34
3. Kapitel: Jugendkriminalität auf internationaler Ebene
Die Jugendkriminalität ist ein Feld der Kriminologie, das international im Zentrum
kontinuierlicher Forschung steht. Als theoretischer Hintergrund kann entweder die
„Verhütung der Erwachsenenkriminalität von morgen“ genannt werden.127 Für den
kriminologischen Forschungsschwerpunkt kann aber auch die Erwägung stehen, dass
delinquentes Verhalten junger Menschen viel größere Herausforderungen birgt als das
von Erwachsenen, weil ein besonders verletzbarer Teil der Gesellschaft betroffen ist,
der sich noch in der persönlichen Entwicklung be? ndet. Junge Menschen können so
schon sehr früh – nämlich in jungen Jahren – dem Risiko der Stigmatisierung und sozialen Ausgrenzung ausgesetzt sein.
3.1 Internationale Erklärungsansätze für Jugendkriminalität
Der Europäische Parlamentsbericht über Jugenddelinquenz von 2007 macht auf die
Schwierigkeit bei der Katalogisierung von Gründen aufmerksam, die junge Menschen
zu delinquentem Verhalten veranlassen.128 Die Entwicklung eines Jugendlichen hin zu
delinquentem Verhalten stellt immer einen Einzelfall dar. Er ist abhängig von den persönlichen Lebenserfahrungen und den wichtigsten Bezugspunkten im Umfeld eines
Jugendlichen, also von Familie, Schule und Freundeskreis sowie weitergehend von dem
gesamtgesellschaftlichen Umfeld. Dennoch lassen sich für die Europäische Union – um
die es in dieser Arbeit in der Hauptsache geht – Faktoren benennen, die Jugendkriminalität auslösen können und von verschiedenen Kriminalitätstheorien rezipiert werden:
Migration, die speziell durch die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union
gegeben ist (Art. 18 EGV) und gerade bei jungen Menschen zu Orientierungslosigkeit und einem „Kulturkon? ikt“ führen kann.129
Die Herkunft des Jugendlichen aus zerrütteten Familien (sog. „Broken Homes“),
was mit emotionaler Vernachlässigung einhergeht.130
Die Zugehörigkeit zu kriminogenen Gruppen oder Banden, die als Ausgleich der
Vernachlässigung im Elternhaus interpretiert werden kann.131 Darauf baut die Theorie der (delinquenten) Subkultur auf.132
127 Stellungnahme des EWSA (ABl. C 110/75), Ziffer 1.2.
128 Dazu und zum Folgenden s. Parlamentsbericht (2007/2011(INI)), Buchstabe E.
129 Die „Kulturkon? iktstheorie“ geht zurück auf Sellin, Culture Con? ict and Crime, 1938; für Datenmaterial zur Einwanderung nach Europa s. Triandafyllidou/ Gropas, European Immigration,
2007.
130 Stellungnahme des EWSA (ABl. C 110/75), Ziffer 2.1.1; Parlamentsbericht (2007/2011(INI)),
Buchstabe F.
131 Stellungnahme des EWSA (ABl. C 110/75), Ziffer 2.1.1.
132 Die Subkulturtheorie geht zurück auf Whyte, Street Corner Society, 1955 und Cohen, Delinquent Boys – The Culture of the Gang, 1955.
35
Das Schul- und Ausbildungsversagen entweder seitens der Schüler oder seitens der
Bildungssysteme, was – als Spielart des „labeling approaches“ – zu Stigmatisierung
und zu einem Loser-Selbstbildnis führen kann.133
Armut und Arbeitslosigkeit, die unter jungen Menschen am höchsten ist und in vielen Fällen zu Frustration und Hoffnungslosigkeit führt und eine Art soziale „Anomie“ hervorrufen kann.134
Die Anonymität bzw. ein verrohtes urbanes Gefüge („Ghettos“, „delinquent areas“,
„gang-lands“) speziell in den Ballungszentren der europäischen Großstädte, die bei
ihren Bewohnern Angst- und Aggressionsgefühle hervorrufen können. Das sind
Bedingungen im Sinne eines ökologischen Kriminalitätsansatzes.135
Alkohol- und Drogenabhängigkeit, die teils unmittelbarer Kriminalitätsauslöser
sein kann, teils zu Beschaffungskriminalität führt und (biologisch) die Hemmschwelle senkt.136
Die Darstellung von gewaltverherrlichenden und pornographischen Szenen in speziell für junges Zielpublikum produzierten Computerspielen oder in den Massenmedien, womit den Jugendlichen ein Wertesystem vorgespielt wird, in dem Gewalt
ein akzeptables Verhalten oder gar Spaßfaktor ist („happy slapping“).137 Das kann
zu Nachahmungen und Gewaltakzeptanz bei jungen Menschen führen, die ihre Persönlichkeit ausformen möchten.138
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss weist in seiner Stellungnahme zur
Bedeutung der Jugendgerichtsbarkeit in der Europäischen Union ausdrücklich darauf
hin, dass dieses „Faktorenbündel“ in allen EU-Mitgliedsstaaten vorhanden ist.139 Die
Gesichtspunkte sind mithin als „multiple causation approach“, als „Mehrfaktorenansatz“ zu verstehen.
133 Stellungnahme des EWSA (ABl. C 110/75), Ziffer 2.1.2; Parlamentsbericht (2007/2011(INI)),
Buchstabe F; der „labeling approach“ geht als Etikettierungstheorie zurück auf Tannenbaum,
Crime and Community, 1953; Lemert, Social Pathology, 1951 und Human Deviance, 1972 sowie Becker, Outsiders, 1963; zum Ganzen Gove, The Labeling of Deviance, 1980; in Deutschland vertreten von Sack KrimJ 1972, 3 ff.
134 Stellungnahme des EWSA (ABl. C 110/75), Ziffer 2.1.4 iVm 2.1.8; Parlamentsbericht
(2007/2011(INI)), Buchstabe F; zur Anomietheorie s. Merton in: Kriminalsoziologie, hrsg. von
Sack/ König, 1974, S. 283 ff.
135 Der ökologische Ansatz geht zurück auf Shaw/ McKay, Juvenile Delinquency and Urban Areas,
1942; s. auch Shaw, Delinquency Areas, 1929.
136 Stellungnahme des EWSA (ABl. C 110/75), Ziffer 2.1.6; Parlamentsbericht (2007/2011(INI)),
Buchstabe F.
137 Stellungnahme des EWSA, Ziffer 2.1.5; Parlamentsbericht (2007/2011(INI)), Buchstabe O; zum
„happy slapping“ (fröhliches Zuschlagen) s. VG Berlin, 3. Kammer, Beschluss vom 2.12.2005,
auszugsweise abgedruckt in ZJJ 2007, 219 ff.
138 Mößle/ Kleimann/ Rehbein, Bildschirmmedien im Alltag von Kindern und Jugendlichen, 2007,
S. 133 unter Angabe von Computerspielen wie „World of Warcraft“ und „Counter Strike“ (135);
s. auch Lösel/ Bliesener, Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen, 2003, S. 176.
139 Stellungnahme des EWSA, Ziffer 2.2.
36
3.2 Trends der Jugendkriminalität
Es ist problematisch, valide Aussagen zur Jugendkriminalität in Europa zu machen.
Folgendes kann vorweggestellt werden:
Europaweit wird von einer quantitativen Zunahme der Jugendkriminalität im Allgemeinen und von einer qualitativen Zunahme der Gewaltkriminalität im Besonderen
in den 90er Jahren berichtet.140 Diese Beobachtungen werden von einer Längsschnittuntersuchung141 zur Gesamtentwicklung der Jugendkriminalität in Europa getragen,
die den Zeitraum von 1950 bis 1995 abdeckt, und die sich hauptsächlich aus polizeilichen Daten, aber auch aus Erkenntnissen über Täter- und Opferbefragungen142
speist.
Die Beobachtungen lassen sich plastisch veranschaulichen durch zwei europäische
Vergleichsstatistiken zu Häu? gkeitszahlen von Raub/ räuberischer Erpressung und
von sexueller Gewalt (Rape) für die Jahre 1995 und 2000, wobei zu beachten ist, dass
diese nicht spezi? sch auf Jugendkriminalität zugeschnitten sind.
Polizeilich registrierte Fälle von Raub/räuberischer Erpressung, Häu? gkeitszahlen im europäischen Vergleich:143
140 Zusammenfassend Dünkel, Entwicklungen der Jugendkriminalität und des Jugendstrafrechts in
Europa, 2004, S. 3 f.
141 Von Estrada European Journal on Criminal Policy and Research 1999, 23 ff, (35 ff).
142 Sog. „self report studies“ bzw „victim surveys“.
143 Quelle: BMI/ BMJ (Hrsg.), 2. PSB, 2006, S. 48.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.