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Ein Europäisches Jugendstrafrecht erfüllt diese Voraussetzungen: Die Annäherung
der Modelle und Systeme der Jugendgerichtsbarkeit ist für das Unionsziel der Schaffung eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geeignet.
Damit wird die Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedsstaaten
untereinander gewährleistet,288 was aufgrund der zunehmenden Ausübung des Rechts,
sich in der Europäischen Union frei zu bewegen und aufhalten zu dürfen, immer erforderlicher wird. Zugleich bietet ein von gemeinsamen Grundlagen ausgehendes Vorgehen gegen Jugendkriminalität ein hohes Schutzniveau aller Unionsbürger, wie es
Art. 29 EUV verlangt. Dabei betrifft das Schutzniveau nicht nur Opferbelange, sondern in erster Linie den Schutz der straffällig gewordenen jungen Menschen selbst.
Auch stehen keine gleich geeigneten, milderen Handlungsalternativen zur Verfügung.
Diesbezüglich wurde bereits dargelegt, dass die Entwicklung eines Europäischen Jugendstrafrechts ohne Alternative ist.289 Hervorzuheben ist dabei der Aspekt der
„Rechtswahrung“, der eine Annäherung des Jugendstrafrechts nicht nur wünschenswert, sondern erforderlich macht.290 Denn die diametrale Entwicklung zwischen Jugendstrafrecht in Europa und Europäischen Strafrecht würde eine auf Deeskalation
und Hilfe ausgerichtete Jugendgerichtsbarkeit auf lange Sicht nicht bestehen lassen,
wenn nicht auch hier ein gemeinsamer Rahmen erarbeitet wird.
Zwar wird in der Fachdiskussion entgegengehalten, dass die dritte Säule der EU für
eine Annäherung des Jugendstrafrechts insgesamt ungeeignet sei, weil das „Kernverständnis des Jugendrechts (…) in einigen Mitgliedsländern eben nicht als Strafrecht
konzipiert ist“291. Dieser Einwand greift jedoch zu kurz. Zwar ist tatsächlich in zwei
der 27 EU-Mitgliedsstaaten (Belgien und Polen) das Jugendrecht einspurig wohlfahrtsrechtlich organisiert; wenn aber ein Jugendlicher dort eine besonders schwere
Straftat begangen hat, wird das Kernverständnis dahingehend relativiert, dass Erwachsenenstrafrecht angewendet werden kann. Diese Schnittmenge macht ein Europäisches Jugendstrafrecht umso notwendiger und die dritte Säule für dessen Erarbeitung
geeignet.
6.5 Handlungsform der Jugendstrafrechtsangleichung
Art. 34 Abs. 2 a – d EUV gibt für die Erarbeitung eines Europäischen Jugendstrafrechts im Grundsatz vier einstimmig vorzunehmende Handlungsformen an die Hand:
die Annahme von gemeinsamen Standpunkten, von Rahmenbeschlüssen und sonstigen Beschlüssen sowie die Erstellung von Übereinkommen.
Gemeinsame Standpunkte und sonstige Beschlüsse im Sinne des Art. 34 Abs. 2 a)
und c) EUV kommen nicht in Betracht, weil diese der verbindlichen Weiterentwicklung eines Europäischen Jugendstrafrechts nicht dienen und Maßnahmen zur Anglei-
288 S. Art. 31 Abs. 1 c) EUV.
289 S. ausführlich oben Kap. 5.2.
290 S. ausführlich oben Kap. 5.2.1.
291 Kilchling RdJB 2003, 330.
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chung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten nach dem Wortlaut der Norm ausgenommen sind. Für die Angleichung der Rechtsvorschriften sind Rahmenbeschlüsse
und Übereinkommen gemäß Art. 34 Abs. 2 b und d EUV bestimmt.
6.5.1 Übereinkommen
Bei den Übereinkommen im Sinne des Art. 34 Abs. 2 d EUV handelt es sich um völkerrechtliche Konventionen, die der Rat den Mitgliedsstaaten zur Annahme (Rati? kation) gemäß ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften emp? ehlt. Hier lässt sich eine
Parallele zum UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes ziehen. Darin ist Art.
40 KRK der „Behandlung des Kindes im Strafrecht und im Strafverfahren“ gewidmet.
Das legt es nahe, auf der Ebene der Europäischen Union eine umfassende Konvention
zur Jugendgerichtsbarkeit zu erstellen. Allerdings erweisen sich Übereinkommen
wegen des Fertigungsverfahrens und des Rati? kationserfordernisses als eine zeitraubende sowie schwerfällige Handlungsform. Die Erstellung der UN-Kinderrechtskonvention dauerte beispielsweise über zehn Jahre.292 Von den noch auf der Basis des
Maastrichter Vertrages getroffenen EU- Konventionen sind bisher allein das Europol-
Übereinkommen und das Übereinkommen betreffend den Schutz der ? nanziellen Interessen der EG in Kraft getreten. Letzteres durchlief eine Rati? kationsphase von sieben Jahren.
6.5.2 Rahmenbeschluss
Von daher bietet sich für eine schnellere und schrittweise Entwicklung eines Europäischen Jugendstrafrechts in erster Linie der Rahmenbeschluss gemäß Art. 34 Abs. 2 b
EUV an. Rahmenbeschlüsse sind analog zu den EG-Richtlinien konstruiert, indem sie
für die Mitgliedsstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, die
Wahl der Form und der Mittel aber den Mitgliedsstaaten überlassen.293 Mit dem Erlass
eines Rahmenbeschlusses zur Jugendgerichtsbarkeit im Rat entsteht also eine unbedingte P? icht der nationalen Gesetzgebungsorgane, die Vorgaben des Rechtsaktes im
innerstaatlichen Recht umzusetzen. Der Unterschied zur Richtlinie besteht darin, dass
eine unmittelbare Wirkung von Rahmenbeschlüssen nach Art. 34 Abs. 2 b S. 2 EUV
ausdrücklich ausgeschlossen ist. Allerdings ist zu betonen, dass der EuGH eine integrationsfreundliche Sicht zur Rechtsnatur von Rahmenbeschlüssen hat. So hat der
EuGH jüngst eine unionsrechtliche P? icht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung
des nationalen Rechts aufgestellt.294 Damit entfalten Rahmenbeschlüsse nur keine unmittelbare Rechtswirkungen für die Gesetzgebungsorgane, für die Gerichte und für die
deren Rechtsprechung unterworfenen Bürger aber gleichwohl. Die Funktion von uni-
292 S. Dorsch, Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, 1994, S. 90.
293 S. die insoweit wortgleichen Regelungen in Art. 34 Abs. 2 b EUV und Art. 249 Abs. 3 EGV.
294 EuGH NJW 2005, 2839 (Rechtssache „Pupino“).
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References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.