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Die Kompetenz zur intervenierenden Diversion sollten Staatsanwaltschaft und Gericht haben, wobei die Einwilligung des Jugendlichen zwingende Voraussetzung ist
(konsensuales Diversionsverfahren). Für EU-Mitgliedsstaaten, in denen die Polizei
staatsanwaltliche Funktionen wahrnimmt, kann die Kompetenz auf die Polizei übertragen werden.
Der Maßnahmenkatalog sollte breit gefächert sein und sich auf restaurative Projekte konzentrieren, wobei die Ermahnung als selbständige Maßnahme aufzuführen ist.
Die nichtintervenierende Diversion sollte auf allen Ebenen (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht) möglich sein. Auf polizeilicher Ebene ist sie auf geringfügige Ladendiebstähle und Leistungserschleichungen in öffentlichen Verkehrsmitteln zu beschränken, wobei ein Registereintrag ausgeschlossen ist.
7.6 Soll ein materieller strafjustizieller Schonraum für die Jugendphase
geschaffen werden?
Die Ausführungen zur Schaffung eines formellen strafjustiziellen Schonraums haben
gezeigt, dass die Justizpraxis der EU-Mitgliedsstaaten vor allem bei Bagatellkriminalität junger Menschen von einer prozessualen Entkriminalisierung im Wege der Diversion geprägt ist, die mit einem Europäischen Jugendstrafrecht übernommen und konkretisiert werden muss.670
Jedoch darf der Endeffekt nicht aus den Augen verloren werden, der damit eintritt:
Die gesetzlichen Strafandrohungen werden „praktisch“ aufgehoben durch eine
„Flucht“ ins Prozessrecht. Der Rückzug hat seine Berechtigung in der Normalität, Bagatellität und Episodenhaftigkeit des Großteils der Jugendkriminalität.671
Obwohl Diversion prinzipiell anzuerkennen ist, birgt sie Spezialprobleme in Gestalt der Gleichbehandlung, der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK/ Art. 40
Abs. 2 b i KRK), des Richtervorbehalts (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK), der Gewaltenteilung, der Gesetzesbindung staatlicher Gewalt sowie der Gegenüberstellung von Legalitäts- versus Opportunitätsprinzip. Die offene Fragestellung „Diverting Juveniles –
Diverting Justice?“ bringt diese Überlegungen auf den Punkt.672
Die Spezialprobleme potenzieren sich auf europäischer Ebene, weil die Rechtssysteme, die „Staatsverfassungen“ der EU-Mitgliedsstaaten gerade in dieser Hinsicht sehr
unterschiedlich ausgestaltet sind. Ein Europäisches Jugendstrafrecht kann diese Probleme mit einer Konkretisierung der Diversion durch Schaffung eines konsensualen,
auf Freiwilligkeit basierenden Diversionsverfahrens und durch eine klare Differenzierung zwischen intervenierender und nichtintervenierender Diversion auf verschiedenen Ebenen kanalisieren, aber nicht völlig beseitigen.673
670 S. oben Kap. 7.5.
671 S. oben Kap. 7.3.2.
672 Hine WebJCLI(2) 2007.
673 S. dazu Kap. 7.5.4.2.
150
Aus diesem Grunde und aufgrund der Tatsache, dass die Justizpraxis bei ungefähr
jedem zweiten straffällig gewordenen jungen Menschen eine Reaktion mit dem Jugendstrafrecht als schärfstem Mittel der Sozialkontrolle für unangemessen und kontraproduktiv hält, stellt sich die Frage, ob ein Europäisches Jugendstrafrecht nicht
gleich(zeitig) einen materiellen strafjustiziellen Schonraum für die Jugendphase schaffen sollte. Gemeint ist die materiell-rechtliche Entkriminalisierung bei den Straftatvoraussetzungen, d.h. Rücknahme des materiellen Strafrechts bei jungen Menschen.
Fraglich ist, ob sich dafür Ansatzpunkte in den Jugendstrafrechtssystemen der EU-
Mitgliedsstaaten ? nden lassen.
7.6.1 Rechtsvergleich
Alle hier näher verglichene Jugendstrafrechtssysteme674 bauen auf dem allgemeinen
Strafrecht auf. Die Straftatbestände des allgemeinen Strafgesetzbuchs gelten für alle,
sofern nicht ausdrücklich Altersbeschränkungen aufgestellt werden.675 Die Frage,
wann ein Verhalten zur Straftat wird, was beispielsweise eine Körperverletzung, ein
Diebstahl, ein Raub oder eine Sachbeschädigung ist, wird jeweils vom allgemeinen
Strafrecht vorgegeben und beantwortet.
Für die Niederlande – wo kein spezielles Jugendgerichtsgesetz existiert – geht das
bereits aus der Regelungstechnik hervor, mit der alle Sonderregeln für Straftaten Jugendlicher im allgemeinen StGB inkorporiert sind.
Für Deutschland folgt das aus § 1 Abs. 1 JGG, der für den sachlichen Anwendungsbereich des Jugendgerichtsgesetzes zwar von „Verfehlungen“ spricht, damit
aber diejenigen Verhaltensweisen meint, „die nach den allgemeinen Vorschriften mit
Strafe bedroht“ sind. Zudem stellt § 4 JGG klar, dass sich die „rechtliche Einordnung
der Taten Jugendlicher“ „nach den Vorschriften des allgemeinen Strafrechts“ richtet.
Gleichwohl könnte ein Ansatzpunkt zur materiellen Entkriminalisierung darin gesehen
werden, dass der deutsche Gesetzgeber in § 1 Abs. 1 JGG bewusst nicht von „Straftaten“, sondern von „Verfehlungen“ spricht, sich also bei jungen Menschen in der Terminologie zurücknimmt. Ein weiterer Ansatzpunkt liegt in § 3 JGG (bedingte
Strafverantwortlichkeit),676 der im JGG eine (einzige) Bestimmung offenbart, mit der
die Straftatvoraussetzungen abweichend vom Erwachsenenstrafrecht geregelt werden.
Materiell muss die Schuld jedes Jugendlichen positiv festgestellt werden.
Unter diesem Gesichtspunkt dürfte auch der tschechische Gesetzgeber einer materiellen Entkriminalisierung nicht ablehnend gegenüberstehen, weil er in dem JGG von
674 Deutschlands, Englands, Frankreichs, der Niederlande, Österreichs, Spaniens, Tschechiens.
675 S. zB für Deutschland § 182 Abs. 1 und 2 StGB, wonach sich die Strafdrohung des sexuellen
Missbrauchs von Jugendlichen nur gegen Personen über 18 bzw. 21 Jahren richtet und die geschützte Person als notwendiger Teilnehmer stra? os ist, s. NK-StGB-Frommel, 2005, § 182 Rn
13; s. ferner §§ 174 Abs. 1 Nr. 3, 176 a Abs. 2 Nr. 1 StGB.
676 Ausführlich oben Kap. 7.3.1.
151
2004 eine § 3 dJGG entsprechende Wertung eingeführt hat.677 Ansonsten differenziert
auch das tschechische JGG im Bereich des Verfahrens und der Rechtsfolgen und bezieht sich im sachlichen Anwendungsbereich auf das allgemeine Strafgesetzbuch und
strafrechtliche Nebengesetze.678
Das spanische JGG knüpft gemäß Art. 1 Abs. 1 JGG an Verbrechen („delitos“) und
Vergehen („faltas“) an, die im allgemeinen Strafgesetzbuch oder im Nebenstrafrecht
vorgesehen sind.
Gleiches gilt gemäß Art. 1 Abs. 1 des französischen JGG, wobei auch Ordnungswidrigkeiten der sog. „fünften Klasse“ mit einbezogen werden. Diese Ordnungswidrigkeiten weisen einen so hohen Unrechtsgehalt auf, dass sie in anderen Ländern unter
die Kategorie strafrechtlicher Vergehen subsummiert werden können, weshalb dieser
Unterschied vernachlässigt werden kann.679
Ein Fundament zur materiellen Entkriminalisierung bietet das Jugendstrafrecht
Österreichs: Auch dort sind gemäß § 1 Nr. 3 JGG Jugendstraftaten solche, die allgemein mit gerichtlicher Strafe bedroht sind. Das JGG normiert aber mit § 4 Abs. 2
Nr. 2 JGG einen materiellen Strafausschließungsgrund, der speziell und nur für junge
Menschen gilt. Nach dieser Norm ist ein Jugendlicher nicht strafbar, wenn er vor Vollendung des 16. Lebensjahres ein Vergehen begeht, ihn kein schweres Verschulden
trifft und nicht aus besonderen spezialpräventiven Gründen die Anwendung des Jugendstrafrechts geboten ist.
Zur Frage des Gebotenseins der Anwendung von Jugendstrafrecht rechnen auch die
Diversionsmaßnahmen nach den §§ 6 und 7 JGG.680 Mit „Vergehen“ sind gemäß § 5
Nr. 7 JGG iVm § 17 StGB alle Taten gemeint, die bei Erwachsenen eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren nach sich ziehen können. „Kein Schweres Verschulden“ ist der
Regelfall. Schweres Verschulden bedeutet nach Rechtsprechung und Lehre eine atypische Fallkonstellation dahingehend, dass Handlungsunrecht, Erfolgsunrecht sowie
der Gesinnungsunwert über dem deliktstypisch normalen Unwertsgehalt des jeweiligen tatbestandsmäßigen Verhaltens liegen.681
Sind die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, ist materielle Straffreiheit gegeben.
Die Frage der materiellen Straffreiheit ist in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen. Das
Rechtsmittelgericht prüft den Umstand auch ohne besondere Rüge (§ 290 Abs. 1
StPO).
Ein diametral entgegenstehender Ansatzpunkt i. S. einer verstärkten „materiellen
Kriminalisierung“ junger Menschen ? ndet sich in England. Wie alle anderen Länder
knüpft auch das englische Jugendstrafrecht an die Straftatbestände des allgemeinen
677 S. oben Kap. 7.3.1.
678 Válková in: Handbook of International Juvenile Justice, hrsg. von Junger-Tas/Decker, 2006,
S. 384.
679 S. dazu Dillenburg, Jugendstrafrecht in Deutschland und Frankreich, 2003, S. 138; s. auch
Zieschang, Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts im Vergleich mit
dem deutschen Strafrecht, 1992, S. 323 ff.
680 Jesionek ZJJ 2007, 121; zu den Diversionsmaßnahmen gem. §§ 6, 7 öJGG s. oben Kap. 7.5.1.
681 Jesionek ZJJ 2007, 122.
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Erwachsenenstrafrechts an. Jedoch sind auch sog. „Status-Delikte“ in den sachlichen
Anwendungsbereichs des Jugendstrafrechts mit einbezogen. Das heißt, es können Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen mit jugendstrafrechtlichen Sanktionen
geahndet werden, die bei Erwachsenen nicht strafbar wären. Beispiele sind „von zuhause Weglaufen“, „Schuleschwänzen“, etc.
Eine derartige Verknüpfung kriminellen Verhaltens mit unerwünschten Auffälligkeiten ? ndet sich zwar auch in weiteren EU-Mitgliedsstaaten, etwa in Polen durch
den Rechtsbegriff der „Demoralisierung“.682 Dort wird die Verbindung aber durch das
einspurig ausgestaltete Wohlfahrtsmodell hergestellt.683 In einem Justizmodell, dem
das englische Jugendstrafrecht folgt und dem ein Europäisches Jugendstrafrecht folgen sollte,684 sind Status-Delikte ein „Fremdkörper“ im System.
7.6.2 Rechtsentwicklung
Eine materielle Rücknahme des Strafrechts erfolgt in Europa zurzeit nicht. Das Gegenteil ist der Fall.
In Deutschland droht sich die staatliche Reaktion auf jugendliche Bagatellkriminalität auszuweiten, beispielsweise durch sozialpädagogische Kurse speziell für junge
Ladendiebstahl-Ersttäter.685
Während die staatlichen Reaktionen in Deutschland noch an kriminellem, d.h. an
per Strafgesetz verbotenem Verhalten anknüpfen, ist in England diese De? nitionsgrenze verschoben. An ihre Stelle treten Begriffe wie „Risikoverhalten“, „Problemverhalten“, „out-of-control children“686 und „anti-social behaviour“.687 Letzteres
meint Verhaltensweisen, die bei anderen ein Gefühl von Angst, Belästigung oder
Stress hervorrufen können. Der Crime and Disorder Act 1998 (CDA) gibt zum Schutze der Öffentlichkeit und zur Prävention die Möglichkeit, (zivilrechtliche) „Anti-Social Behaviour Orders“ (ASBO) gegen Kinder und Jugendliche ab dem 10. Lebensjahr
zu verhängen.688 Es handelt sich um Ge- und Verbote, die eine Mindestdauer von zwei
Jahren haben. Verstöße gegen die Inhalte werden strafrechtlich geahndet, sind unter
anderem (strafrechtlich) mit Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren bedroht. Anweisungen,
682 S. Art. 1 Abs. 1 b des Gesetzes über Verfahren in Sachen Jugendlicher vom 26.10.1982; ausführlich dazu Stando-Kawecka in: International Handbook of Juvenile Justice, hrsg. von Junger-Tas/
Decker, 2006, S. 353.
683 S. oben Kap. 7.1.1.1.1.
684 Für England s. oben Kap. 7.1.1.1.1; für ein Europäisches Jugendstrafrecht s. oben Kap.
7.1.1.3.
685 Dazu Breymann/Fischer DVJJ-Journal 2000, 291 ff.
686 Graham/Moore in: International Handbook of Juvenile Justice, hrsg. von Junger-Tas/Decker,
2006, S. 73.
687 S. dazu auch Groenemeyer KrimJ 2007, 162 ff.
688 Ausführlich Graham/Moore in: International Handbook of Juvenile Justice, hrsg. von Junger-
Tas/Decker, 2006, S. 83 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.