierte Erlöse: 410 Mrd. US-
Dollar) weist in die gleiche Richtung.16
Die Gründe für Privatisierung sind vielfältig und Gegenstand einer umfangreichen Literatur (vgl. Megginson 2005: Kap. 2). Im Folgenden werden zwei Gründe
herausgegriffen, die in Netzsektoren von besonderer Bedeutung sind und sehr eng
zusammenhängen: a) die disziplinierende Wirkung des Kapitalmarktes; b) die Vermeidung von staatlichen Interessenkonflikten.
Zu a) Auf Wettbewerbsmärkten disziplinieren sowohl die Konsumenten und
Konkurrenten auf den Produktmärkten als auch die Investoren auf den Kapitalmärkten die im Markt aktiven Unternehmen. Wie bereits in den vorangegangenen Abschnitten 2.3.1 und 2.3.2 ausgeführt, gibt es in Netzen Bereiche, die nicht der üblichen Vorstellung von wettbewerblichen Produktmärkten entsprechen. Zum einen ist
bei monopolistischen Bottlenecks der Wettbewerb nicht oder allenfalls sehr eingeschränkt funktionsfähig; zum anderen spielt in der S-Klasse der Staat eine dominierende Rolle auf der Nachfrageseite, und die Wettbewerbsintensität hängt hier entscheidend davon, ob und wie der Staat als Besteller agiert. In all den Netzbereichen,
in denen die disziplinierende Wirkung des Wettbewerbs auf den Produktmärkten
nicht oder nur eingeschränkt wirksam ist, ist es umso wichtiger, dass zumindest die
Kontrollfunktion des Kapitalmarkts greift. Aus Sicht der Public Choice-Theorie
haben Politik, Bürokratie und Steuerzahler keine hinreichenden Anreize diese Kontrollfunktion effektiv wahrzunehmen.17
Zu b) Bei Bottlenecks schlüpft der Staat idealtypisch in die Rolle des Regulierers
und in der S-Klasse in die Rolle des Bestellers. Es kann auch sein, dass er beide
Rollen gleichzeitig ausfüllt, z.B. im Falle defizitärer Bahninfrastrukturen. Wenn der
Staat aber nun zugleich auch noch als Unternehmer tätig ist, besteht unweigerlich
16 "Infrastructure (telecoms, electricity/natural gas, transport and water) accounted for half of all
developing country proceeds (...)" (Kikeri/Kolo 2005: S. 12).
17 Dieses Argument fehlender staatlicher Anreize zur effektiven Kontrolle gilt auch für andere
Wirtschaftssektoren, es ist jedoch im Netzkontext besonders relevant. Hierzu Schneider
(2003: S. 25): "Since staying in power is the most important constraint for politicians (or
sometimes the only goal), they will also use public utilities for their selfish goals. One reason
for this is evidently the lack of incentives for politicians and taxpayers to exert effective control of public enterprises or efficient use of resources in the economy. This argument seems
especially valid for the case of public utilities."
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die Gefahr der Vermischung von Schiedsrichter- und Spielerfunktion.18 Privatisierung vermeidet Interessenkonflikte und erleichtert die Definition einer transparenten
Schnittstelle zwischen staatlicher und privater Aufgabenerfüllung. Dies ist ein Argument für Privatisierung in den Netzbereichen vom Typ B, Typ C und Typ D (vgl.
Tabelle 2.3).
Tabelle 2.3: Lokalisierung staatlicher Interessenkonflikte bei öffentlichen Unternehmen
Finanzierung
Wettbewerb
Privat – Profitabel
(P-Klasse)
Staatlich – Subventioniert
(S-Klasse)
funktionsfähig
Netzbereich Typ A
öffentliches Unternehmen
Netzbereich Typ C
staatliche Bestellung
+
öffentliches Unternehmen
nicht funktionsfähig
(monopolistischer
Bottleneck)
Netzbereich Typ B
staatliche Regulierung
+
öffentliches Unternehmen
Netzbereich Typ D
staatliche Bestellung
+
staatliche Regulierung
+
öffentliches Unternehmen
Quelle: Eigene Zusammenstellung
In Netzbereichen vom Typ A dagegen wären öffentliche Unternehmen in dieser
Hinsicht unbedenklich, da der Staat hier keine weiteren spezifischen Aufgaben
übernehmen muss, wenn man einmal vom allgemeinen Wettbewerbsrecht und technischen Regulierungsfunktionen absieht. Das entspricht im Ergebnis der Property
Rights-Theorie, wonach es nicht so sehr auf die Frage des Eigentums an sich ankommt, sondern vielmehr die Wettbewerbsintensität die entscheidende Determinante ist (vgl. Schneider 2003: S. 25 und Megginson 2005: S. 53-57). Was die Kosteninformationsbedürfnisse anbelangt, gibt es bei öffentlichen Unternehmen, die in
Netzbereichen vom Typ A aktiv sind, keine grundsätzlichen Unterschiede zu privaten, im Wettbewerb stehenden Unternehmen.
18 Derartige Interessenkonflikte mögen abgemildert werden, indem die verschiedenen Rollen
von unterschiedlichen Ebenen der staatlichen Gewalt wahrgenommen werden, aber völlig
ausschalten lassen sie sich nicht. Wenn jedoch dieselbe Gebietskörperschaft mehrere Rollen
gleichzeitig ausfüllt, ist der Interessenkonflikt offenkundig. Die Doppelrolle von Kommunen
als Eigentümer eines eigenen Verkehrsunternehmens einerseits und als Besteller defizitärer
Leistungen andererseits ist ein typisches Problem im ÖPNV (vgl. Weiß 2003).
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2.4 Zentraler Zweck der Kostenermittlung nach der Liberalisierung
Die im Zuge der Liberalisierung vollzogenen Paradigmenwechsel folgen alle einem
gemeinsamen Impetus, der auf die Stärkung der Märkte, die Intensivierung des
Wettbewerbs und die Schaffung zusätzlicher Freiräume für unternehmerisches Handeln abzielt. Selbstverständlich gab es auch bereits vor der Liberalisierung vielerlei
Markttransaktionen in Netzen. Aber es ist offenkundig, dass nicht nur der Umfang
sondern insbesondere die Differenziertheit dieser Markttransaktionen durch die
Liberalisierung drastisch zugenommen haben. Man denke allein nur an die von
Grund auf neu geschaffenen Märkte für Netzinfrastrukturkapazitäten, z.B. für Eisenbahntrassen oder Stromdurchleitung. Für die Allokation dieser knappen Güter
wurden vor der Liberalisierung andere Allokationsmechanismen eingesetzt, z.B.
administrative Zuteilungsregeln oder einfache First come first serve-Regeln. Allein
schon die Schaffung dieser Märkte hat unternehmerische Kreativität freigesetzt, die
durch den allenthalben verschärften Wettbewerbsdruck zusätzlich stimuliert wurde.
Vor diesem Hintergrund spielen Kosteninformationen für Netzunternehmen nach
der Liberalisierung im Hinblick auf den eigenen Fortbestand und die Zukunftssicherung eine ganz andere Rolle als zuvor.19
Der resultierende Reformbedarf lässt sich daran festmachen, dass sich der zentrale Zweck der Kostenermittlung in Netzen durch die Liberalisierung verändert hat
(vgl. Abbildung 2.1). Die Rückführung der Regulierung auf die monopolistischen
Bottlenecks führt dazu, dass sich in Netzbereichen mit funktionsfähigem Wettbewerb (vgl. Tabelle 2.3) die "aufgezwungenen" Rechnungszwecke auf die Bestandsbewertung reduzieren.20 Gleichzeitig führt die Marktöffnung in allen Netzbereichen
(auch bei den monopolistischen Bottlenecks) zu einer Bedeutungszunahme des internen Rechnungszwecks 'Planung'. Denn nicht nur potenzielle und tatsächliche
Marktneulinge haben nach der Marktöffnung völlig neue Freiheiten21, sondern auch
die eingesessenen Unternehmen haben mehr Flexibilität. Wo mehr Freiheit und
Flexibilität zugelassen sind, da gibt es mehr zu planen und zu entscheiden; und wo
mehr zu entscheiden ist, da wächst der Bedarf an entscheidungsrelevanten Kosteninformationen.22
19 "Es ist unbestritten, daß eine umfassende Marktöffnung des Telekommunikationssektors auch
eine Herausforderung für die Kostenrechnung darstellt" (Albach/Knieps 1997: S. 71).
20 Wenn der Staat als Besteller ausschreibt, dann bedarf es keiner extern "aufgezwungenen"
Preiskalkulation. Vielmehr werden die sich an der Ausschreibung beteiligenden Unternehmen
ihre eigenen Gebote auf Basis ihrer internen Kostenrechnung erstellen.
21 Vor der Liberalisierung gab es in Netzsektoren zwar ebenfalls Beispiele für partiellen Marktzutritt, aber insgesamt betrachtet waren dies die (eher seltenen) Ausnahmen von der Regel.
Einige Beispiele für diese Ausnahmen gab es im zwischenstaatlichen US-amerikanischen Telekommunikationsverkehr (vgl. Knieps 1985: S. 102-138).
22 Jamison (2006: S. 8) unterteilt diesen Bedarf in drei Klassen von Fragestellungen: a) Ganze
Unternehmen gründen, aufkaufen, verkaufen oder schließen? b) Einzelne Produkte oder Produktgruppen einführen oder vom Markt nehmen? c) Output einzelner Produkte erhöhen oder
zurückfahren?
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.