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chung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten nach dem Wortlaut der Norm ausgenommen sind. Für die Angleichung der Rechtsvorschriften sind Rahmenbeschlüsse
und Übereinkommen gemäß Art. 34 Abs. 2 b und d EUV bestimmt.
6.5.1 Übereinkommen
Bei den Übereinkommen im Sinne des Art. 34 Abs. 2 d EUV handelt es sich um völkerrechtliche Konventionen, die der Rat den Mitgliedsstaaten zur Annahme (Rati? kation) gemäß ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften emp? ehlt. Hier lässt sich eine
Parallele zum UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes ziehen. Darin ist Art.
40 KRK der „Behandlung des Kindes im Strafrecht und im Strafverfahren“ gewidmet.
Das legt es nahe, auf der Ebene der Europäischen Union eine umfassende Konvention
zur Jugendgerichtsbarkeit zu erstellen. Allerdings erweisen sich Übereinkommen
wegen des Fertigungsverfahrens und des Rati? kationserfordernisses als eine zeitraubende sowie schwerfällige Handlungsform. Die Erstellung der UN-Kinderrechtskonvention dauerte beispielsweise über zehn Jahre.292 Von den noch auf der Basis des
Maastrichter Vertrages getroffenen EU- Konventionen sind bisher allein das Europol-
Übereinkommen und das Übereinkommen betreffend den Schutz der ? nanziellen Interessen der EG in Kraft getreten. Letzteres durchlief eine Rati? kationsphase von sieben Jahren.
6.5.2 Rahmenbeschluss
Von daher bietet sich für eine schnellere und schrittweise Entwicklung eines Europäischen Jugendstrafrechts in erster Linie der Rahmenbeschluss gemäß Art. 34 Abs. 2 b
EUV an. Rahmenbeschlüsse sind analog zu den EG-Richtlinien konstruiert, indem sie
für die Mitgliedsstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, die
Wahl der Form und der Mittel aber den Mitgliedsstaaten überlassen.293 Mit dem Erlass
eines Rahmenbeschlusses zur Jugendgerichtsbarkeit im Rat entsteht also eine unbedingte P? icht der nationalen Gesetzgebungsorgane, die Vorgaben des Rechtsaktes im
innerstaatlichen Recht umzusetzen. Der Unterschied zur Richtlinie besteht darin, dass
eine unmittelbare Wirkung von Rahmenbeschlüssen nach Art. 34 Abs. 2 b S. 2 EUV
ausdrücklich ausgeschlossen ist. Allerdings ist zu betonen, dass der EuGH eine integrationsfreundliche Sicht zur Rechtsnatur von Rahmenbeschlüssen hat. So hat der
EuGH jüngst eine unionsrechtliche P? icht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung
des nationalen Rechts aufgestellt.294 Damit entfalten Rahmenbeschlüsse nur keine unmittelbare Rechtswirkungen für die Gesetzgebungsorgane, für die Gerichte und für die
deren Rechtsprechung unterworfenen Bürger aber gleichwohl. Die Funktion von uni-
292 S. Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, 1994, S. 90.
293 S. die insoweit wortgleichen Regelungen in Art. 34 Abs. 2 b EUV und Art. 249 Abs. 3 EGV.
294 EuGH NJW 2005, 2839 (Rechtssache „Pupino“).
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onsrechtlichen Rahmenbeschlüssen ist also derjenigen von gemeinschaftsrechtlichen
Richtlinien weitgehend angeglichen.
6.5.3 Einstimmigkeitsprinzip
Rahmenbeschlüsse und alle anderen Handlungsinstrumente sind gemäß Art. 34 Abs.
2 S. 2 EUV „einstimmig“ anzunehmen. Unter diesem Einstimmigkeitsprinzip lassen
sich die in der Fachdiskussion vorgebrachten Vorbehalte gegen die Machbarkeit eines
Europäischen Jugendstrafrechts unter dem Dach der Europäischen Union verorten:
Wegen grundlegender inhaltlicher Systemunterschiede sowie unterschiedlicher
Rechtskulturen und Traditionen sei ein Konsens zwischen den Mitgliedsstaaten
schwierig bis unrealistisch.295 Diese würden sich nur schwerlich einem „kriminalpolitischen Diktat der EU“ unterordnen.296
In der Tat kann die politische Uneinigkeit der EU-Mitgliedsstaaten der Realisierung
jugendstrafrechtlicher Harmonisierungsprojekte entgegenstehen. Jugendstrafrecht ist
nicht nur eine Kategorie mit Rechtssätzen, sondern auch rechtspolitisches Programm.297
Auf der anderen Seite sind die Rechtstraditionen der Mitgliedsstaaten im Umgang
mit straffällig gewordenen Jugendlichen in den meisten Fällen sehr ähnlich und in anderen zumindest nicht unvereinbar. Die „Hinentwicklung zu einem Europäischen
Jugendstrafrecht“298 hat gezeigt, dass kein Modellsystem innerhalb der Europäischen
Union in Reinform existiert. Vielmehr ? nden sich überall Überschneidungen und
Kombinationen, wenn auch mit unterschiedlichen Betonungen. Überall tritt das
Schutz-, Hilfe- und Erziehungsmoment hinzu, wenn es sich um einen jungen Menschen handelt, der straffällig geworden ist. Alle Ansätze in der Jugendgerichtsbarkeit
zeigen eine Abkehr von rein auf Bestrafung beruhenden Systemen und die Einführung
von alternativen Maßnahmen ohne Freiheitsentzug. Genau diese beträchtlichen Ähnlichkeiten sind es, die heute die Entwicklung und Verwirklichung gemeinsamer Bestimmungen auf europäischer Ebene machbar erscheinen lassen.
Hinzu kommt, dass das Jugendstrafrecht an sich keine lange Tradition hat. Es ist in
allen Kulturstaaten erst eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts.299 Im Vergleich dazu
blickt die Erwachsenenstrafjustiz auf eine viel längere und tiefgreifendere Geschichte
zurück, die wesentlich stärker von landesspezi? schen historischen Umständen beein-
? usst ist. Zurückzudenken ist nur an das Nazi-Regime in Deutschland, an die Franco-
Diktatur in Spanien oder an den Kommunismus der osteuropäischen Mitgliedsstaaten
aus vergangenen Zeiten. Da sich trotz allem gerade – und bis dato ausschließlich – in
295 Kilchling RdJB 2003, S. 331 und 332.
296 Kilchling RdJB 2003, 330.
297 S. nur den Beitragstitel von Höynck/ Sonnen ZRP 2001, 245: „Jugendstrafrecht als Spielball im
Prozess politischer Meinungsbildung“.
298 S. oben Kap. 4.
299 Schaffstein/ Beulke, Jugendstrafrecht, 2002, S. 32.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.