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Neben der größeren Gleichbehandlung spricht dafür auch, dass die Entwicklung
eines Menschen mit dem 18. Geburtstag nicht abgeschlossen ist: Neuere psychiatrische Studien weisen im Übrigen darauf hin, dass heute zwar einschneidende Entwicklungsfortschritte um die Vollendung des 18. Lebensjahres nicht zu erwarten sind, dass
aber die Folgejahre bis zum 24. Lebensjahr durch ? ießende Übergänge zum Erwachsenenstatus geprägt sind.571
Für die schwerpunktmäßige Einbeziehung junger Erwachsener in ein Europäisches
Jugendstrafrecht spricht auch, dass dieses in Anbetracht der diametralen Entwicklung
von „Jugendstrafrecht in Europa“ und „Europäischem Strafrecht“ den notwendigen
Bedeutungszuwachs erlangen würde.572 Die Jugendkriminologie auf internationaler
Ebene zeigt mit der „Alterskriminalitätskurve“, dass die Jungerwachsenen die aktivste und am stärksten kriminalitätsauffällige Altersgruppe ist.573 Damit sind es vor allem
jugendkriminologische Aspekte, welche die Einbeziehung junger Erwachsener in ein
Europäisches Jugendstrafrecht in der Regel begründet erscheinen lassen. Auch deren
Kriminalitätskennzeichen sind zumeist Episoden- und Bagatellhaftigkeit.574 Gerade
bei schwerer Kriminalität erscheint ein differenziertes Jugendstrafrecht, das auch bei
dieser Altersgruppe reine Bestrafung vermeidet, Erfolg versprechender. Der entscheidende Punkt ist, dass sich eine Bestrafung nach dem Erwachsenenstrafrecht negativ
auf die Sozialisation des jungen Erwachsenen auswirkt, während mit den Mitteln des
Jugendstrafrechts die Möglichkeit der Vermeidung einer Strafwiederholung gegeben
ist.575
Damit sollte ein Europäisches Jugendstrafrecht einen persönlichen strafjustiziellen
Schonraum für junge Erwachsene auf folgende Weise schaffen:
7.4.4 Normbefehl eines Europäischen Jugendstrafrechts
Ein Europäisches Jugendstrafrecht hat in verfahrensrechtlicher Hinsicht junge erwachsene Straftäter im Alter von 18 bis 21 Jahren unter die Zuständigkeit der besonderen
Jugendstrafgerichte zu stellen.
In materieller Hinsicht hat ein Europäisches Jugendstrafrecht ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten der Anwendung von Jugendstrafrecht auf junge Erwachsene vorzuschreiben.
Das sollte mit einer weichenstellenden Norm geschehen, nach der das Jugendgericht entscheidet, ob die Straftat eines jungen Erwachsenen nach Jugendstrafrecht oder
571 BGH StV 2002, 420 unter Berufung auf Nedopil Forensische Psychiatrie, 2000, S. 63.
572 Zur diametralen Entwicklung der beiden Rechtsgebiete und zur Notwendigkeit der Entwicklung
eines Europäischen Jugendstrafrechts s. oben Kap. 5.2.1.
573 S. oben Kap. 3.2.
574 S. Kaiser DRiZ 2001, 467.
575 S. Ostendorf, Jugendstrafrecht, 2007, Rn 288; BGHSt 12, 119; Lempp, Gerichtliche Kinder- und
Jugendpsychiatrie, 1983, S. 223; Laubenthal, Fallsammlung zur Wahlfachgruppe Kriminologie,
Jugendstrafrecht und Strafvollzug 2002, S. 27.
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ausnahmsweise nach Erwachsenenstrafrecht geahndet wird. Entscheidungskriterien
sollten die jugendtypischen Tatumstände und die Täterpersönlichkeit jeweils zur Tatzeit sein, die nur bei Verneinung beider Merkmale die fakultative Anwendung von
Erwachsenenstrafrecht ermöglichen.
Für den Fall der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht hat ein Europäisches Jugendstrafrecht eine gerichtliche Begründungsp? icht zu konstituieren, die von der
Überprüfung durch Rechtsmittel umfasst ist. Der Status des jungen Erwachsenen ist
als obligatorischer Strafmilderungsgrund auszuweisen.
7.5 Soll ein förmlicher strafjustizieller Schonraum für die Jugendphase
geschaffen werden?
Im Allgemeinen kann für die europäischen Länder festgestellt werden, dass diese bei
straffällig gewordenen jungen Menschen – statt auf eine materielle Entkriminalisierung576 – auf eine Entkriminalisierung im Bereich des Verfahrens setzen.577 Jugendliche Straftäter werden aus einem förmlichen Verfahren auf einen eher informellen Weg
„umgeleitet“ – so genannte „Diversion“.578
Das könnte es nahe legen, mit einem Europäischen Jugendstrafrecht einen förmlichen strafjustiziellen Schonraum für die Jugendphase zu schaffen.
Die Mindestgrundsätze der United Nations für die Jugendgerichtsbarkeit
(Beijing-Rules) äußern sich als „Jugendgerichtsgesetz in Miniatur“ hierzu wie folgt:
„Nach Maßgabe der in den jeweiligen Rechtssystemen hierfür vorgesehenen Kriterien“ ist – „soweit angebracht“ – „die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, gegen jugendliche Täter einzuschreiten, ohne dass das (…) zuständige Organ ein förmliches Verfahren durchführt“.579
Fraglich ist, wann die hier näher verglichenen EU-Mitgliedsstaaten580 einen solchen Umweg für „angebracht“ halten im Sinne der „Beijing-Rules“ und welche „Kriterien“ und „Möglichkeiten“ sie vorsehen.
7.5.1 Rechtsvergleich
Das deutsche Jugendstrafrecht kennt ein System von informellen Reaktionsmöglichkeiten auf Straftaten Jugendlicher, das die §§ 45 und 47 JGG regeln.581 Zugunsten
576 S. unten Kap. 7.6.
577 Überblick bei Kilchling DVJJ-Journal 2002, 375 f.
578 Lat.: divertere = seitwärts lenken; zur internationalen Entstehungsgeschichte Heinz ZJJ 2005,
166 ff.
579 Beijing- Rule 11.2. iVm 11.1.
580 Deutschland, England, Frankreich, Niederlande, Österreich, Spanien, Tschechien.
581 Umfassende Erläuterungen bei Tamm, Diversion und vereinfachtes Verfahren im Jugendstrafrecht, 2007.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.