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2.2 Zentraler Zweck der Kostenermittlung vor der Liberalisierung
Vor der Liberalisierung verfolgten die regulierten Netzunternehmen mit ihren Kostenrechnungswerken in erster Linie den Zweck, regulatorische Auflagen zu erfüllen
(vgl. Albach/Knieps 1997: S. 11). Die Zwecke wiederum, die von den Gesetzgebern
und Aufsichts- bzw. Regulierungsbehörden mit den eingeforderten Kosteninformationen verfolgt wurden, waren vielfältig: Überschussgewinne und Ressourcenverschwendung verhindern; Überlebensfähigkeit der regulierten Unternehmen nicht gefährden; Diskriminierung einzelner Konsumentengruppen verhindern; Gesamtkosten
möglichst fair und angemessen aufteilen; vorhandene Kapazitäten effizient nutzen;
Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen bedarfsgerecht planen und durchführen; interne und/oder externe Subventionen auf das politisch Erwünschte beschränken etc.
(vgl. Jamison 2006: S. 2).
Dass die Erfüllung dieser externen Zwecke zur Kernfunktion unternehmerischer
Kostenermittlung werden konnte, ist nur im seinerzeitigen ordnungspolitischen
Kontext zu verstehen. Hier spielten zwei Entwicklungen eine wichtige Rolle. Zum
einen war die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Unternehmen durch vielfältige staatliche Gesetze und Verordnungen stark eingeschränkt; und wenn Unternehmen weniger zu entscheiden haben, ist ceteris paribus ihr (internes) Bedürfnis nach
entscheidungsunterstützenden Kosteninformationen geringer. Zum anderen gab es in
Gestalt einer Aufsichts- bzw. Regulierungsbehörde einen weiteren maßgeblichen
Entscheidungsträger, z.B. im Telekommunikationssektor in Deutschland:
"Unter Monopolbedingungen war die Deutsche Telekom im wesentlichen nur durch ein einziges Marktdatum kontrolliert: die gesamte Zahlungsbereitschaft für Telekommunikationsdienstleistungen. Die Kunden hatten nämlich praktisch nur die Wahl, auf Telekommunikationsdienstleistungen überhaupt zu verzichten oder die Preise und Konditionen der Deutschen Telekom zu akzeptieren. Die wichtigere Bedingung für den Geschäftserfolg war das Verhalten der
RegulatorenFn" (Engel/Knieps 1998: S. 67, Fußnotentext weggelassen).
Die Regulatoren entwickelten nach und nach eigenständige Bedürfnisse nach Kosteninformationen, so dass die internen Bedürfnisse schlussendlich von externen
dominiert wurden. Ein kurzer Rückblick in die Historie soll dies verdeutlichen.
Die traditionelle Regulierung von Netzindustrien kannte drei Eckpfeiler: a) Gesetzliche Marktzutrittsschranken sollten ineffiziente Kostenduplizierungen verhindern; b) kostenorientierte Preis- und Rentabilitätskontrollen sollten die Marktmacht
der aktiven Unternehmen beschränken; c) Kontrahierungszwang und interne und/oder externe Subventionen sollten eine flächendeckende Versorgung zu sozial erwünschten Tarifen ermöglichen (vgl. Knieps 2008a: S. 22).5 Jeder dieser drei Eckpfeiler hatte einen starken Kostenbezug und begründete einen spezifischen, dem
jeweiligen Zweck entsprechenden Bedarf an Kosteninformationen seitens des Regulierers. Um effiziente von ineffizienten Kostenduplizierungen unterscheiden zu
5 Illustrative Beispiele für die herausragende Bedeutung dieser drei Eckpfeiler in der Praxis
liefert die Regulierung der Telekommunikation in den USA und in Deutschland im 20. Jahrhundert (vgl. Knieps 1985: 51-77).
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können, benötigt ein Regulierer Kosteninformationen, die diesem Verwendungszweck entsprechen. Auch um die Kostenorientierung von Preisen und Rentabilitäten
kontrollieren zu können, benötigt ein Regulierer zweckadäquate Kosteninformationen. Und schließlich benötigt der Regulierer auch zweckadäquate Kosteninformationen, um Art, Umfang und Wirkung von Subventionen nachvollziehen und beurteilen zu können.
Was die Einführung und Umsetzung der drei Eckpfeiler traditioneller Regulierung in der Praxis anbelangt, hat der Eisenbahnsektor im 19. Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht eine gewisse Vorreiterrolle eingenommen. Erstens, schon relativ kurz
nach der Eröffnung der weltweit ersten Eisenbahnlinie 1825 in England wurden
Eisenbahngesetze erlassen, die bereits Optionen zur staatlichen Regulierung der
seinerzeit überwiegend privaten Eisenbahnunternehmen enthielten. Mit zu den ersten Ländern, die entsprechende gesetzliche Regulierungsvorschriften erließen, gehörten Preußen im Jahr 1838 (vgl. Fremdling/Knieps 1993: 144-146) und England
im Jahr 1844 (vgl. Stern 2003: 200-205). Zweitens, in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts wurde in zahlreichen Bundesstaaten der USA damit begonnen, unabhängige Regulierungsbehörden einzurichten. Anlass ihrer Gründung war die Regulierung der Eisenbahn (vgl. Wallsten 2006: 4). Drittens, der Massachusetts Board of
Railroad Commissioners (gegründet 1869) war die erste Regulierungsbehörde, die
den gesetzlichen Auftrag erhielt, für eine einheitliche Buchführung und Kostenrechnung zu sorgen (vgl. Price/Walker/Spacek 1965: 831).6
Die Gesetzgeber machten sich demnach bereits sehr früh Gedanken über Buchführung und Kostenrechnung. Deren Vereinheitlichung war jedoch nur der erste
Schritt hin zu einer immer stärkeren administrativen Einflussnahme auf die Kostenermittlung. Schon bald nachdem die ersten Regulierungsbehörden in den USA ihre
praktische Arbeit aufnahmen7, setzte sich die Vorstellung durch, dass Regulierung
ohne zuverlässige und adäquate Kosteninformationen wirkungslos bleibt und dass
der Regulierer eine aktivere Rolle einnehmen muss, um solche Informationen zu
bekommen.8 A. Kahn hat in seinem Standardwerk der traditionellen Regulierungstheorie die weitere Entwicklung treffend zusammengefasst:
6 Auch die erste Regulierungsbehörde auf Bundesebene – die Interstate Commerce Commission (ICC) – wurde 1887 errichtet, um die Eisenbahn zu regulieren. Später übernahm sie auch
Regulierungsaufgaben in anderen Bereichen, z.B. der zwischenstaatlichen Telekommunikation. Die ICC erließ erstmals 1907 Vorschriften zur einheitlichen Buchführung von Eisenbahngesellschaften (vgl. Price/Walker/Spacek 1965: S. 831-833). In England wurden bereits 1868
detaillierte gesetzliche Vorschriften zur Rechnungslegung von Eisenbahnunternehmen erlassen (vgl. Glynn 1994: S. 337 f.), konnten aber mangels einer effektiven Regulierungsbehörde
zunächst nicht durchsetzt werden (vgl. Stern 2003: S. 203 f.).
7 Der Kreis der regulierten Netzindustrien wurde in den USA vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts stetig erweitert. Auf die Eisenbahn folgten Strom und Gas und schließlich auch die
Telekommunikation (vgl. Wallsten 2006: S. 4).
8 "In the early days of regulation, little attention was paid to the methods of accounting used by
public utilities. Notorious abuses appeared. Operating expenses were overstated, the investment in plant and equipment was impossible to ascertain, utility and nonutility businesses
were not separated, and overcapitalization – often at the expense of the investor – was com-
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"It became clear that if the commissions were to be something more than rubber stamps they
had to exercise their own judgment about the propriety of the items presented to them as the
major components of the cost of service. To do so, first, they had to require the companies to
keep uniform accounts, according to procedures and rules stipulated by the commissions, and
subject to their audit.Fn Then they needed to make determinations about which costs they were
prepared to authorize for inclusion in the computed company cost-of-service; and of these,
which could be charged directly as operating expenses and thus included in annual revenue requirements dollar for dollar, and which capitalized, thus entering the cost of service in the
form of annual allowances for depreciation and return on the undepreciated portion of the investment. Since mere disallowances of certain outlays after the fact could have the effect of
reducing excessively the companies' rates of return, and hence of threatening their ability to attract additional capital, commissions came to insist also on the authority to control company
expenditures in advance, supervising and passing on their budgets" (Kahn 1988: S. 26/I f.,
Fußnotentext weggelassen).
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich "das dichte Gestrüpp der Regulierungsauflagen" (Albach/Knieps 1997: 38) im Zeitablauf entwickelt hat, war die US-
Regulierung der Telekommunikation vor der Liberalisierung (vgl. Knieps 1985: 56).
Die für die zwischenstaatliche Regulierung zuständige Federal Communications
Commission (FCC) hat eine Vielzahl von Vorschriften erlassen, die in Bezug auf
Tiefe und Dichte der administrativ gesetzten Vorgaben der berühmt-berüchtigten
Komplexität steuerrechtlicher Vorschriften kaum nachsteht (vgl. Bolter/Irwin 1980:
S. 151-200). In den USA waren in den anderen Netzsektoren in der Tendenz ähnliche Entwicklungen zu beobachten.9
In Europa wurde die Angebotsseite in den meisten Netzsektoren vor der Liberalisierung von öffentlichen Unternehmen dominiert. Wer die Bedeutung unternehmerischer Kostenermittlung in diesen öffentlichen Unternehmen in jener Zeit aus der
Retrospektive abzuschätzen versucht, dem bietet sich ein ambivalentes Bild. Auf der
einen Seite geben eine kaum überschaubare Fülle gebührenrechtlicher Vorschriften
zur Kostenermittlung (mit umfangreicher Sekundärliteratur) sowie zahlreiche, z.T.
erbittert geführte Rechtsstreitigkeiten um die "richtige" Auslegung dieser Vorschriften ein beredtes Zeugnis davon ab, dass die Kostenermittlung bereits in jener Zeit
eine wichtige Rolle spielte (vgl. Baum/Wagner 2001, Bolsenkötter 1998 und Gawel
1995). Auf der anderen Seite gab es in der einschlägigen Literatur zum Rechnungswesen öffentlicher Unternehmen doch erhebliche grundsätzliche Vorbehalte gegen-
über einer Verwendung von ökonomischen Kategorien wie Kosten und Nutzen, weil
diese Kategorien zu sehr auf die Wirtschaftlichkeit abzielten und dabei die eigentlichen gemeinwirtschaftlichen Ziele öffentlicher Unternehmen außer Acht ließen (vgl.
mon due to the lack of reliable figures.Fn Under these conditions, the goals of regulation were
frustrated; effective regulation requires commission control of accounting procedures" (Phillips 1993: S. 216, Fußnotentext weggelassen).
9 Zur Entwicklung der regulatorischen Einflussnahme auf die Kostenermittlung von den Anfängen US-amerikanischer Regulierung bis in die 1980er Jahre hinein vgl. Phillips (1993:
Kap. 6).
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Budäus 1987 und Oettle 1976).10 Alles in allem legen diese Beobachtungen den
Schluss nahe, dass auch in den öffentlichen Netzunternehmen Europas – analog zu
den regulierten privaten Netzunternehmen in den USA – die extern "aufgezwungenen" Zwecke die Kostenermittlung dominierten.11
2.3 Ordnungspolitische Bausteine der Liberalisierung der Netzindustrien
Liberalisierung ist ein vielschichtiges Phänomen. Die folgende Darstellung greift
drei Paradigmenwechsel heraus, die besonders charakteristisch für das Liberalisierungsphänomen in den Netzindustrien sind: den Paradigmenwechsel weg von einer
End zu End-Regulierung hin zu einer disaggregierten Regulierung (Abschnitt 2.3.1),
den Paradigmenwechsel weg von einer intransparenten internen oder externen Subventionierung defizitärer Leistungen hin zum Bestellerprinzip (Abschnitt 2.3.2) und
den Paradigmenwechsel weg von allzuständigen öffentlichen Unternehmen hin zur
Verlagerung der Leistungserstellung auf private Unternehmen (Abschnitt 2.3.3).
2.3.1 Paradigmenwechsel I: Beschränkung der Marktmachtregulierung auf monopolistische Bottlenecks
"Wenn einem Unternehmen ein ausschließliches Privileg verliehen wird, ein bestimmtes Gewerbe auszuüben, wie z.B. der Post die Beförderung von Briefen (...), so wird durch die
Schließung unmittelbar ein Monopol hergestellt" (Eucken 1990: S. 265).
Derartige ausschließliche Privilegien sind in einer Marktwirtschaft ein Fremdkörper.
Sie laufen dem Prinzip der offenen Märkte zuwider, das neben Geldwertstabilität,
Privateigentum, Vertragsfreiheit u.a. eines der konstituierenden Prinzipien einer
Wettbewerbsordnung ist (vgl. Eucken 1990: Kap. 16). Dieser Fremdkörper, insbesondere in Gestalt gesetzlicher Marktzutrittsschranken, war jedoch ein prägendes
Merkmal der meisten Netzsektoren vor der Marktöffnung. Und so war denn auch
10 "Auch in der öffentlichen Wirtschaft sind ähnliche Tendenzen der Unvernunft wirksam. Die
schlimmste von ihnen ist die, daß von öffentlichen Betrieben in immer stärkerem Maße unternehmensweises Verhalten verlangt wirdFn" (Oettle 1976: S. 137 f., Fußnotentext weggelassen). Zur ökonomischen Kritik an diesen Vorbehalten vgl. Weizsäcker (1987).
11 "Bei öffentlichen Unternehmen dient die Kostenrechnung jedoch nicht nur der internen Informationsgewinnung, sondern ist – wie z.B. bei Elektrizitätsunternehmen – Grundlage für
staatlich festzusetzende Preise. Die Kostenrechnung ist auf die nach außen gerichtete Dokumentation auszurichten. Sie entfaltet damit externe Rechtswirkungen. An eine solche Rechnung sind andere Forderungen zu stellen als an eine Kostenrechnung, die nur internen Aufgaben dientFn" (Zimmermann 1994: S. 259 f., Fußnotentext weggelassen).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für die in liberalisierten Netzindustrien aktiven Unternehmen sind Kosteninformationen insbesondere bei Preis- und Investitionsentscheidungen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus interessieren sich in zunehmendem Maße die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger für die Kosten der Netze, vor allem bei der Regulierung von Marktmacht und der Bestellung defizitärer Netzleistungen. Dies erfordert eine auf anerkannten ökonomischen Prinzipien basierende entscheidungsorientierte Kostenermittlung, die durchgängig und konsistent in allen Netzbereichen – seien sie nun wettbewerblich, reguliert oder subventioniert – anwendbar ist. Die vorliegende Habilitationsschrift will hierfür eine systematische methodische Grundlage legen.
Im Mittelpunkt steht die disaggregierte Ermittlung der Kapitalkosten. Es wird aufgezeigt, dass das Deprival value-Konzept bei der Kapitalkostenermittlung eine zentrale Rolle spielt. Darauf aufbauend wird ein analytischer Rahmen entwickelt, der das Zusammenspiel von Regulierung und Subventionierung (z.B. bei defizitären Eisenbahninfrastrukturen) normativ begründen kann.