170
sche Gesetzgeber hat 2007 in Art. 20-2 JGG Mindeststrafen („peines planchers“) gegen Minderjährige eingeführt, indem das Mindestmaß bei Straftaten Jugendlicher, die
mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, auf ein Jahr festgesetzt wird.770
7.8.3 Folgerungen für ein Europäisches Jugendstrafrecht unter besonderer
Berücksichtigung der internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit
Ein Europäisches Jugendstrafrecht kann auf die Maßnahme des Freiheitsentzugs auch
bei Straftaten junger Menschen nicht verzichten. Alle EU- Mitgliedsstaaten sehen eine
derartige Maßnahme vor. Die internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit
setzen sie implizit voraus.
Gemäß der rechtsverbindlichen Kinderrechtskonvention darf „Freiheitsentziehung oder Freiheitsstrafe bei einem Kind (d.h. bei einer Person unter 18 Jahren) im
Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit
angewendet werden“ – Art. 37 b S. 2 KRK.
Diese verbindliche Übereinkunft bei der Behandlung des Kindes im Strafrecht (Art.
40 KRK) zielt darauf ab, Freiheitsentzug junger Menschen in zweifacher Hinsicht zu
beschränken: bezüglich seiner Häu? gkeit („letztes Mittel“) und bezüglich seiner Dauer („für die kürzeste angemessene Zeit“). Damit ist für ein Europäisches Jugendstrafrecht ein zweifach bindender Milderungskurs vorgegeben. Zur Konkretisierung dieses
Milderungskurses zwingen nicht zuletzt die Rechts- und Praxisbefunde. Sie nähren die
Besorgnis, dass Freiheitsentzug bei jungen Menschen in Europa weder letztes Mittel
ist, noch dass er für die kürzeste angemessene Zeit verhängt wird.
7.8.3.1 Schwere der Vorsatztat als Anordnungsvoraussetzung für
Jugendfreiheitsstrafe
Ein Europäisches Jugendstrafrecht muss zuvörderst die Anordnungsmöglichkeiten
von Freiheitsstrafe bei Jugendlichen stärker einschränken als bei Erwachsenen. Das
heißt, ein einfaches Mildern der Strafdrohung genügt nicht. Der Rechtsvergleich legt
nahe, dass die Anordnung der Jugendfreiheitsstrafe in einem Europäischen Jugendstrafrecht von Zusatzkriterien abhängig gemacht werden kann, nämlich von Tataspekten (Schwere der Straftat/ Wiederholung) bzw. von Täteraspekten („Schädliche Neigungen“/ „Schwere der Schuld“).
Das steht im Einklang mit den internationalen Instrumenten zur Jugendgerichtsbarkeit, die einhellig den Ultima-ratio-Charakter der Freiheitsstrafe betonen:
Auf der Ebene der United Nations darf nach Art. 37 b S. 2 der Kinderrechtskonvention Freiheitsstrafe bei einem Kind … nur als letztes Mittel … angewendet werden; für Straftaten, die von Personen vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs
begangen worden sind, darf lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit vorzei-
770 Dazu Detrick et al (Hrsg.), Violence Against Children in Con? ict with the Law, 2008, S. 49.
171
tiger Entlassung nicht verhängt werden, Art. 37 a KRK. Nach den Mindestgrundsätzen der United Nations für die Jugendgerichtsbarkeit (Beijing-Rules) hat die stationäre Unterbringung des Jugendlichen stets als letztes Mittel zu gelten (Rule 19.1).
Nach den Regeln der United Nations zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug soll dieser bei Jugendlichen nur als letztes Mittel in Betracht kommen
(Rule 2).
Dieser Kurs wird insbesondere auf der Ebene der Europäischen Union weiterverfolgt: Der Europäische Parlamentsbericht über Jugenddelinquenz von 2007
betont, dass bei jugendlichen Straftätern „jede Inhaftierung nur als letzter Ausweg …
gesehen werden sollte“.771 In diesem Zusammenhang wird als moderne legislative
Maßnahme die „Entinstitutionalisierung“ genannt,772 was als „Vermeidung von Freiheitsstrafe in Besserungs- oder Haftanstalten“ de? niert wird.773
Eine Konkretisierung der Zusatzkriterien enthalten auf internationaler Ebene (nur)
die Mindestgrundsätze der United Nations für die Jugendgerichtsbarkeit unter
dem Regelungsabschnitt „Leitgrundsätze für die Entscheidung“. Dort heißt es: „Freiheitsentzug wird nur angeordnet, wenn der Jugendliche einer schweren Gewalttat gegen eine Person oder mehrfach wiederholter anderer schwerer Straftaten für schuldig
befunden worden ist …“ (Beijing-Rule 17.1 c).
Die Beijing-Rules heben also den Tataspekt der schweren Gewalttat hervor und
bringen die Schuld i.S. eines Täteraspekts allein mit der mehrfachen Wiederholung
schwerer Straftaten in Zusammenhang, was letzteres ebenfalls zu einem Tataspekt
werden lässt.
Mit den Mindestgrundsätzen der United Nations für die Jugendgerichtsbarkeit hat
ein Europäisches Jugendstrafrecht folglich nicht auf Täteraspekte zur Anordnung von
Jugendfreiheitsstrafe abstellen, sondern allein auf Tataspekte.
Für ein reines Abstellen auf Tataspekte spricht auch, dass gewisse Täterpersönlichkeitsaspekte – besonders die „schädlichen Neigungen“ im Sinne des deutschen Jugendstrafrechts – auf überholten biologischen Kriminalitätstheorien basieren774 und
eine hohe Stigmatisierungswirkung haben.775 Weniger stigmatisierende Täteraspekte
sind zwar denkbar, etwa eine „Behandlungsbedürftigkeit“. Jedoch sind auch solche
Kriterien als Anordnungsvoraussetzungen für Jugendfreiheitsstrafe untauglich. Sie
bergen die Gefahr, Freiheitsentzug pädagogisch zu überhöhen, zumal sich Beijing-
Rule 19.1 aufgrund der Wortwahl „stationäre Unterbringung“ gegen die Verhängung
von Freiheitsentzug aus pädagogischen Motiven ausspricht.
Als weiteres einschränkendes Kriterium bietet sich für ein Europäisches Jugendstrafrecht an, die Anordnung von Jugendfreiheitsstrafe in Anlehnung an das spanische
JGG bei Fahrlässigkeitsdelikten auszuschließen.
771 Europäischer Parlamentsbericht (2007/2011 (INI)), Ziffer 21.
772 Europäischer Parlamentsbericht (2007/2011 (INI)), Ziffer 19.
773 Europäischer Parlamentsbericht (2007/2011 (INI)), „Begründung“, S. 17.
774 Zur Theorie über den „geborenen Verbrecher“ s. oben Kap. 7.3.
775 S. Ostendorf, Jugendstrafrecht, 2007, Rn 212; Böhm/Feuerhelm, Jugendstrafrecht, 2004, S. 220:
„etwas entgültig Abstempelndes“ ; Deichsel ZJJ 2004, 266.
172
Für ein Europäisches Jugendstrafrecht kristallisiert sich damit ein Norminhalt in
der Form heraus, dass Jugendfreiheitsstrafe angeordnet werden kann, wenn der Jugendliche eine Straftat gegen das Leben oder ein anderes schwerstes Gewaltverbchen
vorsätzlich begangen hat oder wenn der Jugendliche mehrfach wegen anderer schwerer Straftaten verurteilt wurde und ambulante Maßnahmen zur Verhinderung vergleichbarer Taten nicht ausreichen werden.
7.8.3.2 Maximaldauer der Jugendfreiheitsstrafe von 10 Jahren
Der Rechtsvergleich hat massive Unterschiede bei der Höchstdauer der Jugendfreiheitsstrafe in Europa gezeigt. Sie reicht von 2 Jahren in den Niederlanden über 10
Jahre in Deutschland, Spanien und Tschechien, 15 Jahre in Österreich und 20 Jahre in
Frankreich bis hin zu „Lebenslang“ in England. Wegen dieser Differenzen kann sich
einer Freiheitsentzugsobergrenze für ein Europäisches Jugendstrafrecht allein mit Hilfe der internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit genähert werden.
Auf internationaler Ebene ? ndet sich in den „Haupt“-Instrumenten zur Jugendgerichtsbarkeit keine konkrete Zahl. Gemäß Art. 37 b der Kinderrechtskonvention darf
„Freiheitsentziehung oder Freiheitsstrafe“ bei unter 18Jährigen „nur für die kürzeste
angemessene Zeit“ angewendet werden. Nach den Mindestgrundsätzen der United
Nations für die Jugendgerichtsbarkeit („Beijing-Rules“) darf „die stationäre Unterbringung des Jugendlichen … nicht länger als absolut nötig angeordnet werden“ (Beijing-Rule 19.1). Nach den Regeln der United Nations zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug („Havana-Rules“) soll „Freiheitsentzug bei Jugendlichen
… nur für die kürzestmögliche Dauer in Betracht kommen“ (Havana-Rule 2).
Nach der Europaratsempfehlung (Rec. No. 1987 20) über die gesellschaftlichen
Reaktionen auf Jugendkriminalität ist „für Fälle, in denen nach innerstaatlichem
Recht eine Freiheitsstrafe nicht vermieden werden kann, ein der Situation der Minderjährigen angemessenes Strafniveau zu entwickeln …“.776
Eine für Jugendliche konkrete Maximaldauer des Freiheitsentzugs nennt allein das
UN-Modellgesetz zur Jugendgerichtsbarkeit. Nach Art. 4.2.-15 darf die Höchstfreiheitsstrafe 15 Jahre nicht übersteigen.777
Daraus folgt, dass lebenslanger Freiheitsentzug – wie ihn England ermöglicht – und
ein Freiheitsentzug von 20 Jahren – wie ihr Frankreich vorsieht – aus internationaler
Sicht nicht akzeptabel ist. Aus spezi? sch europäischer Sicht scheint allerdings die
Höchstgrenze von 15 Jahren, die das unter der Schirmherrschaft der United Nations
erstellte, aber nicht formal gebilligte Modellgesetz enthält, gleichermaßen überhöht.
Das verdeutlicht die nachfolgende Synopse zum Maximalfreiheitsentzug für junge
Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten.
776 Rec. No. (1987) 20, Ziffer 16.
777 UN-Modellgesetz zur Jugendgerichtsbarkeit, Art. 4.2.-15: „The juvenile assize court cannot condemn the criminal defendant to a perpetual custodial sentence, and the maximum custodial sentence, when it is incurred, must not exceed 15 years.“
173
Maximaldauer des Freiheitsentzugs
in Jahren (und Regelhöchstdauer) EU-Mitgliedsstaat
4 (2) (1)778 Niederlande
5 Irland
8 Dänemark
10
10 (5)
10
10
10
10
10 (6, 5, 3)
10 (5)
Bulgarien
Deutschland
Estland
Litauen
Slowakei
Slowenien
Spanien
Tschechien
12 Finnland
15
15 (20)779
15
15
Lettland
Österreich
Rumänien
Ungarn
18 Schweden
20
20 (10)
Frankreich
Griechenland
Lebenslang
Lebenslang
Lebenslang
Belgien780
England
Zypern
Fakultative Milderung um 1/2
?
?
Milderung um 1/3
?
Italien
Luxemburg
Malta
Polen
Portugal
Klammert man mit den Vorgaben der internationalen Instrumente Freiheitsentzug bei
jungen Menschen aus, der länger als 15 Jahre bis lebenslang dauert, dann zeigt die
Synopse, dass nur in vier Ländern die Obergrenze bei 15 Jahren liegt. In zwölf Ländern und damit in der absoluten Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten liegt sie darunter.
Zöge man das UN-Modellgesetz als Grundlage für ein Europäisches Jugendstrafrecht
heran, würde eine Harmonisierung in der Europäischen Union auf dem punitivsten
Nenner erfolgen. Das ist von den Mehrheitsverhältnissen nicht gedeckt. Durchschnittlich liegt der Maximalfreiheitsentzug bei 10 Jahren. Dieser Durchschnittswert spiegelt
sich zugleich in dem größten homogenen Länder-Block wieder, wonach acht EU-Mitgliedsstaaten781 eine absolute Obergrenze von 10 Jahren gewählt haben. Zu dieser
Ländergruppe zählen Deutschland, Spanien und Tschechien. Der Rechtsvergleich die-
778 Maximum für 12 – 16jährige; 4 Jahre bei Sicherungsverwahrung.
779 Maximum für Jungerwachsene
780 Ab dem 16. Lebensjahr zur Zeit der Entscheidung des Erwachsenenstrafgerichts.
781 Bulgarien, Deutschland, Estland, Litauen, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien.
174
ser drei Länder hat gezeigt, dass sich die 10-Jahresgrenze darüber hinaus auf die Ausnahmefälle von Schwerstverbrechen beschränkt. In der Regel beträgt das zeitliche
Maximum, in welchem einem straffällig gewordenen Jugendlichen die Freiheit entzogen werden kann, lediglich 5 Jahre. Das Mehrheitskriterium legt die Übernahme der
5- und 10-Jahresgrenzen in einem Europäischen Jugendstrafrecht nahe. Dafür spricht
auch die jüngere Rechtsentwicklung in Europa i.S. einer aktuellen Akzeptanz, weil die
genannten Fixpunkte in Spanien 2001 bzw. 2006 und in Tschechien 2004 in den Jugendgerichtsgesetzen implementiert wurden. Hinzu kommt die Ausbildung der
Spruchpraxis in Deutschland, wo die Fixpunkte seit geraumer Zeit bestehen: Seit dem
Ende der 80er Jahre werden jährlich weniger als 100 Personen zu einer Jugendfreiheitsstrafe von über 5 Jahren verurteilt. Das sind weniger als 0,05% aller nach Jugendstrafrecht Sanktionierten und unter 1% der zu einer Jugendfreiheitsstrafe Verurteilten.
Insbesondere die durch Gesetz vorgesehene Jugendhöchststrafe von 10 Jahren verhängen die deutschen Jugendgerichte extrem selten, wie das nachstehende Schaubild
zeigt:782
Verurteilungen zur Jugendhöchststrafe von 10 Jahren
Zu Jugendstrafe Verurteilte insgesamt
Davon zu 10 Jahre Höchststrafe
Verurteilte
Jahr n %
1991 12938 10 0,08
1992 13040 5 0,04
1993 13991 10 0,07
1994 13998 2 0,01
1995 13880 13 0,09
1996 15146 5 0,03
Innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren (1987 – 1996) wurden insgesamt 74 Personen zu dieser Höchststrafe verurteilt. Das sind pro Jahr zwischen einer und 13 Personen.783
Neben diesen formalen Argumenten (Mehrheitsverhältnis, Rechtsentwicklung, Justizpraxis) sprechen auch wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie, der Sanktions- und Gefängnisforschung sowie der Kriminologie dafür, dass ein
Europäisches Jugendstrafrecht für den Freiheitsentzug junger Menschen in der Regel
maximal 5, im Ausnahmefall maximal 10 Jahre vorsehen sollte:
Für junge Menschen hat „Zeit“ eine andere Dimension als für Erwachsene. Ihr Zeitleben ist auf kürzere Zeitabstände eingestellt; sie erleben die Jugendphase im „Zeitraffer“, weshalb ein halbes Jahr eine halbe Ewigkeit bedeutet. Bewusstseinspsychologisch folgt daraus, dass ein für Jugendliche und Erwachsene in Jahreszahlen gleich
bemessener Freiheitsentzug von Jugendlichen qualitativ länger erfahren wird als von
782 Quelle: Schulz, Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht, 2000, S. 97.
783 Zum Ganzen Schulz MschrKrim 2001, 311.
175
Erwachsenen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht kommt hinzu, dass die Jahre
der Jugendphase für die Persönlichkeitsentwicklung in ganz besonderem Maße prägend sind, weil in dieser Zeit entscheidende Weichenstellungen für das spätere Leben
getroffen werden. Muss ein junger Mensch gerade in dieser Zeit eine sehr lange Freiheitsstrafe verbüßen, birgt das die Gefahr, dass eine gesellschaftliche Wiedereingliederung nicht erreicht wird. Nach der Europaratsempfehlung (Rec. No. 2003 20) zu
neuen Wegen im Umgang mit Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit sind (Re-)Sozialisierung und (Wieder-)Eingliederung als Hauptziele der
Jugendgerichtsbarkeit speziell bei freiheitsentziehenden Maßnahmen zu berücksichtigen.784 Auf der Grundlage einer (Wieder-) Eingliederungsstrategie sollen ab dem ersten Tag der Haft Vorbereitungen für die Entlassung getroffen werden.785 Die Formulierung „ab dem ersten Tag“ und das Erfordernis einer „Wiedereingliederungsstrategie“ machen deutlich, dass (Re-)Sozialisierung nach den internationalen Vorgaben
voraussetzt, dass sie von der Dauer her gesehen (noch) möglich ist.
Unter dieser Maßgabe scheint in der Sanktionsforschung Einigkeit darüber zu bestehen, dass eine positive Einwirkung auf junge Menschen in einer geschlossenen Anstalt nur bis zu einer Zeitspanne von maximal 5 Jahren möglich ist. Nach diesem Zeitraum sind vor dem Hintergrund der Deprivation und Hospitalisierung des Strafvollzugs, der Gefangenengesellschaft und der Gefängnissubkultur die entsozialisierenden
Wirkungen größer als die resozialisierenden. Die Gefängnisforschung spricht schlagwortartig von der „Prisonisierung“.786 Prisonisierung meint Anpassung und Gewöhnung an die Wertvorstellungen der Gefängnissubkultur, welche zu denen der übrigen
Gesellschaft im Widerspruch stehen; ferner die Übernahme delinquenten Verhaltens
i.S. „krimineller Ansteckung“ (Gefängnis als „Schule des Verbrechens“). Der of? zielle Kommentar zu den Beijing-Rules weist in diesem Zusammenhang darauf hin,
dass eine noch so fürsorgliche Behandlung die vielen schädlichen Ein? üsse nicht ausgleichen könne, denen in Anstalten untergebrachte Personen ausgesetzt seien.787 Unerwünschte Prisonisierungseffekte treten nach dem Kommentar vor allem bei Jugendlichen unweigerlich auf, weil sie negativen Ein? üssen gegenüber besonders anfällig
seien.788
Auch die kriminologischen Erkenntnisse über die Abhängigkeit von Kriminalität
und Alter („Alterskriminalitätskurve“) lassen sich für die herausgearbeiteten Maximmalgrenzen heranziehen:789 Da es als gesichertes Wissen gelten kann, dass die Kriminalitätsauffälligkeit circa nach dem 25. Lebensjahr wieder abnimmt, erscheint eine
gesetzlich bestimmte Maximalhöhe, die einen jungen Menschen weit über diesen Lebensabschnitt in Haft hält, unverhältnismäßig.
784 S. Rec. No. (2003) 20, Ziffer 1 ii iVm Ziffer 19 und 20.
785 S. Rec. No. (2003) 20, Ziffer 19 und 20.
786 Der Begriff geht zurück auf Clemmer, 1958 und Wheeler American Sociological Review 1961,
697 ff.
787 S. Kommentar zu den Beijing-Rules, ZStW (99) 1987, 276.
788 S. Kommentar zu den Beijing-Rules, ZStW (99) 1987, 277.
789 Zur Alters-Kriminalitäts-Kurve s. oben Kap. 3.2.
176
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Europäisches Jugendstrafrecht die
Maximaldauer des Freiheitsentzugs in der Regel auf 5 Jahre, im Ausnahmefall auf 10
Jahre beschränken sollte.
7.8.3.3 Erhöhtes Mindestmaß von sechs Monaten
Der Rechtsvergleich hat gezeigt, dass in Europa unterschiedliche Modelle zum Mindestmaß von Freiheitsentzug bei jungen Menschen existieren. Beispielsweise kann
Freiheitsstrafe in den Niederlanden nur einen Tag betragen. Demgegenüber sehen
Deutschland ein erhöhtes Mindestmaß von 6 Monaten, England von 2 Monaten und
Spanien und Tschechien von einem Jahr bei der Jugendfreiheitsstrafe vor.
Fraglich ist, ob ein Europäisches Jugendstrafrecht ein erhöhtes Mindestmaß implementieren sollte.
Die internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit gehen auf diese Frage
nicht unmittelbar ein, betonen nur die Kürze des Freiheitsentzugs an sich. Die Resolution des Europarats (Res. No. 1966 25) zur Kurzzeitbehandlung junger, unter
21jähriger Straftäter emp? ehlt, dass „wann immer angebracht und möglich, Kurzzeitmethoden der stationären Behandlung für junge Straftäter der Vorzug gegeben werden sollte vor Langzeitmethoden.790
Allerdings wird auch hier nicht de? niert, was „kurz“ oder „lang“ meint. Da die
Sanktionsforschung gegenwärtig nicht feststellen kann, ob ein längerer oder kürzerer
Strafvollzug größere Aussicht auf eine (Re-)Sozialisierung verspricht,791 sollte ein
Europäisches Jugendstrafrecht ein erhöhtes Mindestmaß implementieren. Wegen der
wissenschaftlichen Unsicherheiten und der gegebenen Spannbreite von einem Tag bis
zu einem Jahr bietet sich die 6-Monatsgrenze entsprechend des deutschen Jugendstrafrechts als Mittelwert an.
Für ein erhöhtes Mindestmaß spricht auch, dass damit die Hemmschwelle zur Verhängung von Freiheitsentzug erhöht wird und umgekehrt im Falle eines Verzichts auf
ein Mindestmaß die Gefahr einer Stra? n? ation im Raum steht, die speziell für diejenigen EU-Mitgliedsstaaten zu befürchten wäre, die bis dato mit einem erhöhten Mindestmaß operiert haben. Ein erhöhtes Mindestmaß betont den Ultima-ratio-Charakter
von Freiheitsstrafen und korreliert mit den Deliktstypen, auf welche ein Europäisches
Jugendstrafrecht die Jugendfreiheitsstrafe materiell beschränken sollte. Bei vorsätzlichen Schwerstverbrechen und wiederholt schweren Straftaten kommt Freiheitsentzug
von ein paar Tagen oder Wochen ohnehin nicht in Betracht.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Europäisches Jugendstrafrecht ein
erhöhtes Mindestmaß von 6 Monaten für die Jugendfreiheitsstrafe implementieren
sollte.
790 Übersetzung des Verfassers; s. Res. No. (1966) 20, Buchstabe a): „Recommends that: (a) Whenever appropriate and possible, short-term methods of institutional treatment for young offenders
should be used in preference to long-term methods.“
791 Ostendorf, JGG 2007, § 18 Rn 10 mwN.
177
In der Gesamtschau muss ein Europäisches Jugendstrafrecht einen Schonraum bei
der Jugendfreiheitsstrafe auf folgende Weise schaffen:
7.8.4 Normbefehl eines Europäischen Jugendstrafrechts
Ein Europäisches Jugendstrafrecht muss die Anordnungsvoraussetzungen der Jugendfreiheitsstrafe restriktiv gestalten und ihre Dauer beschränken. Anknüpfungspunkte
dürfen allein die Schwere der Tat und die mehrfach wiederholte Tatbegehung sein.
Dabei muss zwischen schwersten Gewalttaten gegen Personen und anderen schweren
Straftaten differenziert werden. Bei ersteren genügt die einmalige Tatbegehung, bei
letzteren muss eine wiederholte Tatbegehung vorliegen, weshalb Jugendfreiheitsstrafe
bei wiederholten Bagatelltaten ausscheidet. Unter Einbezug der notwendigen Beschränkung der Dauer einer Jugendfreiheitsstrafe bietet sich für ein Europäisches Jugendstrafrecht folgender Norminhalt an:
(I) Jugendfreiheitsstrafe kann verhängt werden, wenn der Jugendliche
1. eine Straftat gegen das Leben oder eine andere schwerste Gewaltstraftat gegen
eine Person vorsätzlich begangen hat
oder
2. mehrfach wegen anderer schwerer Straftaten verurteilt wurde, ambulante Maßnahmen sich bisher als erfolglos erwiesen haben und auch künftig zur Verhinderung
vergleichbarer Taten nicht ausreichen.
(II) Das Mindestmaß der Jugendfreiheitsstrafe beträgt sechs Monate. Das Höchstmaß beträgt in den Fällen Nr. 1 und Nr. 2 in der Regel fünf Jahre, in Ausnahmefällen
der Nr. 1 zehn Jahre.
(III) Bei der Bemessung der Jugendfreiheitsstrafe sind die positiven und negativen
Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Jugendlichen in der Gesellschaft zu erwarten sind.
7.8.5 Verkürzter Freiheitsentzug eigener Art als „short sharp shock“
Da ein Europäisches Jugendstrafrecht ein erhöhtes Mindestmaß der Jugendfreiheitsstrafe von sechs Monaten vorsehen soll, stellt sich die Frage, ob es im Gegenzug eine
Sonderform des kurzen Freiheitsentzugs bereitstellen sollte.
Kurzfristiger Freiheitsentzug könnte auf den betroffenen Jugendlichen einen kurzen, heftigen Eindruck machen und ihn davon abhalten, weitere Straftaten zu begehen.
Im Sinne eines Denkzettels könnte dem Jugendlichen vor Augen geführt werden, was
auf ihn zukommt, wenn er nicht zu einer Verhaltensänderung bereit ist. Damit käme
dem Kurzfreiheitsentzug die Funktion eines Schockvermittlers zu. Als zusätzliche
Vorstufensanktion zur Jugendfreiheitsstrafe könnte die Sanktionsspirale verlängert,
die Verhängung der Jugendfreiheitsstrafe verzögert werden. Fraglich ist, ob derartige
Überlegungen von den Jugendstrafrechtssystemen der EU-Mitgliedsstaaten gestützt
werden.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.