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von Beschuldigten wird also durch ein zusätzliches, transnationales „Europa-Rechtsmittel“ mit der Funktion einer „Ersatz-Verfassungsgerichtsbarkeit“249 erheblich gestärkt. All diese strafrechtsbegrenzenden Europäisierungseffekte sind mit der Dachorganisation der Europäischen Union auf das engste verzahnt, weil Art. 6 EUV die Europäische Menschenrechtskonvention und die allgemeinen Grundsätze des
Gemeinschaftsrechts zu den Grundlagen der Union macht. Über Art. 35 EUV werden
gerade Rechtsakte der „dritten Säule“ der EU auf dem Gebiet der polizeilichen und
justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen der Überprüfung und Auslegung durch
den EuGH zugänglich gemacht.250 Damit kann ein europaweit gleichmäßiges Schutzniveau junger Menschen verwirklicht werden.
5.2.4 Qualitätssicherung
Auch das Argument, ein Europäisches Jugendstrafrecht könnte ein Forschungsfeld
zerstören, „sticht“ nicht. Der Wunsch der Aufrechterhaltung eines natürlichen europäischen Experimentalsettings lässt sich auf der einen Seite zwar mit den internationalen
„soft-law“-Dokumenten zur Jugendgerichtsbarkeit vereinbaren. Alle Regeln, Richtlinien und Empfehlungen fordern in einem eigenen Kapitel zu einer umfassenden (Begleit-)„Forschung“251 auf, mit dem Ziel, dass sich die Behandlung jugendlicher Straftäter auf wissenschaftliche Erkenntnisse dazu stützt, „was wirkt, bei wem und unter
welchen Umständen“.252
Auf der anderen Seite muss man sich aber bewusst sein, dass der junge, straffällig
gewordene Mensch das Subjekt dieses Experiments ist. Insoweit besteht die Gefahr,
dass die Aufrechterhaltung der Regelungsvielfalt jedenfalls hintergründig zum „best
interest of the system“ und nicht zum „best interst of the child“ erfolgt, wie es die UN-
Kinderrechtskonvention als „hard law“ vorrangig verlangt, Art. 3 Abs. 1 KRK.
Das gilt umso mehr, weil die Vielfalt denkbarer Antworten auf Jugendkriminalität
für sich genommen noch keinen Wert darstellt. Je größer und gegensätzlicher das Reaktionsspektrum innerhalb der Europäischen Union als Werte- und Rechtsgemeinschaft ausfällt, desto dringender bedarf es eines Konzeptes, das die Auswahl der Vorgehensweisen wenn auch nicht mechanisch steuert, so doch zumindest in einem rational überzeugenden Rahmen leitet. Die Analyse der Jugendkriminalität auf
internationaler Ebene hat gezeigt, dass in sämtlichen EU-Mitgliedsstaaten relativ ähnliche Phänomene hinsichtlich Art, Umfang, Qualität und Entwicklung der Jugendkriminalität zu beobachten sind.253 Das verlangt nicht nach unterschiedlichen, sondern
nach vergleichbaren Antworten.
249 Hecker, Europäisches Strafrecht, 2007, S. 92.
250 Sog. „EuGH-Gesetz“, in Deutschland in Kraft seit dem 1. Mai 1999; BGBl. I 1998, 2035.
251 S. Beijing-Rules, Kap. 6; Ryiadh-Guidelines, Kap. 8; Tokyo-Rules, Kap. 8; Rec. No (1987) 20,
Kap. 5; Rec. No (1988) 6, Kap. 5; Rec. No (1992) 16, Kap. 11, Rec. No (2003) 20, Kap. 6.
252 Rec. No (2003) 20, Ziffer 5.
253 S. oben Kap 3.
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Vergleichbare Antworten führen dann zu einer Qualitätssicherung sowohl der Jugendgerichtsbarkeit als auch der jugendkriminologischen Forschung in Europa. Was
die Forschung anbelangt, wurde bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, valide
Aussagen zur Jugendkriminalität in Europa zu treffen.254 Ob beispielsweise Straftäter
immer jünger werden oder junge Straftäter eine kriminelle Karriere bis weit in das Erwachsenenalter einschlagen, kann im Grunde genommen nur geklärt werden, wenn
überhaupt eine einheitliche Sichtweise zur „Jugend im Strafrecht“255 besteht. Schon
die bestehende „Schere der Altersgrenzen“256 in Europa ist dafür hinderlich.
Was die Qualität der Jugendgerichtsbarkeit insgesamt anbelangt, bietet ein Europäisches Jugendstrafrecht die Möglichkeit, die EU-Mitgliedsstaaten bei der Festlegung
der Maßnahmen zur Bewältigung der Jugendkriminalität – mit ihren verschiedenen
Aspekten wie Prävention und Schutz bis hin zur Rechtsprechung – zu unterstützen.
Die Erfahrungen und „good practices“257 der einzelnen Länder können koordiniert
und zur „best practice“258 gebündelt werden.
5.2.5 Sicherung einer fortschrittlichen Jugendkriminalpolitik
Eine solche rationale Bündelung der best practice durch einen gemeinschaftlichen Bezugsrahmen könnte zugleich rückschrittliche Tendenzen im Umgang mit straffällig
gewordenen jungen Menschen drosseln oder verhindern. Derartige rückschrittliche
Tendenzen im Sinne einer Renaissance neoklassischer Strafrechtskonzepte sind in einigen europäischen Ländern bereits zu erkennen – etwa in England durch die vermehrte Anwendung von Erwachsenenstrafrecht oder in Deutschland durch die europaweit
einzigartige Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung Jugendlicher, welche andere EU-Mitgliedsstaaten explizit für verfassungswidrig erklärt haben.259 Nationale Alleingänge könnten so im wohlverstandenen Interesse junger Menschen vermieden werden, nicht zuletzt, weil ein Europäisches Jugendstrafrecht von der Weltgemeinschaft stärker wahrgenommen wird als ein einzelstaatliches.
5.2.6 Kulturgewinn
Insofern würde ein Europäisches Jugendstrafrecht einen nationalen und internationalen Kulturgewinn in der Jugendgerichtsbarkeit und für die Europäische Union bedeuten.
254 S. oben Kap 3.
255 S. dazu Schüler-Springorum in FS für Jescheck, hrsg. von Vogler, 1985, S. 1107; DVJJ (Hrsg.),
Jugend, Gesellschaft und Recht im neuen Jahrtausend, 2003.
256 Schüler-Springorum ZStW 1987, 821.
257 Segre, Ways of dealing with juvenile delinquency and the role of the juvenile justice system in
the EU, 2006, S. 4.
258 Segre, Ways of dealing with juvenile delinquency and the role of the juvenile justice system in
the EU, 2006, S. 5.
259 S. dazu Ostendorf/ Bochmann ZRP 2007, 146 ff und Kap. 7.8.6.1.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.