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„Durchgriffswirkung“. Das Gemeinschaftsrecht bedarf zu seiner Entstehung nicht der
Mitwirkung der Mitgliedsstaaten; es kann sogar gegen den Willen eines Mitgliedslandes erlassen werden, wenn dieses von der Mehrheit der übrigen Mitgliedsstaaten überstimmt wird. Der supranationale Charakter wird nur dem Gemeinschaftsrecht der ersten Säule zuerkannt.
Die zweite und die dritte Säule der EU sind in den Titeln V und VI des Vertrags über
die Europäische Union verankert, dem „Unionsrecht“. Dieses verp? ichtet die Mitgliedsstaaten zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie zu einer
Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Kennzeichnend für das
Unionsrecht ist dessen „Intergouvernementalität“. Das bedeutet: Speziell die in der
dritten Säule der EU festgelegte Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen bewegt sich – trotz einer gewissen „Entwicklungsoffenheit“ – auf klassisch
völkerrechtlichem Terrain. Die Mitgliedsstaaten sind souverän. Unmittelbar anwendbare Rechtsakte können nicht geschaffen werden. Denn das setzt die Supranationalität
der Rechtsakte – wie zum Beispiel der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung gemäß
Art. 249 Abs. 2 EGV – voraus, die jedoch mangels Souveränitätsverzicht nicht gegeben ist. Der Souveränitätsvorbehalt wird am Merkmal der Einstimmigkeit offensichtlich; diese ist zum Erlass von Rechtsakten innerhalb der dritten Säule zwingend.270
Ausgehend von dieser unterschiedlichen Charakterisierung der beiden Unionssäulen gilt es, die Machbarkeit und Zulässigkeit eines Europäischen Jugendstrafrechts zu
untersuchen.
6.2 Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht als Politikbereiche
der „ersten Säule“ (EGV)
Im Bereich der Sozial-, Berufs-, Bildungs- und Jugendpolitik271 verfolgen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten gemäß Art. 136 EGV unter anderem die Ziele
einer Verbesserung der Lebensbedingungen, eines angemessenen sozialen Schutzes
und der Bekämpfung von Ausgrenzung. Nach Art. 137 EGV unterstützt und ergänzt
die Gemeinschaft zur Verwirklichung der Ziele die Tätigkeit der Mitgliedsstaaten unter anderem auf den Gebieten der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung und der Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes (Art. 137 Abs. 1 j, k EGV). Der
Schwerpunkt liegt auf Eingliederung und Schutz in Arbeit (Art. 137 Abs. 1 a – i
EGV).
Unter teleologischer Berücksichtigung der Jugendgerichtsbarkeit als förmlichen
Teil eines umfassenden Gesamtantwortkonzeptes auf Jugenddelinquenz272 und unter
Bezugnahme auf die international anerkannten Ursachen von Jugendkriminalität273
270 Art 34 Abs. 2 EUV; ausführlich dazu unten Kap. 6.5.3.
271 S. Teil 3, Titel XI EUV.
272 So die Europaratsempfehlung Rec. No. (2003) 20 zu neuen Wegen im Umgang mit Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit, Abschnitt I.
273 S. oben, Kap. 3.1.
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lässt sich sagen, dass die beru? ich-soziale und die gesellschaftliche Eingliederung
zwei grundlegende Komponenten für die Verhütung und den Umgang mit Jugendkriminalität sind.
Selbst mit einer derart weiten Auslegung der hervorgehobenen Rechtsgrundlagen
erscheint ein Europäisches Jugendstrafrecht jedoch nicht konstruierbar. Die Jugendgerichtsbarkeit ist nämlich in der absoluten Mehrzahl der EU-Mitgliedsländer im
Strafrecht verankert.274 Auf Grundlage der Vorschriften des EG-Vertrags fehlt der EG
eine Strafrechtssetzungskompetenz. Der EG-Vertrag selbst nimmt in dem so genannten „Betrugbekämpfungs-“ Artikel 280 EGV die „Anwendung des Strafrechts“ wörtlich von der Gemeinschaftskompetenz aus.275 Systematisch zeigt gerade die Differenzierung zwischen erster und dritter Säule, dass das Strafrecht als Teil der Zusammenarbeit in Strafsachen nicht vergemeinschaftet werden, sondern seinen Platz bei der
intergouvernementalen Zusammenarbeit behalten sollte.276 Gerade wegen der Supranationalität des Gemeinschaftsrechts würde ein Europäisches Jugendstrafrecht die
Grenzen einer möglichen Auslegung des EG-Vertrages sprengen.
6.3 Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht als Bereiche der
Strafrechtsangleichung der „dritten Säule“ (EUV)
Im Rahmen der dritten Säule der EU wird das Ziel angestrebt, einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu schaffen.277 Das Gebiet aller Mitgliedstaaten
soll einen „einheitlichen justiziellen Raum“ darstellen – vergleichbar mit den innerstaatlichen Verhältnissen.278 Nach Art. 29 EUV ist auf das Unionsziel hinzuarbeiten
durch eine engere Zusammenarbeit von Polizei und Justiz279, aber auch durch eine
Annährung des Strafrechts der Mitgliedsstaaten.280 Damit soll den Bürgern gemäß Art.
29 EUV ein hohes Schutzniveau geboten werden durch die Verhütung und Bekämpfung der – organisierten oder nichtorganisierten – Kriminalität, insbesondere des Terrorismus, des Menschenhandels und der Straftaten gegenüber Kindern, des illegalen
Drogen- und Waffenhandels, der Bestechung und Bestechlichkeit sowie des Betrugs.
In Art. 31 Buchstaben a, b, c und d EUV werden verschiedene Aspekte als Unterziele aufgelistet, die das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusam-
274 S. oben Kap. 4.1 und unten Kap. 7.1.1.1.
275 Art. 280 Abs. 4 S. 2 EGV.
276 S. ferner Kubiciel NStZ 2007, 139, der (selbstskeptisch) ein „europäisches Demokratiede? zit“
anführt.
277 Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den
Mitgliedsstaaten, ABlEG, Nr. L 190, S. 1; zu dieser Zielvorgabe s. Pache in: Die Europäische
Union – ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, hrsg. von Pache, 2005, S. 9;
Ruffert in: Die Europäische Union – ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, hrsg.
von Pache, 2005, S. 14 und 16 ff.
278 Satzger NK 2007, 94.
279 Art. 29 EUV Spiegelstriche 1 und 2.
280 Art. 29 EUV Spiegelstrich 3.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.