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Die Mindestgrundsätze der United Nations für die Jugendgerichtsbarkeit (Beijing-
Rules) formulieren als „grundlegende Perspektive“, dass „die Jugendgerichtsbarkeit
als ein integraler Bestandteil des nationalen Entwicklungsprozesses eines jeden Landes anzusehen“ ist; „in diesem Rahmen soll sie zugleich zum Schutz der Jugend und
zur Wahrung einer friedlichen Ordnung in der Gesellschaft beitragen“260. In einer europäischen Dimension gedacht, spricht alles dafür, die Jugendgerichtsbarkeit auch als
einen integralen Bestandteil des Entwicklungsprozesses der Europäischen Union anzusehen. Gerade unter dem Aspekt der Gestaltung eines einheitlichen Rechtskreis
wäre ein Europäisches Jugendstrafrecht von Vorteil. In vielen Ländern Europas übernimmt das Jugendstrafrecht eine Vorreiterfunktion für Gesetzgebungsreformen im Erwachsenenstrafrecht.261 Die Reformen erfolgen also nach einer Erprobung durch die
Jugendgerichtsbarkeit „von unten nach oben“. Eine harmonisierte Jugendgerichtsbarkeit könnte damit ihrerseits eine Übereinstimmung in der einzelstaatlichen Strafgesetzgebung bewirken. Letzteres ist bereits ein erklärtes Ziel der Europäischen Union.
Durch solch einen bodennäheren Annährungsprozess könnten vereinzelt vorgetragene
Fundamentaloppositionen gegen eine mögliche „gubernative Rechtssetzung“262 Brüssels abgemildert werden.
Zugleich könnten Beitrittsverhandlungen mit EU-Kandidatenländern vereinfacht
werden, wie sie zum Beispiel seit dem Jahr 2005 mit der Türkei geführt werden. Eine
Aufnahme der Türkei, deren Territorium überwiegend in Asien liegt, wird wegen ihrer
spezi? sch islamischen Geschichte als problematisch angesehen, wobei eine nur allmähliche Entwicklung zu einem demokratischen und rechtsstaatlichen Regierungssystem konstatiert wird.263 Gleichzeitig wird das Jugendstrafrecht in der Türkei als „nur
schwach entwickelt“ beschrieben.264 Hier könnte ein Europäisches Jugendstrafrecht
als eine gemeinsame und verbindliche Richtungsvorgabe für den Umgang mit problembelasteten jungen Menschen den Aufnahmeprozess erleichtern.
5.3 Ergebnis
Aus den genannten Gründen ist es ratsam, in Richtung einer sukzessiven Vereinheitlichung der Modelle und Systeme der Jugendgerichtsbarkeit voranzugehen. Das steht
im Einklang mit der aktuellen Europaratsempfehlung zu neuen Wegen im Umgang mit
Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit von 2003. Sie weist ausdrücklich auf das Erfordernis hin, eigenständige und spezi? sch europäische Regeln
anzuerkennen.265
Damit stellt sich die Frage, wie das bewerkstelligt werden kann.
260 Beijing-Rule 1.4.
261 S. nur Ostendorf StV 2008, 148 mit Beispielen für Folgereformen im Erwachsenenstrafrecht
262 Lüderssen GA 2003, 71.
263 Model/ Creifelds, Staatsbürger-Taschenbuch, 2007, S. 48.
264 Tellenbach/ Aydin in: Jugendstrafrecht in Europa, hrsg. von Albrecht/ Kilchling, 2002, S. 455.
265 Rec. No. (2003) 20, Präambel.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.