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Stellt man die UN-Instrumente in einen systematischen Zusammenhang, dann sind
alle Aspekte abgedeckt, die sich auch in einem jugendstrafrechtlichen Verfahren ergeben: Hatte die Prävention im Sinne der „Riyadh-Guidelines“ keinen Erfolg, so kommt
zunächst die von den „Beijing-Rules“ hervorgehobene Verfahrensumlenkung – Diversion – in betracht, bevor das Jugendgericht in einem gemäß der „UN-Kinderrechtskonvention“ mit strafverfahrensrechtlichen Garantien ausgestatteten Verfahren eine
unter Beachtung der „Tokyo-Rules“ verhältnismäßige Sanktion verhängt, die sich im
Falle von Freiheitsentzug an den „Havana-Rules“ zu orientiert hat.
2.2 Jugendstrafrecht auf der Ebene des Europarats
Auch der Europarat hat eine Reihe von Dokumenten zum Jugendstrafrecht erstellt.
Diese können in drei „Ecksteine“79 unterteilt werden.
Bereits in den 60er und 70er Jahren hatte sich der Europarat mit Fragen der Jugendkriminalität beschäftigt: 1960 wurde ein Bericht zur „Jugenddelinquenz im Nachkriegs-Europa“80 publiziert. 1966 und 1978 folgten zwei Entschließungen zu den Themen „Kurzzeitbehandlung junger, unter 21-jähriger Straftäter“81 sowie „Jugenddelinquenz und gesellschaftlicher Wandel“82. Diese Arbeiten waren „erste Schritte auf dem
Weg zu einer europäischen Jugendkriminalpolitik“83.
Der „Grundstein einer europäischen Jugendstrafrechtspolitik“84 wurde 1987 mit
der „Empfehlung über gesellschaftliche Reaktionen auf Jugendkriminalität“ gelegt:
Die Empfehlungen Rec. No. (1987) 20 „über die gesellschaftlichen Reaktionen
auf Jugendkriminalität“ und Rec. No. (1988) 6 „über die gesellschaftlichen Reaktionen auf Kriminalität unter Jugendlichen aus Gastarbeiterfamilien“:
Die „Empfehlung über die gesellschaftlichen Reaktionen auf Jugendkriminalität“85
von 1987 kann deshalb als Grundstein bezeichnet werden, weil sie den eben herausgearbeiteten Systemzusammenhang der UN- Instrumente erstmals in einem Dokument
beschreibt. Mithin stellt sie die erste umfassende Äußerung des Europarats zum Sach-
79 Neubacher in: Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, hrsg. vom
BMJ, 2001, S. 173.
80 Europarat (Hrsg.), Juvenile Delinquency in Post-war Europe, 1960.
81 Res. (1966)25E, „Short-term Treatment of Young Offenders of less than 21 Years“, abrufbar (auf
Englisch) unter www.coe.int.
82 Res. (1978)62E, „Juvenile Delinquency and Social Change“, abrufbar (auf Englisch) unter www.
coe.int.
83 Neubacher in: Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, hrsg. vom
BMJ, 2001, S. 172.
84 Rau in: Entwicklungstendenzen und Reformstrategien im Jugendstrafrecht im europäischen Vergleich, hrsg. von Dünkel/ van Kalmthout/ Schüler-Springorum, 1997, S. 520.
85 „Rec. No. R (1987)20 on Social Reactions to Juvenile Delinquency“, abgedruckt (auf Deutsch)
in BMJ (Hrsg.), Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, 2001, S.
197 – 201.
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gebiet des Jugendstrafrechts dar. In der Präambel nimmt sie ausdrücklich Bezug auf
die zwei Jahre zuvor von der Generalversammlung der United Nations verabschiedeten Beijing-Rules und auf die Entschließung über Jugendkriminalität und gesellschaftlichen Wandel von 1978. Die Europaratsempfehlung behandelt in fünf Abschnitten die
Bereiche „Prävention von Jugenddelinquenz“ (I), „Diversion“ (II), „Verfahren gegen-
über Jugendlichen“ (III), „Intervention gegenüber Jugendlichen“ (IV) und „Forschung“ (V).
Ein Jahr später (1988) wurde der Gehalt dieser Empfehlung durch die „Empfehlung
über die gesellschaftlichen Reaktionen auf Kriminalität unter Jugendlichen aus
Gastarbeiterfamilien“86 explizit auf das strafrechtswidrige Verhalten von jugendlichen
Ausländern und Einwanderern ausgedehnt. Gemäß der Präambel geschah dies „im
Hinblick darauf, dass die meisten europäischen Gesellschaften heute kulturell und rassisch vielgestaltig sind und die Mitgliedsstaaten des Europarats dies bei der Ausformung ihrer Politik zu berücksichtigen haben“. Die Empfehlung dient dazu, Diskriminierungen der betroffenen Personengruppe zu vermeiden. Sie geht besonders ein auf
die Punkte „Prävention“ (I), „Jugend(straf)-rechtsp? ege“ (III), Intervention“ (IV) und
„Forschung“ (V); ein eigener Abschnitt (II) wird der „Polizei“ gewidmet, weil die Polizeidienste „oft die erste Stelle sind, mit der in Schwierigkeiten geratene Jugendliche
in Berührung kommen“87.
Die Empfehlungen Rec. No (1992) 16 und Rec. No (2000) 22 über die Europäischen Grundsätze zu ambulanten Sanktionen und Maßnahmen, die Empfehlung Rec. No (2000) 20 „über die Rolle des frühzeitigen psychosozialen Einschreitens zur Verhütung kriminellen Verhaltens“ sowie die Empfehlung Rec. No (1999)
19 über Mediation in Strafsachen:
Den zweiten bedeutenden Eckstein der Europaratspolitik im Bereich des Jugendstrafrechts markiert die „Empfehlung über die Europäischen Grundsätze für gemeindebezogene Sanktionen und Maßnahmen“88 von 1992. Sie verfolgt das Ziel, Freiheitsstrafen mit Hilfe von alternativen, ambulanten – in der Gemeinschaft angewandten –
Sanktionen zurückzudrängen, um letztlich negative Folgen der Inhaftierung zu
vermeiden. Im Jahr 2000 erfolgte mit der „Empfehlung zur Verbesserung der Durchführung der Europäischen Grundsätze betreffend in der Gemeinschaft angewandte
Sanktionen und Maßnahmen“89 der Versuch, speziell die Umsetzung dieser Europäischen Grundsätze zu verbessern.
86 „Rec. No. R (1988)6 on Social Reactions to Juvenile Delinquency among Young People coming
from Migrant Families“, abgedruckt (auf Deutsch) in BMJ (Hrsg.), Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, 2001, S. 202 – 205.
87 Rec. No. (1988) 6, Ziffer 7.
88 „Rec. No. R (1992)16 on the European Rules on Community Sanctions and Measures“, abgedruckt (auf Deutsch) in BMJ (Hrsg.), Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, 2001, S. 206 – 222.
89 „Rec. No. R (2000)22 on Improving the Implementation of the European Rules on Community
Sanctions and Measures, abgedruckt (auf Deutsch) in BMJ (Hrsg.), Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, 2001, S. 223 – 228.
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In inhaltlichem Zusammenhang dazu steht die zeitgleiche „Empfehlung über die
Rolle des frühzeitigen psychosozialen Einschreitens zur Verhütung kriminellen
Verhaltens“90, die sich mit den Rahmenbedingungen von Prävention befasst.
Dazwischen erfolgte die „Empfehlung über die Mediation in Strafsachen“ von
1999.91 Sie beschäftigt sich mit einer einzelnen ambulanten Maßnahme (Mediation),
die dem deutschen so genannten „Täter-Opfer-Ausgleich“ entspricht. Die Empfehlung
betont dessen grundsätzliche Bedeutung, womit ein herkömmliches Strafverfahren
ersetzt, jedenfalls ergänzt werden kann.
Die Empfehlung Rec. No (2003) 20 „zu neuen Wegen im Umgang mit Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit“:
Den dritten, aktuellsten Eckstein bildet die Europaratsempfehlung „zu neuen Wegen
im Umgang mit Jugenddelinquenz und der Rolle der Jugendgerichtsbarkeit“92 von
2003. Schon vom Titel her ist sie gewissermaßen die Neuau? age der Empfehlung
„über die gesellschaftlichen Reaktionen auf Jugendkriminalität“ von 1987, auf die in
der Präambel Bezug genommen wird. Letztere wurde aus zwei Gründen als nicht mehr
ganz auf der Höhe der Zeit angesehen:93 Geographisch ist der Europarat in der zwischen den beiden Empfehlungen liegenden Zeit enorm gewachsen. Die neuen Mitgliedsstaaten kommen alle aus Zentral- und Osteuropa. Diese sind mit ähnlichen Problemen wie denen westeuropäischer Länder konfrontiert, müssen aber gleichzeitig
ihrem Weg in die europäische Integration ? nden.94
Mit der Neuau? age sollten also zum einen spezi? sch neue Situationen der neuen
Mitgliedsstaaten abgedeckt werden. Zum anderen erfolgte die Neuau? age gemäß der
Präambel „in der Erwägung, dass die Jugenddelinquenz in einigen Ländern Europas
als besorgniserregend erachtet wird“. Das könnte neue Antworten und neue Methoden
des Einschreitens erfordern.
Die Europaratsempfehlung von 2003 ist in sechs Abschnitte unterteilt: Nach den
„Begriffsbestimmungen“ (I), in denen die Jugendgerichtsbarkeit als förmlicher Teil
eines umfassenden Gesamtantwortkonzepts verstanden wird, werden unter einem
„mehr strategischen Ansatz“ (II) die Hauptziele der Jugendgerichtsbarkeit festgelegt.
Namentlich sind das Prävention, (Re-)Sozialisierung bzw. gesellschaftliche (Wider-)
Eingliederung und die Berücksichtigung von Opferinteressen. Für die Zielerreichung
gibt der Europarat „neue Antworten“ (III) und Hinweise zu deren „Umsetzung“ (IV).
Dabei betont er unter dem eigenständigen Gliederungspunkt „Rechte und Garantien“
90 „Rec. No. (2000)20 on the Role of early psychological Intervention in the Prevention of Criminality“, abrufbar (auf Englisch) unter www.cm.coe.int/ta/nc/2000/2000.20.htm.
91 „Rec. No. (1999)19 Concerning Mediation in Penal Matters“, abgedruckt (auf Deutsch) in BMJ
(Hrsg.), Internationale Menschenrechtsstandards und das Jugendkriminalrecht, 2001, S. 229 –
232.
92 „Rec. No. (2003)20 on New Ways of Dealing with Juvenile Delinquency and the Role of Juvenile Justice“, abrufbar (auf Deutsch) unter www.dvjj.de/data/pdf.
93 Dazu van der Laan Chronicle (12/2) 2003, 8 f.
94 S. Dünkel, Entwicklungen der Jugendkriminalität und des Jugendstrafrechts in Europa, 2004,
S. 18.
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(V), dass „alle in dieser Empfehlung vorgesehenen neuen Reaktionen und Verfahrensweisen im Rahmen der in den einschlägigen internationalen Instrumenten aufgeführten Rechte und Garantien zu sehen sind“. Den Abschluss bilden Ausführungen zur
„Weiterverfolgung, Bewertung und Verbreitung von Informationen“ (VI).
Zu der Europaratsempfehlung von 2003 gehört ein „Explanatory Memorandum“,
das die einzelnen Empfehlungen ausführlich kommentiert.95 Insofern ist es mit dem
of? ziellen Kommentar der „Beijing-Rules“ und dem Generalkommentar zu Kinderrechten in der Jugendgerichtsbarkeit vergleichbar.
Historisch, systematisch und inhaltlich sind die Instrumente der United Nations und
des Europarats auf das Engste miteinander verknüpft; sie entsprechen sich. Stellt man
die Dokumente der beiden internationalen Ebenen darüber hinaus in einen teleologischen Zusammenhang, so sind die Europaratsempfehlungen von dem weitergehenden
Ziel getragen, den Instrumenten der United Nations einen „spezi? sch europäischen
Regelungsgehalt“ zu verleihen.96
2.3 Jugendstrafrecht auf der Ebene der Europäische Union
Spezi? sch unionsrechtliche Instrumente, die das Jugendstrafrecht betreffen und die
mit denen der United Nations und des Europarats vergleichbar wären, existieren auf
der Ebene der Europäischen Union (noch) nicht. Es gibt aber Programme, Maßnahmen und Initiativen, die sich an der Flanke zur Jugendgerichtsbarkeit be? nden. Die
meisten stellen – im Sinne der „Ryiadh-Guidelines“ – potentielle Präventionsfaktoren
zur Jugendkriminalität dar.
Dazu zählen etwa die auf dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates 1997 in Luxemburg angenommene „Europäische Beschäftigungsstrategie“, die 2000 in Nizza
angenommene „Europäische Sozialagenda“ nebst der im selben Jahr erfolgten Entschließung des Rates „zur sozialen Integration der Jugendlichen“97 und die Entschlie-
ßung des Rates „zu dem Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in
Europa“98 von 2002. Aktuelle Programme99 sind das Programm „Jugend in Aktion“
(2007 – 2013) mit dem Ziel der Unterstützung benachteiligter Jugendlicher, das Programm „Equal“ zur Stärkung der sozialen Integration, das Programm „Daphne III“ zur
Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie die spezi? schen Programme „Kriminalprävention und Kriminalitätsbekämpfung“ und „Strafjustiz“, jeweils für den Zeitraum 2007 – 2013.
Es gibt aber auch Aktivitäten, die der „Motor“ zur Entwicklung eines unionsrechtlichen Instruments zum Jugendstrafrecht sein können. Es sind drei Anstöße:
95 S. Europarat (Hrsg.), Explanatory Memorandum on Recommendation Rec. (2003) 20 concerning new ways of dealing with juvenile delinquency and the role of juvenile justice, 2003.
96 S. Präambel zu Rec. No. (2003) 20.
97 ABl. C 374 vom 28. Dezember 2000.
98 ABl. C 168 vom 13. Juli 2002.
99 Einsehbar unter www.europarl.de.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Jugendstrafrechtssysteme in Europa sind sehr verschieden. Anhand des Rechtsvergleichs und der Rechtsentwicklung in der EU und mittels der Völkerrechtsinstrumente zur Jugendgerichtsbarkeit formuliert der Autor Elementarteile eines Europäischen Jugendstrafrechts. Behandelt werden:
• Konzeption und Zielsetzung
• Alter und Prüfung der Strafbarkeit
• der Umgang mit jungerwachsenen Tätern
• Diversion und Entkriminalisierung
• der Sanktionskatalog nebst Freiheitsentzug
Neben einer Analyse von Trends in der Jugendkriminalität und kriminologischer Erklärungsansätze werden die Wünschbarkeit und Zweckmäßigkeit einer gemeineuropäischen Rahmenstrategie im Jugendstrafrecht erörtert sowie Harmonisierungswege für die europäische Integration aufgezeigt.
Die Arbeit bündelt verstreute Reformansätze auf nationaler und internationaler Ebene zu einem neuen Anlauf. Sie hilft, eine zeitgemäße und angemessene Reaktion auf die verschiedenen Formen der Jugenddelinquenz zu erarbeiten. Sie richtet sich an Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Jugendrecht.
Der Autor war Doktorand und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention der Christian-Albrechts-Universität Kiel.