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7.8.2 Rechts- und Justizpraxisentwicklung
In Deutschland beruhen Voraussetzungen und Dauer der Jugendstrafe im Wesentlichen auf dem JGG von 1953, wobei die „schädlichen Neigungen“ schon in Zeiten des
Nationalsozialismus (1941) eingeführt wurden. Vorbild war das österreichische JGG,
nach dem „kriminelle Neigungen“ Voraussetzung für eine Freiheitsstrafe waren. Während der deutsche Gesetzgeber die schädlichen Neigungen durch das 1. JGGÄndG von
1990 weitergelten lässt, hat der österreichische Gesetzgeber die Anordnungsvoraussetzung der kriminellen Neigungen gestrichen. Die deutsche (Kriminal-)Politik fordert, das Höchstmaß der Jugendstrafe auf 15 Jahre heraufzusetzen,762 was der gegenwärtigen Regelung in Österreich entsprechen würde.
Statistisch ergibt sich in der deutschen Justizpraxis folgendes Bild für die Jugendstrafe:
Anzahl der zu Jugendstrafe Verurteilten an allen nach dem JGG Verurteilten763
Nach Jugendstrafrecht
Verurteilte insgesamt
Davon zu Jugendstrafe
Verurteilte
Jahr absolut %
1970 89593 11687 13,0
1980 132649 17982 13,6
1985 119126 17672 14,8
1990 77274 12103 15,7
1995 76731 13880 18,1
2000 93840 17753 18,9
2003 101562 17288 17,0
2004 105523 17419 16,5
2005 106655 16641 15,6
2006 105902 16886 15,9
Das Schaubild zeigt, dass die Jugendstrafe im Verhältnis zu anderen Sanktionen aus
dem JGG ein nicht unerhebliches Gewicht hat.
762 Gesetzesanträge der Bayerischen Staatsregierung, BR-Drucks. 662/67, 449/99 und gemeinsam
mit der Sächsischen Landesregierung BR-Drucks. 459/98.
763 Ausgangsquelle: Ostendorf, JGG 2007, Grdl. z. §§ 5-8, Rn. 4; für die Jahre 2005 und 2006 s.
Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, Rechtsp? ege, Strafverfolgung.
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Jugendstrafen nach Strafhöhe in Prozent764
Jahr 6 Monate – 1 Jahr
1 Jahr –
2 Jahre
2 Jahre –
5 Jahre
5 Jahre –
10 Jahre
1960 82,1% 14,4% 3,3% 0,2%
1970 76,1% 18,9% 4,5% 0,4%
1980 72,2% 20,4% 6,7% 0,7%
1985 65,8% 24,9% 8,5% 0,8%
1990 62,2% 28,0% 8,8% 0,6%
1995 56,8% 32,4% 10,2% 0,6%
2000 54,9% 33,8% 10,8% 0,5%
2003 54,1% 34,4% 10,9% 0,6%
2004 54,9% 33,8% 10,7% 0,6%
2005 54,0% 34,4% 11,1% 0,5%
2006 53,7% 33,9% 11,8% 0,5%
Das Schaubild zeigt, dass größtenteils Jugendstrafen zwischen 6 Monaten und einem Jahr ausgesprochen werden.
Beide Schaubilder zeigen, dass die deutsche Justizpraxis in den letzten Jahren zu
deutlich mehr und deutlich höheren Jugendstrafen tendiert.
Gleiche Tendenzen ? nden sich in England, was die nachstehenden Schaubilder
aufzeigen:765
764 Ausgangsquelle Ostendorf, JGG 2007, Grdl. z. §§ 17-18, Rn 5; für die Jahre 2005 und 2006 s.
Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, Rechtsp? ege, Strafverfolgung.
765 Quelle: Audit Commission, Youth Justice, 2004, Schaubilder 14 und 15.
169
Vor der Einführung der Detention and Training Order (1994) konnten Kindern und
Jugendlichen im Alter unter 15 Jahren nicht die Freiheit entzogen werden, wenn sie
eine Straftat begangen hatten, die kein Kapitaldelikt war. Mit der DTO wurde die Altersgrenze auf 12 Jahre gesenkt. Zwischen 1994 und 2004 stieg die Population in Jugendstrafanstalten um 90%,766 wobei vorgebracht wird, dass die freiheitsentziehende
DTO zunehmend ambulante Maßnahmen ersetze.767
Eine Verschärfung des Freiheitsentzugs bei jungen Menschen durch Gesetz lässt
sich in den Niederlanden, Spanien und Frankreich beobachten: Mit der Jugendstrafrechtsreform von 1995 wurde in den Niederlanden das Freiheitsentzugsmaximum
verdoppelt, d.h. bei 14- und 15Jährigen von 6 Monaten auf 1 Jahr, bei den älteren Jugendlichen von einem Jahr auf zwei Jahre.768 Der spanische Gesetzgeber erhöhte
2006 die Obergrenze des Freiheitsentzugs bei den verschiedenen Altersklassen jeweils
um zwei Jahre; parallel wurden die Anordnungsmöglichkeiten dahingehend erweitert,
dass neben dem ehemals auf Gewalttaten beschränkten Straftatenkatalog nunmehr
auch weniger schwere Delikte, eine gemeinschaftliche Tatbegehung sowie eine (blo-
ße) Bandenmitgliedschaft Freiheitsentzug nach sich ziehen können.769 Der französi-
766 Detrick et al (Hrsg.), Violence Against Children in Con? ict with the Law, 2008, S. 44 unter Hinweis auf NACRO, Reducing Child Imprisonment, 2005.
767 Graham/ Moore in: International Handbook of Juvenile Justice, hrsg. von Junger-Tas/Decker,
2006, S. 87.
768 Dazu Detrick et al (Hrsg.), Violence Against Children in Con? ict with the Law, 2008, S. 53.
769 Ausführlich Sánchez Lázaro ZIS 2/2007, 62 f.
170
sche Gesetzgeber hat 2007 in Art. 20-2 JGG Mindeststrafen („peines planchers“) gegen Minderjährige eingeführt, indem das Mindestmaß bei Straftaten Jugendlicher, die
mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, auf ein Jahr festgesetzt wird.770
7.8.3 Folgerungen für ein Europäisches Jugendstrafrecht unter besonderer
Berücksichtigung der internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit
Ein Europäisches Jugendstrafrecht kann auf die Maßnahme des Freiheitsentzugs auch
bei Straftaten junger Menschen nicht verzichten. Alle EU- Mitgliedsstaaten sehen eine
derartige Maßnahme vor. Die internationalen Instrumente zur Jugendgerichtsbarkeit
setzen sie implizit voraus.
Gemäß der rechtsverbindlichen Kinderrechtskonvention darf „Freiheitsentziehung oder Freiheitsstrafe bei einem Kind (d.h. bei einer Person unter 18 Jahren) im
Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit
angewendet werden“ – Art. 37 b S. 2 KRK.
Diese verbindliche Übereinkunft bei der Behandlung des Kindes im Strafrecht (Art.
40 KRK) zielt darauf ab, Freiheitsentzug junger Menschen in zweifacher Hinsicht zu
beschränken: bezüglich seiner Häu? gkeit („letztes Mittel“) und bezüglich seiner Dauer („für die kürzeste angemessene Zeit“). Damit ist für ein Europäisches Jugendstrafrecht ein zweifach bindender Milderungskurs vorgegeben. Zur Konkretisierung dieses
Milderungskurses zwingen nicht zuletzt die Rechts- und Praxisbefunde. Sie nähren die
Besorgnis, dass Freiheitsentzug bei jungen Menschen in Europa weder letztes Mittel
ist, noch dass er für die kürzeste angemessene Zeit verhängt wird.
7.8.3.1 Schwere der Vorsatztat als Anordnungsvoraussetzung für
Jugendfreiheitsstrafe
Ein Europäisches Jugendstrafrecht muss zuvörderst die Anordnungsmöglichkeiten
von Freiheitsstrafe bei Jugendlichen stärker einschränken als bei Erwachsenen. Das
heißt, ein einfaches Mildern der Strafdrohung genügt nicht. Der Rechtsvergleich legt
nahe, dass die Anordnung der Jugendfreiheitsstrafe in einem Europäischen Jugendstrafrecht von Zusatzkriterien abhängig gemacht werden kann, nämlich von Tataspekten (Schwere der Straftat/ Wiederholung) bzw. von Täteraspekten („Schädliche Neigungen“/ „Schwere der Schuld“).
Das steht im Einklang mit den internationalen Instrumenten zur Jugendgerichtsbarkeit, die einhellig den Ultima-ratio-Charakter der Freiheitsstrafe betonen:
Auf der Ebene der United Nations darf nach Art. 37 b S. 2 der Kinderrechtskonvention Freiheitsstrafe bei einem Kind … nur als letztes Mittel … angewendet werden; für Straftaten, die von Personen vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs
begangen worden sind, darf lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit vorzei-
770 Dazu Detrick et al (Hrsg.), Violence Against Children in Con? ict with the Law, 2008, S. 49.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.