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12. Donald Engel: „Jeder kennt dich du wirst angehimmelt bald wie so'n Gott“ –
Gewalt als Mittel der Anerkennung im Kontext biographischer
Zugehörigkeitskonflikte
Donald Engel wird 1982 geboren. Er wächst mit einem vier Jahre jüngeren Bruder
und einer sechs Jahre jüngeren Schwester bei seinen Eltern in einer mittelgroßen
Stadt in der DDR auf. Als seine Mutter mit der Schwester schwanger ist, zieht die
Familie in eine neue Wohnung, in der es aufgrund eines technischen Defekts kurz
nach dem Umzug brennt. Daraufhin lebt Donald vorübergehend bei der Großmutter
mütterlicherseits auf dem Land. Ein halbes Jahr später zieht Donald zu seiner Familie zurück, die in der Wohnung der Großmutter väterlicherseits Unterkunft gefunden
hat. Anfang 1998 zieht die Familie erneut um. Unklar bleibt, ob Donald zu diesem
Zeitpunkt in der Familie lebt oder in einer Institution untergebracht ist.
Donalds Vater ist LKW-Fahrer und nach der politischen Wende in der DDR erwerbslos. Seine Arbeitslosigkeit ist durch kurzfristige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unterbrochen. Donalds Mutter arbeitet in der DDR als Köchin in einer Werkskantine. Nach der politischen Wende ist sie als Sachbearbeiterin bei einem neuen
Arbeitgeber beschäftigt.
Mit sechs Jahren wird Donald eingeschult. Nach der Grundschule besucht er die
Hauptschule, wiederholt die achte Klasse und verlässt die Schule mit dem Abgangszeugnis der achten Klasse. Gegen Ende seiner Schulzeit wechselt er häufig die
Schule, da er in unterschiedlichen Institutionen untergebracht wird: Im Dezember
1997 erfolgt sein erster Aufenthalt in einem Heim, in dem er statt einer Untersuchungshaft untergebracht wird, aus dem er aber einen halben Monat später entweicht. Er wird von der Polizei aufgegriffen und von Februar bis März 1998 in Untersuchungshaft genommen. Danach wird er erneut im Heim untergebracht. Für ein
Gutachten wird er zwischenzeitlich kurz in eine psychiatrische Anstalt verlegt. Als
er eine Bewährungsstrafe erhält, muss er das Heim verlassen. Er zieht zurück zu
seinen Eltern und wird kurze Zeit später in einer weiteren psychiatrischen Anstalt
untergebracht. 1998, als Donald 16 Jahre alt ist, wird seine Bewährungsstrafe wegen
Raubes zu einem Jahr Strafhaft aufgrund von Autodiebstahl und des Tragens verfassungswidriger Kennzeichen umgewandelt. Während dieser Inhaftierung finden das
Interview zu den Hafterfahrungen (I) und das biographische Interview (II) statt.
Ungefähr einen Monat nach dem biographischen Interview (II), wir Donald im Frühjahr 1999 aus der Haft entlassen. Sieben Wochen nach der Entlassung, in denen er
ein Berufsvorbereitungsjahr beginnt, abbricht und eine Erstausbildung zum Koch
anfängt, wird er erneut verhaftet und in Untersuchungshaft gebracht. Die zweite
Jugendstrafe beträgt zweieinhalb Jahre wegen Körperverletzung und bewaffnetem
Raub. Während dieser Inhaftierung wird das erste Längsschnittinterview (III) und
ein Jahr später das zweite Längsschnittinterview (IV) mit ihm geführt. Donald
schließt während seiner zweiten Inhaftierung ein Berufsvorbereitungsjahr ab und
absolviert seinen Hauptschulabschluss.
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„Bloß weil ich denn halt uffjesprung bin und bisschen härter jemacht hab, bin ich
halt zum Täter jewordn“ – Abwehr von Opfererfahrungen
Gewalt spielt in Donald Engels Erzählung über die Hafterfahrungen (I) zunächst
keine bedeutende Rolle. Um seine Strategie im Umgang mit drohenden Konflikten
zu beschreiben, greift Donald auf ein ungewöhnliches Wort zurück: „glimpfen“ (I).
Mit „glimpfen“ beschreibt er seine Strategie, durch Sprechen Einfluss auf die anderen Inhaftierten zu nehmen, wenn sich Probleme und Schlägereien androhen. Der
Begriff „glimpfen“ lässt sich dabei in zwei Richtungen lesen: Entweder als verunglimpfen, das synonym für schmähen, abwerten oder erniedrigen verwendet wird
oder als glimpflich, das als Synonym für entgegenkommend, nachsichtig, schonend,
wohlwollend oder gutgesinnt steht.108 Diese zwei Lesearten werfen die Frage auf, ob
Donald in den Gesprächen gezielt Mitinhaftierte verunglimpft, um dadurch andere
Inhaftierte für sich zu gewinnen oder ob er hofft, dass die Situation für ihn durch
klärende Gespräche im Vorfeld glimpflich ausgeht. Im weiteren Verlauf der Sequenz bestätigt sich die zweite Lesart, in der Donald das Ziel seiner Strategie beschreibt: „damit’s nich zur Schlägerei wird“ (I).
In diesem Zusammenhang ist in seiner Erzählung auffällig, dass er sich auf die
Frage nach seiner Position in der Gefangenenhierarchie zunächst in der Mitte und
sofort im Anschluss daran „na fast ganz unten doch“ verortet. Die Position unten in
der Gefangenenhierarchie ist meist mit Unterdrückungserfahrungen verbunden, auf
die Donald mit seiner Selbstverortung anspielt, die er aber in dem Interview nicht
explizit benennt. Donald antwortet häufig wortkarg und floskelhaft, wenn es um die
Erfahrungen in der Inhaftiertengemeinschaft geht. Dies wird deutlich, als er über die
Situation erzählt, in der er zwei Wochen lang auf Transport und damit in unterschiedlichen Haftanstalten untergebracht ist:
D: [...] da liegt mer mit acht Mann off der Bude is schon bisschen kompliziert mit acht Mann
gleichzeitig klar zu kommen (I: Hm) entweder klappt det oder klappt det nich (lacht kurz)
I: Und wie war’s bei Ihnen?
D: Klappt immer muss klappen (I)
Die Anzahl von acht Inhaftierten in einem Haftraum verweist darauf, dass Donald
während des Transports in einer Erwachsenenvollzugsanstalt untergebracht ist. Er
beschreibt die Situation als kompliziert, relativiert dies jedoch zugleich durch das
„bisschen“. Es gibt für ihn nur zwei Möglichkeiten: entweder es klappt oder es
klappt nicht. Er deutet damit Konflikte an, die er jedoch, wenn er die allgemeine
Beschreibung verlässt und über sich spricht, sofort abwehrt. Es „muss klappen“
verweist zunächst auf die Bedeutung von Gewalt als Zwang. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Donald im Interview nicht benennen kann, dass es
nicht „klappt“, ohne als Opfer dazustehen. Er vermeidet über konflikthafte und
108 Im Rechtsdeutsch existiert das Verb „glimpfen“ im Sinne von etwas angemessen machen,
rechtlich begründen, nachstehen.
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schmerzhafte Erfahrungen in der Inhaftiertengemeinschaft zu sprechen und Opfererfahrungen zu benennen.
Die Abwehr von belastenden Momenten in der Haft wird noch in einer weiteren
Textstelle deutlich, die sich ebenfalls auf die Situation im Erwachsenenvollzug während des Transports bezieht. Die „Älteren“ im Haftraum bezeichnet er als „cooler
drauf“ und beschreibt folgenden Unterschied zwischen erwachsenen und jugendlichen Inhaftierten:
D: Locker wenn ich mir einfach so denke mit Jugendliche: „och ich bin im Knast das erste Mal
wat soll ich’n machen“ und „böhh“ und sitzen schon sechs sieben Monate dann hängt das zum
Hals raus (I: Hm) Erwachsener nimmt das locker hin
I: Hm und Sie selbst?
D: Ich nehm das och locker (I: Hm) ganz locker. Schließer könn uns lieben oder hassen einmal
müssen se uns entlassen. (I)
Aus der Perspektive der Jugendlichen thematisiert Donald eine schmerzhafte und
verzweifelte Situation der Inhaftierung. Obwohl er zum Zeitpunkt des Interviews
selbst erst sechzehn Jahre alt ist, lehnt er diese Sicht auf die Haft ab („dann hängt
das zum Hals raus“), wobei unklar bleibt, ob es ihm zum Hals raushängt. Deutlich
wird jedoch, dass er über die Identifizierung mir den Erwachsenen, die in seiner
Erzählung die Inhaftierung „locker“ nehmen, die schmerzhafte und vor allem ohnmächtige Erfahrung von sich weist. Er stellt sich selbst als erwachsen und somit
auch als „cooler drauf“ dar. Er nimmt die Inhaftierung nicht nur „locker“, sondern in
gesteigerter Form „ganz locker“. Am Ende der Sequenz greift Donald einen Reim
über die Vollzugsbeamten („Schließer“) auf. Indem er sich auf einen kollektiven
Text der Inhaftierten bezieht, wird sichtbar, dass er sich mit der Gefangenengemeinschaft identifiziert.
Im Gegensatz zu der eher konfliktfreien und coolen Beschreibung über die Situation in Haft steht eine Passage, in der er über ein Missverständnis zwischen ihm und
seiner Mutter während seiner Inhaftierung erzählt. Er schreibt ihr daraufhin einen
Brief und beschreibt seine Situation im Interview folgendermaßen:
D: Nich geantwortet (I: Hm) da hab ick ja dann och schon langsam Panik gekriegt (I: Hm)
wann die jetzt nich kommt Menschenskinder wat mach ich dann
I: Hm und ham Sie da mit jemand geredet dann zwischendurch (D: Hm) im im Gefängnis als
Sie so unruhig warn
D: Geredet ja aber abends sin sind mir dann so die Gedanken gekommen (I: Hm) kommt se
nun kommt se nich (I: Hm) so am Tage kann man eigentlich ziemlich abschalten bloß abends
dann (I: Hm) wenn dann wieder Einschluss is (I: Hm) dann sitzt man schon da wenn en bisschen Langeweile is (I: Hm) wat nu wie soll’s anders lofen das eigentlich die Zeit am
schlimmsten, die en so deprimiert hier drinne (I)
Weist die Passage durch die Frage „wat mach ich dann“ auf den ersten Blick eine
sprachliche Parallele zu der vorherigen Passage („wat soll ich’n machen“) auf, zeigt
sich jedoch ein grundlegender Unterschied in der Art und Weise, wie er über den
Konflikt spricht. Donalds Mutter antwortet ihm nicht auf seinen Brief, so dass er
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unsicher ist, ob sie zum nächsten Besuchstermin erscheint („wann die jetzt nich
kommt“). Diese Unsicherheit lässt Panik in ihm aufkommen. Mit dem Begriff „Panik“ verweist Donald darauf, wie groß seine Angst ist, dass die Mutter ihn nicht
besucht. Er ist in der Situation in Haft abhängig von ihrer Reaktion109. Es wird deutlich, dass er die Zeit, in der er abends im Haftraum eingeschlossen ist und sich nicht
ablenken kann als „am schlimmsten“ und als deprimierend erlebt. Wehrt er die konflikthaften Erfahrungen in der Inhaftiertengemeinschaft im Interview ab, thematisiert
Donald in dieser Passage die Angst, dass seine Mutter ihn nicht besucht. Er erzählt
diese Erfahrung als tiefen Konflikt, ohne sich hinter einer coolen Selbstinszenierung
zu verstecken.
Die coole Selbstinszenierung hingegen wird besonders in Passagen deutlich, in
denen Donald über sich im Zusammenhang mit seinen „Kumpels“ spricht. Im Interview über die Hafterfahrungen (I) erzählt Donald über die Untersuchungshaft, dass
er einen „Haufen Leute“, seine „Kumpels“, kannte. Als sein Mittäter zwei Wochen
nach Donald inhaftiert wird, ist nur noch „Party“ in der Haftanstalt. Diese Situation
kontrastiert er mit der Situation in Strafhaft, in der er nicht so viele Inhaftierte kennt.
Auch im ersten Längsschnittinterview (III), das ungefähr ein Jahr später in derselben
Jugendhaftanstalt während seiner Reinhaftierung mit ihm geführt wird, freut sich
Donald über Briefe von „Kumpelinen“110, die ihm schreiben, dass „Kumpels“ von
ihm gegen Bewährungsauflagen verstoßen. Auf die Frage der Interviewerin, ob
Donald auf die Inhaftierung seiner „Kumpels“ wartet, antwortet er:
D: Na freilich (I: Hm) s muss sein wenn die dann noch hier sind Mensch dann is Holiday on
Ice hier (lacht) (I: Hm) kann ich och wieder nen lauten machen (lacht)
I: „Den lauten“? (D: Na) Fehlt Ihnen im Moment
D: Der fehl mir nich (I:..) ich hab das tut mir och so recht gut jetzt hier ma so nen ruhigen zu
schieben (I: Hm) im Gegensatz zu draußen nur Stress Trouble (I: Hm) hier ma mehr privat
klene Pause machen (I: Hm) dat geht schon besser
I: Also die Kumpels und die (D: Ich sag mal wenn die da wärn sag mal) Kumpelinen schreiben
Ihnen
D: Ja wenn die da wärn ich sag mal so mehr (...) würd ich hier och nich auftreten (I: Hm) bloß
so das nötigste (I: Hm) bloß was is jetz im Endeffekt wieder das nötigste
I: Schwer zu sagen
D: Das kann ja wieder bis (Pfeift) bis zum Nachschlag gehen (III)
109 Auf die Bedeutung, dass ihn seine Mutter in Haft nicht besuchen kommen könnte, wird an
anderer Stelle noch ausführlicher eingegangen. Auf eine tiefergehende Interpretation der Mutter-Sohn-Beziehung, die sich hier anbietet, wird deshalb an dieser Stelle verzichtet.
110 „Kumpelinen“ ist ein Begriff, den Donald im Interview verwendet und den die Interviewerin
in der Interaktion der folgenden Passage aufgreift. Der Begriff „Kumpeline“ findet sich in unterschiedlichen Zusammenhängen, wie z.B. in Beschreibungen des Frauenbildes in DDR-
Zeitschriften der 50er Jahre (vgl. Merkel 1992) oder in Studien zu Rechtsextremismus, in denen Frauen der rechten Szene unter anderem als „geschlechtsneutrale Kumpeline“ (Möller &
Schuhmacher 2007: 478) beschrieben werden.
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Donald beschreibt in dieser Passage die Bedeutung seiner „Kumpels“. Wenn diese ebenfalls inhaftiert sind, wird das Gefängnis zu einer Eisrevue. Im Kreis seiner
„Kumpels“ kann Donald „wieder nen lauten machen“. Dies wirft die Frage auf, ob
er gegenwärtig eher kleinlaut ist. Donald schwankt in der Passage jedoch hin und
her. Ist er zunächst euphorisch über die Vorstellung, dass seine „Kumpels“ ebenfalls
in Haft sind, räumt er im Verlauf der Passage ein, dass er ganz froh ist, „nen ruhigen
schieben“ zu können. Er kontrastiert die Ruhe in der Haftanstalt mit dem „Stress“
und „Trouble“ vor der Inhaftierung. Im nächsten Schritt relativiert er das Bild, „nen
lauten“ zu machen, wenn seine „Kumpels“ ebenfalls inhaftiert wären, indem er sagt,
dass er „hier och nich auftreten“ würde. An dieser Stelle greift er das Bild des Stars
auf, der seinen Auftritt hat, wenn die „Kumpels“ anwesend sind. Auffällig an der
Passage ist jedoch Donalds Kreisen um die Frage, was das „Nötigste“ ist. Donald
scheint mit der Frage nach dem „Nötigsten“ die Grenzen des Handlungsspielraums
der Inhaftierten auszuloten: zwischen notwendigem Verhalten und der Bewertung
durch die Institution, ob das Verhalten nötig war. Auffällig ist, dass offen bleibt, was
„so das nötigste“ Verhalten bedeutet. Dies spiegelt sich auch in der Interviewinteraktion wieder, in dem die Interviewerin die Situation ebenfalls offen hält
(„schwer zu sagen“). Auf die Bewertung durch die Institution spielt Donald an, in
dem er sagt, dass unter Umständen „das Nötigste“ von der Institution mit „Nachschlag“ sanktioniert wird. Mit „Nachschlag“ thematisiert er, dass im Fall einer Anzeige zum Beispiel aufgrund einer begangenen Körperverletzung ein weiteres Verfahren mit einer möglichen Erhöhung des Strafmaßes eröffnet werden kann.
Donalds Ringen um „das Nötigste“ im Zusammenhang mit Sanktionen durch die
Institution gewinnt seine Bedeutung im Kontext einer körperlichen Auseinandersetzung, über die er in diesem ersten Längsschnittinterview (III) das erste Mal erzählt,
auf die er jedoch ein Jahr später im zweiten Längsschnittinterview (IV) erneut zu
sprechen kommt. Ein Mitschüler in der Schule der Haftanstalt fordert Donald im
Unterricht auf, ihm seinen Zirkel zugeben. Donald verweigert ihm den Zirkel und
die Situation eskaliert. Donald fühlt sich angegriffen, setzt sich zur Wehr und erzählt: „Bloß weil ich denn halt uffjesprung bin und bisschen härter jemacht hab, bin
ich halt zum Täter jewordn“ (IV).111 Zentral in dieser Sequenz ist, dass Donald um
die Frage kreist, wer Täter und wer Opfer ist. Auffällig dabei ist, dass es in seiner
Erzählung zwei Täter gibt, aber kein Opfer. Aus seiner Sicht ist der Mitinhaftierte
der Täter, aber das kann er im Interview nicht benennen, ohne selbst Opfer zu sein.
Hier zeigt sich eine Parallele zu der Passage aus dem Interview über die Hafterfahrungen (I), in dem er zwei Jahre zuvor über seine Unterbringung im Haftraum mit
acht weiteren Inhaftierten während des Transports erzählt. Während er im ersten
Interview keine Konflikte beschreibt, thematisiert Donald in dieser Passage, dass er
angegriffen wird. Er wird angegriffen und darf nicht zum Opfer werden. Er wehrt
den Angriff gegen den Körper ab und zugleich die Erfahrung von Schwäche.
111 Die gesamte Textpassage wurde bereits ausführlich in Kap. I.4 interpretiert. Hier wird sie im
Kontext des Falles dargestellt und die Darstellung der Interpretation erfolgt in gekürzter
Form.
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Donald sich in der Gefangenenhierarchie eher unten positioniert. Er vermeidet über konflikthafte Erfahrungen in der
Inhaftiertengemeinschaft zu sprechen und Opfererfahrungen zu benennen. Gewalt
erscheint wie ein Zwang, der Zwang sich zur Wehr setzen zu müssen und nicht zum
Opfer zu werden. Er weist Ohnmacht und Schwäche durch eine coole Selbstinszenierung zurück, die im Zusammenhang mit seinen „Kumpels“ besonders sichtbar
wird. Diese coole Selbstinszenierung steht jedoch im Kontrast zu den schmerzhaften
Erfahrungen der Inhaftierung, die er im Zusammenhang mit der Trennung von seiner Mutter beschreibt. Den tiefen Schmerz wehrt er in der Interviewerzählung nicht
ab und seine Verletzlichkeit wird sichtbar.
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie sich die coolen Selbstinszenierungen, in denen Gewalt als Zwang erscheint, die Abwehr der Opfererfahrungen und
der schmerzhafte Trennungskonflikt mit der Mutter biographisch verstehen lassen.
„Oma kam nich mehr, war schon schade“ – erste Verlusterfahrungen
Donald Engel erzählt im Auftakt des biographischen Interviews, dass die Erzieher
im Kindergarten versucht haben, ihn von seinem Bruder fernzuhalten. Er beginnt
somit seine lebensgeschichtliche Erzählung mit der Trennung von einem Familienmitglied durch eine Institution. Dies ist ein zentrales Thema in Donalds Erzählung,
das auch im weiteren Verlauf des Interviews von Bedeutung ist. Als Donald fünf bis
sechs Jahre alt ist, brennt es aufgrund eines technischen Defekts in der Wohnung, in
der er mit seinen Eltern, seinem kleinen Bruder und seiner gerade geborenen
Schwester lebt. Donald, der während des Brandes im Kindergarten ist, zieht daraufhin zu seiner Großmutter mütterlicherseits und ihrem damaligen Mann aufs Land.
Seine Schwester und sein Bruder bleiben mit den Eltern bei der Großmutter väterlicherseits in der Stadt. Als diese Großmutter kurz darauf in eine neue Wohnung umzieht, bleiben die Engels dauerhaft in ihrer Wohnung. Donald lebt fast ein halbes
Jahr bei der anderen Großmutter, weil es bei ihr „viel schöner“ als zu Hause ist. Er
erfährt dort die volle Aufmerksamkeit seiner Großeltern ohne Konkurrenz der Geschwister. Er steht im Mittelpunkt, spielt mit dem Großvater Verstecken oder beschäftigt sich mit den Tieren, die die Großmutter besitzt.
Als Donalds Einschulung bevor steht, muss er gegen seinen Willen von seiner
Großmutter zurück zu den Eltern ziehen. In seiner Erzählung bedeutet die Institution
Schule die Trennung von der Großmutter und ihrem Mann. Nachdem Donald wieder
bei seinen Eltern und Geschwistern lebt, bricht der Kontakt der Familie zu ihr ab.
Nach der Beziehung zur Großmutter gefragt, antwortet Donald, „ging’s eigentlich
bergab“ und beschreibt im Anschluss daran: „Oma kam nich mehr, war schon schade“ (II). Donald erlebt eine erste Verlusterfahrung mit einer wichtigen Bezugsperson. Die Gründe für den Kontaktabbruch kennt er nicht und auch von ihrem Tod, zu
dieser Zeit ist Donald ungefähr zwölf Jahre alt, erfährt Donald erst, als sie bereits
beerdigt ist.
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Die für ihn ungewohnte und veränderte Situation kurz vor seiner Einschulung
verbunden mit der Verlusterfahrung der Großmutter kumuliert in Donalds Erzählung
mit weiteren einschneidenden Veränderungen, die er kurz nach seiner Einschulung
ansiedelt. Sein Vater wird im Zuge der politischen Wende in der DDR arbeitslos und
verändert sich „dolle“ (II).
„rumjesessen, jesoffen, nich mehr rumgekeilt mit uns“ – Abwendung des Vaters
Donald erinnert lebhafte und sinnliche Situationen mit seinem Vater von „früher“.
Der Vater, der in der DDR als LKW-Fahrer arbeitet, nimmt Donald sonntags ab und
zu mit auf Tagestouren, die er folgendermaßen beschreibt: „war aber lustig, mal die
Welt angucken als klener Sproß“ (II). Donald verwendet mit „Sproß“ eine interessante Metapher, die ihn als direkten Abkömmling des Vaters zeigt. Dies verweist auf
die Identifikation mit dem Vater und das Gefühl der Nähe zu ihm. Wie lebendig die
Erinnerungen sind, wird deutlich, wenn Donald erzählt, wie er seinen Vater bei einer
Lieferfahrt in die Bäckerei begleitet und mit ihm die Brotherstellung besichtigt:
„Ganz frisch (I: Hm) dat hat gerochen ah ich wollt da nich mehr raus“ (II). Diese
sinnliche und leibliche aber auch sehnsuchtsvolle Erinnerung an Erlebnisse mit
seinem Vater beschreibt Donald noch an einer anderen Stelle. Der Vater „tobt“ und
„catcht“ mit den Kindern, nachdem sie die Matratzen zum Schutz vor Verletzungen
an die Wände gestellt haben. Das Familienideal mit einem fürsorglichen und verspielten Vater, der mit ihm „tobt“, wird brüchig, kurz nachdem Donald zur Schule
geht, „da durften wer sowas dann nich mehr“ (II). In Donalds Erzählung beendet die
Institution Schule eine sorglose Kindheit und das Spiel mit einem liebevollen und
zugewandten Vater. Wenn Donald dennoch versucht hat, mit ihm zu toben, reagiert
der Vater folgendermaßen: „Nüscht, bloß faul rumgesessen (I: Hm), war aber och
arbeitslos“ (II). Es wird deutlich, dass die Veränderung des Vaters nicht mit der
Institution Schule – Donald gibt damit einen Zeitpunkt an – sondern der Arbeitslosigkeit des Vaters zusammenhängt, die er für sein Verhalten verantwortlich macht.
„Toben“, „catchen“ und „rumkeilen“ sind verbindende Elemente zwischen Donald
und seinem Vater, über die sie gemeinsam Spaß erleben und Nähe herstellen. Die
Arbeitslosigkeit des Vaters führt jedoch nicht dazu, dass er sich Zeit für seine Kinder nimmt und sich intensiver mit ihnen beschäftigt, sondern zum Gegenteil. Donald
erlebt somit zu der Zeit, die in die politische Wendezeit fällt, mehrere Umbrüche:
Die Arbeitslosigkeit des Vaters stellt einen äußeren Einschnitt in die Familie dar und
zugleich wendet sich sein Vater von ihm ab, einen Einschnitt, den Donald als inneren Einschnitt in die Beziehungsdynamik erlebt.
Donald beschreibt die Veränderungen seines Vaters folgendermaßen: „Hat'n ganzen Tag bloß noch rumjesessen, jesoffen, nich mehr rumgekeilt mit uns, is immer
mehr bergab mit ihm gegangen“ (II). Donald erzählt, dass der Vater passiv herumsitzt und thematisiert in der Passage das erste Mal den Alkoholkonsum des Vaters.
In Donalds Erleben fällt die Nähe, die sich über das „rumkeilen“ stiftet, weg. In der
Sequenz zeigt sich eine sprachliche Parallele zu der Trennungserfahrung mit der
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Großmutter. Als Donald nach der Beziehung zur Großmutter nach seiner Rückkehr
zur Familie gefragt wird, sagt er, es ging „bergab“ und beschreibt den Beziehungsabbruch und die schmerzhaften Verlusterfahrungen. Auch auf den Vater bezogen
beschreibt er, dass es mit ihm „bergab“ ging. Das Abwenden des Vaters im Sinne
dessen, dass er nicht mehr als Beziehungsperson verfügbar ist, die fürsorglich ist
und ihm die „Welt“ zeigt, kann als eine weitere Verlusterfahrung Donalds gedeutet
werden. Donald erlebt somit mehrere biographische Umbrüche kurz hintereinander.
Der Alkoholkonsum des Vaters führt in Donalds Erzählung zu Aggressionen:
wenn „mein Vater immer besoffen war, war er sehr aggressiv (I: Hm) ich bin och
immer denn aggressiv gewesen“ (II). Donald beschreibt hier einen Kausalzusammenhang zwischen der Aggression des Vaters und seiner Aggression, die ihre Bedeutung vor dem Hintergrund einer Passage erhält, in der Donald über eine Auseinandersetzung zwischen seinen Eltern erzählt, in die er eingreift:
Muttern meinte „du sollst nich so viel saufen“. Vater „ich sauf so viel wie ich will“ und denn
meinte Muttern bloß noch „du sieht doch wat mit Opa gewesen is und der hat sich och zu Tode
gesoffen. Das wird mit dir n´dann och bald passiern“. Und jedenfalls kam ich da grad rinn und
hab bloß noch gesehn wie Vatern ausgeholt hat und Muttern paar geklatscht (I: Hm) und da
bin ick glei rauf auf Vatern. (II)
Die Passage ist gekennzeichnet durch die Angst der Mutter, dass ihr Mann sterben könnte wie der Großvater, zugleich droht sie ihm mit seinem Tod. Die Gewalt
des Vaters richtet sich gegen seine Frau, nachdem Donalds Mutter ihren Mann verbal angegriffen und ihm eine einschränkende Anweisung erteilt hat („‚du sollst nich
so viel saufen’“). In diese Auseinandersetzung greift Donald ein. Er beschreibt sich
als schnell („bin ick glei rauf auf Vatern“), was auf eine ängstliche, erschrocken und
affektive Seite seiner Aggression hinweisen könnte, ohne dass deutlich wird, was
genau passiert ist. Hat er sich mit seinem Vater geschlagen oder ihn davon abgehalten, die Mutter weiter zu schlagen? Donald nimmt in seiner Erzählung die Beschützerrolle gegenüber seiner Mutter ein. Der Vater ist zunächst der Schlagende, gerät
zugleich jedoch durch das Gebot der Mutter („‚du sollst nich so viel saufen’“) und
die Intervention seines Sohnes in eine ohnmächtige Position. In der Erzählung deutet
sich die Viktimisierung des Vaters an, auffällig ist jedoch, dass Donald vermeidet zu
benennen, ob er den Vater geschlagen hat. Hier zeigt sich eine Strukturparallele zu
der Passage über die Auseinandersetzung um den Zirkel im Gefängnis. Auch in
dieser Passage gibt es ausschließlich Täter (und eine Täterin). Vermeidet Donald im
Interview über die Hafterfahrungen zu benennen, dass er das Opfer ist, kann er sich
in dieser Passage nicht als Täter darstellen, ohne dass sein Vater zum Opfer wird.
Neben dem Alkoholkonsum des Vaters beschreibt Donald sich selbst als Grund
für Streit zwischen den Eltern: „also es ging immer nur um mich“ (II). Die Sequenz
verweist einerseits auf seine Rolle als Auslöser für Konflikte, zugleich scheinen
Stolz und Exklusivität durch. Donald erfährt Aufmerksamkeit und steht im Mittelpunkt, wenn sich die Eltern streiten. Die Sequenz erinnert damit an die Situation bei
der Großmutter, als er ebenfalls die volle Aufmerksamkeit erwachsener Bezugspersonen genossen hat. In seiner Erzählung ist es die Mutter, die ihn häufig vor Sanktionen des Vaters schützt. Donald wiederum nimmt sie vor dem Vater in Schutz.
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„ich wollte allene lofen“ – ambivalenter Kampf um Autonomie
Donald beschreibt seine Eltern als uneins bezüglich ihrer Erziehungsvorstellungen
und -maßnahmen. Wenn der Vater Stubenarrest erteilt, setzt sich meist die Mutter
gegen den Vater durch und verkürzt den Arrest: „ich war mal böse böse Jung [...]
Für'n Vati (I: Hm) Mutti hat denn immer versucht mich in Schutz zu nehmen“ (II).
Die Mutter ist für Donald sein „Heiligtum“ (I). Während sein Vater für ihn eine
Respektsperson darstellt, antwortet Donald auf die Frage nach einer Vertrauensperson: „Mutti (I: Hm) Mutti. Vati is eigentlich kaum hier, wenn wat is“ (II). An dieser
Stelle wird erneut deutlich, dass der Vater scheinbar für ihn kein Ansprechpartner
ist, obwohl er eigentlich derjenige ist, der den ganzen Tag über zu Hause ist und
seine Mutter ist erwerbstätig. Dies spitzt sich in der folgenden Sequenz zu, in der er
seine Mutter beschreiben soll:
Lustig, akkurat. Muttern hat immer allet locker gesehn, nich so verklemmt und verbissen wie
Vattern [...] Mit Mutter konnt ich über alles reden, wo Probleme sind, schulische über allet.
(I: Hm) Muttern war immer da. (II)
Hier beschreibt Donald seine Eltern abermals in einem starken Kontrast: die „lockere“ Mutter, mit der er über „alles reden“ kann und den „verbissenen“ Vater. Die
Mutter „war immer da“ für ihn. Unklar bleibt jedoch, was das bedeutet. Er konnte
mit ihr über „alles reden“, aber wie hat sie reagiert? An einer anderen Stelle des
Interviews beschreibt Donald „locker“ folgendermaßen: „hat sich kener drum interessiert, ob ich irgendwat gemacht hab oder nicht“ (II). Hier zeigt sich, dass „locker“
auch mit gleichgültig übersetzt werden kann. Er konnte zwar mit ihr „über alles
reden“, war mit ihrer Reaktion auf die Gespräche jedoch nicht immer einverstanden.
So zahlt sie Donalds Schulden aufgrund von Schadensersatzforderungen, obwohl er
ihr gesagt hat, „dat se das nich machen soll, „will ick selber machen“, nein dat zahlt
sie selber“ (II). Sie unterstützt ihn nicht nur, sondern missachtet seine Wünsche und
beschränkt somit seine Autonomie, ohne dass sie sich mit ihm über sein Verhalten
auseinander zusetzen scheint. Die Mutter übernimmt Verantwortung, die eigentlich
bei Donald liegt und lässt ihm somit keine Gelegenheit, in Ordnung zu bringen, was
er angerichtet hat.
Die Mutter ist seine wichtigste Bezugsperson und sie schützen sich gegenseitig.
Er beschreibt sie als im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlos gute Mutter („Muttern war immer da“). „Immer da“ zu sein, verweist einerseits auf Verlässlichkeit,
den fürsorglichen und haltenden Aspekt von Beziehungen, zugleich ist es aber mit
Kontrolle und Festhalten assoziiert und lenkt die Aufmerksamkeit auf mögliche
Ablösungskonflikte. Wie ambivalent er die grenzenlose Unterstützung seiner Mutter
empfindet, wird in folgender Textstelle deutlich, in der er sehr lebendig über ihre
Reaktion auf sein Schuleschwänzen spricht und einen Dialog mit ihr nacherzählt:
D: „Tja kann mal passiern, aber wenn de das nächste Mal vorhast zu schwänzen, dann sag Bescheid, dann schreib ich dir nen Entschuldigungszettel“
I: Hat sie gesagt (D: Hm) hm
D: Ich wollt aber nie nen Entschuldigungszettel haben. (II)
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Donald beschreibt, mithilfe der wörtlichen Rede, seine Mutter resigniert („Tja“)
und zugleich verständnisvoll („kann mal passieren“). Sie scheint die Tatsache, dass
er die Schule schwänzt, an sich nicht zu kritisieren. Das Fernbleiben vom Unterricht
muss aber im Rahmen bleiben („kann mal passieren“) und einen Rahmen haben
(„schreib ich Dir einen Entschuldigungszettel“). Die Sequenz legt außerdem nahe,
dass die Schule interveniert hat, sonst wäre die Mutter wahrscheinlich nicht über das
Verhalten ihres Sohnes informiert. Auffällig ist die Spannung zwischen „kann mal
passieren“, was auf eine unintendierte Handlung, ein Versehen verweist, und „wenn
de das nächste Mal vorhast zu schwänzen“, was nahe legt, dass Donalds Fernbleiben
vom Unterricht rational und geplant ist. Das Handeln der Mutter erscheint in Donalds Erzählung irritierend: Eigentlich erfordert sein Fernbleiben vom Unterricht
Sanktionen seitens der Mutter. Sie reagiert aber genau gegensätzlich, indem sie ihn
in diesem Verhalten unterstützt. Sie setzt sich nicht mit ihm über die Gründe für sein
Fehlen im Unterricht auseinander, sanktioniert ihn nicht und setzt ihm keine Grenzen; hat ihn jedoch unter Kontrolle.
Durch ihr Angebot, ihm einen „Entschuldigungszettel“ zu schreiben, verändert sie
Donalds Fernbleiben vom Unterricht: Er „schwänzt“ nicht mehr, sondern fehlt entschuldigt. Die Mutter verhindert durch das Scheiben eines „Entschuldigungszettels“
somit, dass die Institution Schule Donald, und in letzter Konsequenz sie als Erziehungsberechtigte, zur Verantwortung zieht und verhindert somit weitere Auseinandersetzungen. Zugleich sorgt sie durch ihr Verhalten dafür, dass der Schein der Familie nach außen gewahrt bleibt.
Seine Mutter baut ihm mit ihrem Angebot eine Brücke. Auffällig ist, dass Donald
ihr Angebot nicht annimmt, sondern sich davon abgrenzt. Es geht an seinen Wünschen und Bedürfnissen vorbei, denn er lehnt es – und damit auch das Bündnis zwischen Mutter und Sohn – deutlich ab („Ich wollt aber nie nen Entschuldigungszettel
haben“). Es wird sichtbar, dass die Mutter zwar verständnisvoll und unterstützend
erscheint, mit diesem Verhalten jedoch Donald das Gefühl vermittelt, er sei ihr
gleichgültig und sie missachtet seine Bedürfnisse. Donald möchte nicht „entschuldigt“ sein, sondern artikuliert sehr deutlich am Anschluss an die Sequenz, was für
ihn das Wichtige am Schuleschwänzen ist: „Und das war illegal und nicht erlaubt“
(II). Der Konflikt dreht sich somit nicht um das „Schwänzen“ sondern um den „Entschuldigungszettel“. Die Mutter beschränkt mit ihrer Aufforderung („sag Bescheid“)
Donalds Autonomie. Hierin zeigt sich eine Parallele in Donalds Erzählung zu der
Passage, in der die Mutter dem Vater sagt „‚du sollst nich so viel saufen’“. Es wird
ein Konflikt zwischen Mutter und Sohn sichtbar: Donald will in der Schule auffallen, sich durch das Fehlen im Unterricht den Grenzsetzungen der Institution widersetzen, während die Mutter seinen Wunsch missachtet, seine Autonomie beschränkt
und ihm keine Grenzen setzt.
Auch ein Jahr später im ersten Längsschnittinterview (III) thematisiert Donald
das Ringen um Autonomie, als er über den Tag seiner Entlassung spricht:
D: Cool war gut ich bin zu Fuß bis zum Bahnhof also von hier aus (I: Alleine) alleine (I: Ja) so
viel hab ich mir schon zugetraut (lacht) naja unterwegs hab ich dann noch zu Haus angerufen
Bescheid gesagt „ich komm vorbei“ Mutter Vater ham sich gleich tierisch gefreut naja Bisam-
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stadt bin ich dann auf’m Bahnhof angekommen hab ich dann schon mal Mittäter wieder von
mir gesehn gehabt (I: Am Bahnhof) ja aber mene Mutter kam mich abholn dat war gut
I: Die hat Sie vom Zug abgeholt
D: Ja (I: Ja wie war) soll sollte se eigentlich gar nich ich wollte allene lofen
I: Ja Sie wollten alles alleine machen
D: Na naja hat se mich ebend abgeholt war och egal aber sonst hauptsächlich die sieben Wochen hab ich mich draußen bloß selber gekümmert um meinen ganzen Scheiß (I: Hm) dat war
eigentlich (I: Ja) hätten sie mir anrechnen können wenigstens die ollen Richter (III)
Die Passage steht im Kontext seiner Entlassung, die „cool“ und „gut“ war. Donald geht alleine zu Fuß von der Jugendhaftanstalt zum Bahnhof. In der dann folgenden Interaktion zwischen Donald und der Interviewerin wird eine aufschlussreiche Dynamik sichtbar: Als die Interviewerin einwirft: „alleine“, reagiert Donald mit
einer Mischung aus Stolz und der Betonung seiner Selbstständigkeit. Indem er sagt
„so viel hab ich mir schon zugetraut“, suggeriert er der Interviewerin, dass sie ihm
so viel Selbständigkeit scheinbar nicht zutraut. Im weiteren Verlauf der Passage
wird deutlich, dass dieses Missverständnis auf der Interaktionsebene des Interviews
einen Autonomiekonflikt mit seiner Mutter widerspiegelt.
Donald benachrichtigt von unterwegs seine Eltern über seine Entlassung. Als er
auf dem Bahnhof seiner Heimatstadt ankommt, trifft er auf einen früheren „Mittäter“. Offen bleibt, was diese Begegnung bedeutet. Deutlich wird jedoch, dass nicht
nur der Mittäter am Bahnhof ist, sondern auch seine Mutter. Ihre Anwesenheit beschreibt er als „dat war gut“. Bewahrt seine Mutter ihn davor, mit dem „Mittäter“
mitzugehen und somit bei seinen Kumpels „abhanden zu kommen“, wie er es in der
Textpassage beschreibt, in der er seine Mutter während des Heimaufenthaltes besuchen will? An dieser Stelle wird erkennbar, dass die Mutter ihm scheinbar nicht
zutraut, alleine nach Hause zu laufen. Dieser Konflikt zwischen Donald und der
Mutter wiederholt sich auf der Interaktionsebene zwischen Donald und der Interviewerin zu Beginn der Passage.
Obwohl Donald die Anwesenheit seiner Mutter im Kontrast zu seinem „Mittäter“
als „gut“ beschreibt, wird im weiteren Verlauf der Sequenz die Ambivalenz ihrer
Anwesenheit deutlich: „Sollte se eigentlich gar nich ich wollte allene lofen“. Abermals erlebt Donald das Verhalten seiner Mutter ihm gegenüber als Autonomiebeschränkung. Ähnlich der Passage, in der sie ihm einen Entschuldigungszettel
schreibt, missachtet sie seinen Wünsche. Bemerkenswert ist jedoch, dass er sich im
Längsschnitt selbst als gefährdet wahrnimmt und sich auch von anderen so wahrgenommen sieht. Hieran wird die Ambivalenz von klein sein und groß sein sichtbar:
Donald möchte es alleine schaffen, merkt zugleich jedoch, dass er Hilfe benötigt.
Während er sich in der Passage mit dem Entschuldigungszettel deutlich von ihrem
Angebot abgrenzt, spielt Donald die erlebte Autonomiebeschränkung in dieser Textpassage ein Jahr später durch Gleichgültigkeit („war och egal“) herunter und setzt
ihr eine betonte Aktivität und Selbständigkeit („selber gekümmert“, „allene gedreht
173
hab“) entgegen – bei der Arbeitssuche, was die Richter ihm bei der Verhandlung
nicht positiv anrechnen.
Keine Grenzen gesetzt zu bekommen, was Donald ein Jahr zuvor zum ersten Erhebungszeitpunkt thematisiert, ist eng verwoben mit Erzählungen über seine Delinquenz.
„Da hätt ich beinah ein totgeschlagen“ – Inszenierung als gefährlicher junger Mann
Er kreist auch in einer Passage im biographischen Interview (II) um das Thema
fehlende Sanktionen, in der er über seinen ersten Ladendiebstahl erzählt. Donald hat
in der ersten Klasse Luftballons in einem Spielwarenladen gestohlen, um daraus
Wasserbomben herzustellen. Die Verkäuferin erwischt ihn dabei:
I: Und wie ging's dann weiter?
D: Fragt sie (...) „ich hab da nix, ich weß von nix“ (I: Hm) „pack ma aus deine Taschen“
„hmhm“ (...) „kann ick nich auspacken“ (I: Hm) na ja, kam auch kene Bullen, hat mich wieder
lofen lassen.
I: Hm, hat Sie laufen lassen (D: Hm) hm.
D: Ohne Strafe (I: Hm) Pech hat se jehabt.
I: Warum? (D: Weil ich) Was meinen Sie?
D: Weil ich dann immer wieder rin jegangen bin in den Laden (I: Hm) und die Gegenstände
wurden immer größer. (II)
Nicht nur auf der sprachlichen Ebene existiert eine Parallele zu der Textstelle mit
Donalds Mutter und dem Schuleschwänzen durch die lebendige Erzählweise in
Dialogform. Auch auf der Verhaltensebene der Akteure in den Szenen lassen sich in
Donalds Wahrnehmung Gemeinsamkeiten erkennen. Donald begeht einen Ladendiebstahl, wird von der Verkäuferin erwischt, aber nicht sanktioniert („hat mich
wieder lofen lassen“). Anders als in der vorangegangenen Passage schreibt Donald
hier jedoch der Verkäuferin die Schuld für sein weiteres Verhalten zu. Weil sie ihn
nicht sanktioniert, wird er immer delinquenter. Die Abgabe von Verantwortung für
sein Handeln, weil die Verkäuferin ihn nicht in seine Schranken gewiesen hat, lässt
sich als Vorwurf lesen, der sich implizit auch an seine Mutter richten könnte, den er
explizit so aber nicht formuliert. Die Sequenz „Ohne Strafe (I: Hm) Pech hat se
jehabt“ wirft die Frage auf, ob die Verkäuferin Pech gehabt hat oder ob letztlich
Donald Pech gehabt hat, weil niemand auf ihn reagiert?
Auffällig in der Sequenz ist sein überzogener Selbstentwurf als delinquentes
Kind, der sich darin widerspiegelt, dass er in seiner Erzählung betont, dass „kene
Bullen“ kamen, als er als Sechsjähriger Luftballons entwendet. Donald beschreibt
im Verlauf der Passage eine Steigerung seiner Delinquenz („und die Gegenstände
wurden immer größer“). Dabei erscheint sein Verhalten in der Sequenz wie ein Test:
Er ist immer wieder in den Laden gegangen und hat immer größere Gegenstände
174
gestohlen. Testet er, wann die Grenze erreicht ist? Wie weit kann oder muss er gehen, bis jemand reagiert und wer reagiert? Nicht nur die Gegenstände bei seinen
Diebstählen werden größer, sondern auch er wird größer und die Delikte verändern
sich im Laufe der Zeit: In seinem biographischen Rückblick gewinnen Gewaltdelikte zunehmend an Bedeutung.
Der Überschuss, der sich in der Passage über den Luftballondiebstahl bereits andeutet, findet sich auch in anderen Passagen, in denen Donald über Delinquenz vor
allem in der Adoleszenz spricht. Donalds adoleszente Größenphantasien werden in
der folgenden Textstelle besonders deutlich:
Jo, straffällige Jugendliche sind mehr bekannt als nich straffällige Jugendliche [...]. Weeß nich
jeder kennt dich (I: Hm) du wirst angehimmelt bald wie so'n Gott (I: Hm) komm irgendwelche
Idioten an, wolln dat de dich mit irgendwelchen Leuten rumjackst. Die kennste noch gar nich
(I: Hm) (...) der is der Stärkste Größte (...) (I: Hm) gewöhnt man sich dran. (II)
Donald spricht in der zitierten Passage nicht in der ersten Person von sich, aber
über sich. Die beschriebenen „straffälligen Jugendlichen“ erinnern zunächst an
Sportler oder Stars aus der Musik- und Filmbranche, die Berühmtheit erlangen und
als Idole verehrt werden. Donald geht jedoch darüber hinaus: „Du wirst angehimmelt bald wie so’n Gott“. Hier wird die Größen- und Machtphantasie bildhaft deutlich. Der Vergleich mit „wie so’n Gott“ lässt keine Steigerung mehr zu. Er verweist
darauf, dass „straffällige Jugendliche“ „angehimmelt“ – also verehrt und somit auch
wahrgenommen werden.
Im Verlauf der Textpassage wird deutlich, dass die eigene Stärke und Größe immer wieder neu herausgefordert wird und neu bewiesen werden muss und anders als
bei der Vorstellung eines „Gottes“ somit prekär ist und in Frage gestellt wird. Donald beschreibt diese Herausforderung als zwangsläufige Begleiterscheinung der
Berühmtheit durch Delinquenz, an die „man sich dran [gewöhnt]“. Die zentrale
Bedeutung von körperlichen Auseinandersetzungen und Gewalt, die in der Passage
sichtbar wird („rumjackst“, „Stärkste“), ist auch Thema im weiteren Verlauf seiner
biographischen Erzählung. Donald erzählt über das Delikt, für das ihn der Richter
als „brutal und aggressiv“ (II) einstuft und das zu seiner Inhaftierung führt:
D: Der Raub (I: Hm) (...) aggressiv und brutal (...)
I: Was war denn da was ham Sie gemacht?
D: (...) ham (? Duschen) gekloppt
I: Wem?
D: Jugendliche
I: Hm worum ging's da?
D: Familie und Ehre (II)
Die Passage ist vor allem auf der sprachlichen Ebene auffällig. Donald redet unverständlich, denn es konnten einige Teile nicht transkribiert werden. Zudem existiert ein auffälliger Bruch zwischen den vorangegangenen dialoghaften Erzählungen,
175
und den sehr knappen allgemeinen Stichworten, mit denen Donald der Interviewerin
antwortet. In der Interaktion wird darüber hinaus deutlich, dass auch die Interviewerin in ihren Reaktionen und Fragen knapp wird und sich die Erzählung beschleunigt.
Durch die Beschleunigung spiegelt sich in der Interaktion die Dynamik der Auseinandersetzung wider, aber es entsteht kein Bild über die Situation. Die Akteure
bleiben nebulös, weil in der gesamten Textpassage das Subjekt fehlt, aber auch die
Handlung an sich und die Gründe bleiben unklar. Es wird eine Spur sichtbar, dass
Donald Gewalt nicht versprachlichen will. Er zieht sich in dieser Sequenz im Interview zurück und verschließt sich. Dies zeigt sich auch darin, dass Donald in seiner
Erzählung häufig als Subjekt auftaucht. Es entsteht das Bild eines aktiven und präsenten jungen Mannes. Wenn er jedoch über Gewalt redet, dann verschwindet das
Subjekt gänzlich – wie in der eben angeführten Passage – oder Donald löst sich in
einer Gruppe auf. Wenn er als Subjekt nicht präsent ist, muss er keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen. An dieser Stelle wird die Analyse der sprachlichen Ebene verlassen und ein kurzer Blick auf die inhaltliche Ebene geworfen. Donald benennt als Grund für die Auseinandersetzung „Familie und Ehre“. Im Verlauf
des Interviews wird deutlich, dass Donald mit mehreren Jugendlichen eine Gruppe
anderer Jugendliche verprügelt hat, nachdem diese anfingen, „über unsere klenen
Geschwister rumzunerven“ (II). Unklar bleibt, ob sich die verbalen Angriffe auf
seine Schwester, seinen Bruder oder beide beziehen, aus dem Kontext wird jedoch
deutlich, dass sein Bruder an der Auseinandersetzung beteiligt ist. Bei Beleidigungen der Familie schreitet Donald ein, er verteidigt die Familienehre. Dies führt er
noch an einer anderen Stelle im Interview an. Er ist „ganz ruhig und friedlich“ und
schlägt nur zu: „Ach (...) wenn ick besoffen bin oder wenn's um Familie geht“ (II).
Donald legitimiert Gewalt mit dem Motiv der Verteidigung der Familienehre und
dem Kontrollverlust im Rausch.
Donald streitet die Zuschreibungen des Richters als „aggressiv und brutal“ ab und
wehrt sich gegen diese Fremdsicht. Er selbst hat ein anderes Bild von sich:
D: Ich bin nich brutal und aggressiv. Ich hab mir den Kopp gebrochen, wat der meint, wo bin
ich denn brutal und aggressiv.
I: Wie sehn Sie selber sich?
D: Ganz ruhig und friedlich. (II)
Es wird eine Diskrepanz zwischen der Fremd- und Selbstsicht in Donalds Erzählung deutlich. Er versteht die Zuschreibung als „brutal und aggressiv“ nicht und
grenzt sich vom Bild des gewalttätigen Schlägers ab. Donald erzählt, dass er über
sich und sein Verhalten nachdenkt („Kopp gebrochen“). In dem Bild des Nachdenkens über sich, das an einen Schädelbruch erinnert, steckt somit auch eine verletzliche Seite, die sich in dem „gebrochen“ widerspiegelt. Er selbst sieht sich als „ganz
ruhig und friedlich“.
Thematisiert Donald die Diskrepanz zwischen der Zuschreibung als „brutal und
aggressiv“ durch den Richter und seiner Sicht auf sich als „ruhig und friedlich“,
wird in der folgenden Passage, in der er ebenfalls über eine körperliche Auseinandersetzung erzählt, eine Diskrepanz in seiner Selbstdarstellung sichtbar:
176
D: Da hätt ich beinah ein totgeschlagen
I: Hm erzählen Sie mal?
D: Na ich war nich allene zu dritt ja zu dritt warn wer zu dritt und zwe Weiber naja der wollte
uns mit'n T-Shirt erst hat er sich mit'm großen rumgejackt und jedenfalls hat er dann dat T-
Shirt von dem auseinander gebockt und is dann auf ne Tussi von mir los und ich dann hinterher hab den dann kalt gemacht also flach gelegt auf'n Fußboden dann is der Lange wieder roff
da hab ick gesagt „mach Platz ich will da ran“ jedenfalls hab ich den dann nich rangelassen ich
war in dem Moment so sauer hab immer drauf eingetreten wie so ne Wildsau und dann is nen
Kumpel noch mit druff gekommen und der dann och noch und dann hat der da unten gelegen
und dann is von allen Seiten Blaulicht gekommen und weg (I: Hm) Kumpel hat sich dann noch
um den nen bisschen gekümmert der hat zum Glück kene Anzeige gemacht [...] und dann war't
klar (I: Hm) hat er nen bisschen zugehorcht ob er noch doch nen Anzeige macht (I: Hm) aber
is kene hätt ich och doof dagestanden (I: Hm) dreifacher Raub versuchter Totschlag. (II)
Zu Beginn der längeren Passage wird deutlich, dass Donald sich als Teil einer
Gruppe beschreibt („ich war nich allene zu dritt ja zu dritt warn wer“). Zudem beschreibt er die Gewaltsituation mit Stereotypen von Männlichkeit. Zum einen auf
Frauen bezogen, da es ein wir und „zwe Weiber“ sowie „ne Tussi von mir“ gibt. Es
wird deutlich, dass nur die jungen Männer zählen, denn sie waren „zu dritt“, „zu
dritt und zwe Weiber“. Donald bezieht sich auf eine Geschlechterdifferenz zwischen
Frauen und Männern, innerhalb derer Frauen abwertend und als Besitz beschrieben
werden, die er beschützt. Zugleich beschreibt er eine Konkurrenzsituation zwischen
den Männern, in der verhandelt wird, wer zuschlagen darf („mach Platz ich will da
ran“). Diese Inszenierung von Männlichkeit wird ergänzt durch die Inszenierung der
Situation im Interview in Form einer Angebergeschichte, als die sich die Passage
ebenfalls lesen lässt. Zu Beginn macht Donald deutlich, dass er beinahe jemanden
totgeschlagen hat, wobei gleich im Anschluss erkennbar wird, dass er „zu dritt“ war.
Aus dem „zu dritt“ am Anfang der Sequenz wird am Ende ein „dreifacher Raub“
und „versuchter Totschlag“. Der Totschlag, der die Erzählung einleitet und abschließt steht in Kontrast dazu, dass der Geschlagene scheinbar mit den Polizisten
kommuniziert, aber „kene Anzeige“ macht. Die Passage ist durch einen Überschuss
gekennzeichnet: Donald wütet wie eine „Wildsau“, die nur aufgehalten wird, wenn
„von allen Seiten Blaulicht“ kommt. Er hat ihn „kalt gemacht“ – ein Synonym für
Töten, mit dem er beschreibt, dass er ihn „flach gelegt [hat] auf'n Fußboden“ – ein
Bild, das an sexualisierte Gewalt erinnert. Donald phantasiert sich als zerstörerisch
und prahlt. Dadurch erinnert er an ein kleines Kind, das wütet. Diese Assoziation
verweist auf dem Gewalthandeln zugrunde liegende Ohnmachtserfahrungen. Es
wird somit eine Spannung sichtbar zwischen dem wütenden kleinen Kind und der
Inszenierung als gefährlicher junger Mann.
Auch in dieser Textpassage, obwohl Donald im Kontrast zu der Passage über den
Raub ausführlich erzählt, bleibt der genaue Ablauf der Situation unklar, weil Donald
sich in der Erzählung verwickelt. Er erzählt die Situation nicht detailliert und nachvollziehbar, sondern kommt mit hohem Tempo gleich zur Sache. Somit wiederholt
sich auf sprachlicher Ebene die Eskalation der erzählten Handlung. Auffällig ist,
dass die Gewalt durch andere ausgelöst („jedenfalls hat er dann dat T-Shirt von dem
177
auseinander gebockt und is dann auf ne Tussi von mir los“) und daher nicht geplant
und situativ ist. Es gibt einen äußeren Anlass und Donald muss dann reagieren.
Gewalt erscheint somit als Zwang. Der Zwang verweist auf eine strukturelle Ähnlichkeit zur Bedeutung von Gewalt im Gefängnis, wenn Donald im Haftinterview
sagt „muss klappen“. Auch in dem Müssen steckt Zwang und es wird die tieferliegende Bedeutung des Zwangs sichtbar: der Zwang nicht zum Opfer zu werden.
Während Donalds Erzählungen über das Schuleschwänzen und den ersten Ladendiebstahl dadurch geprägt sind, dass er nicht sanktioniert wird und niemand interveniert, erzählt er aufgrund seiner körperlichen Auseinandersetzungen über zunehmende institutionelle Interventionen.
„dann hatt ich immer so viel Ärger mit dem Herrn Richter, der hat mich dann auf
Reisen geschickt“ – Intervenierende Institutionen
Donald wird wegen seines aggressiven Verhaltens zur Begutachtung in die Psychiatrie eingewiesen, in der er „wieder ruhig [ge]stell[t]“ (II) werden soll. Es scheint eine
Vielzahl von institutionellen Vertretern in diesen Prozess involviert: „Behörden
(I: Hm), Jugendgerichtshilfe, Jugendamt, Bewährungshilfe, Richter, Staatsanwaltschaft“ (II). Es wird deutlich, dass Donald aufgrund seiner gewalttätigen Auseinandersetzungen auf eine sich steigernde Sanktionsspirale trifft. Wie Donald die Interventionen der Institutionen erlebt, spitzt sich in der folgenden Sequenz zu, die sich
an Donalds Erzählung über die Wiederholung der achten Klasse anschließt:
Kene Lust (I: Hm) bin sitzen geblieben. Dann hatt ich immer so viel Ärger mit dem Herrn
Richter. Der hat mich dann auf Reisen geschickt von ener Schule immer zur andern. Naja
musst ick dann leider zwete Jahr nochmal machen und dann hatt ich überhaupt ken Bock
mehr. (II)
Donald springt in der Textpassage von seiner Lustlosigkeit und der Wiederholung
der Klasse zum Ärger, den er mit dem Richter hatte und verknüpft in seiner Erzählung somit Ereignisse, wie das Sitzen bleiben mit juristischen Interventionen, die
nicht miteinander verknüpft sind. Offen bleibt in seiner Erzählung der Grund für den
Ärger mit dem Richter, den Donald nicht benennt. Die Intervention des Richters hat
aus seiner Sicht wiederum eine erneute Wiederholung der Klasse zur Folge und
führt letztendlich zum Schulabbruch. Die Verwendung des Berufs mit einer Anrede
(„Herr Richter“) ist eher ungewöhnlich. Unklar bleibt, ob er dem Richter durch die
Verwendung dieser Anrede besonderen Respekt zollt, ihm durch eine eher ironische
Konnotation den Respekt abspricht oder zwischen beiden Lesarten schwankt. Dabei
ist seine Beschreibung euphemistisch: Der Richter hat ihn „auf Reisen geschickt“.
Das Bild erinnert stark an ein Arbeitsverhältnis, innerhalb dessen jemand auf Geschäftsreisen fährt oder auf Wanderschaft geht. Zugleich steckt in dem Bild auch ein
Moment von Abenteuer. Allerdings weist das „geschickt“ werden darauf, dass Donald keinen Einfluss auf die Entscheidung hat. Das Gericht, verkörpert durch den
Richter, verfügt als mächtige Instanz über seinen Aufenthaltsort. Er scheint die Situ-
178
ation so zu erleben, als wenn er nicht daran teilhaben kann, sondern nur darauf reagieren. Donald fühlt sich „auf Reisen“ geschickt und steht der Intervention des Richters gleichsam ohnmächtig entgegen. Die Institution nimmt ihm die Handlungsfähigkeit und Donald beschreibt das Gefühl, „die Lust“ zu verlieren.
Durch die Anordnung des Richters, die Donald in der Passage zunächst verharmlost, wird eine massive Intervention von Institutionen sozialer Hilfe und Kontrolle
initiiert. Im Verlauf der Passage wird deutlich, wohin ihn der Richter „geschickt“
hat: „In ne Reihe von Heimen (...) zur Psychiatrie, dann wieder ins Heim, in Knast“
(II). Es stellt sich heraus, dass sich ab Ende 1997, Donald ist 15 Jahre alt, die institutionellen Interventionen überschlagen: Er wird während der Haftprüfung statt in
Untersuchungshaft in einem Heim untergebracht. Nachdem er von dort wegläuft,
wird er in Untersuchungshaft genommen. Danach wird er erneut im Heim untergebracht, von dem er kurzzeitig für ein Gutachten in eine Psychiatrie verlegt wird. Das
Heim muss er verlassen, als er die Bewährungsstrafe erhält. Daraufhin zieht er zurück zu seinen Eltern und wird kurze Zeit später erneut in einer Psychiatrie untergebracht. 1998 wird er zu einem Jahr Strafhaft in einer Jugendhaftanstalt verurteilt.
Donald selbst verwickelt sich bezüglich der Institutionensprache, indem er die Jugendlichen im Heim unintendiert als „Gefangene“ bezeichnet. Seine Inhaftierung ist
somit eine Fortsetzung häufiger institutioneller Wechsel und das vorläufige Ende
einer sich steigernden Sanktionsspirale. Durch die institutionellen Interventionen
wird Donald aus seiner Familie ausgegrenzt und es wiederholen sich die Verlusterfahrungen der Kindheit, als er von der Großmutter zurück zu seiner Familie zieht.
Bleibt in seiner Erzählung über seine Kindheit zunächst unklar, wie Donald nach
dem Aufenthalt bei den Großeltern die Rückkehr zu seinen Eltern und Geschwistern
in die neue Wohnung erlebt, beschreibt er dies für die Zeit, als die häufigen institutionellen Wechsel erfolgen. Donald ist ungefähr 15 Jahre alt, als die Familie erneut
umzieht, diesmal in ein Einfamilienhaus, wo jedes der Kinder ein eigenes Zimmer
erhält. Für Donald scheint mit den Umzügen ein Zugehörigkeitskonflikt zu entstehen: „Ne, die sind jetzt schon mittlerweile eins-, zweimal sind se insgesamt und ich
bin enmal zu umgezogen“ (II). Donald beschreibt ein „Die“ und ein „Ich“ und kein
gemeinsames Wir. Er fühlt sich nicht als Teil der Familie, die umgezogen ist, sondern scheint zunächst sagen zu wollen, dass er „zu“-gezogen ist. Dabei bleibt in
seiner Erzählung offen, ob er schon bei dem ersten Umzug oder bei dem zweiten
Umzug nicht dabei war. Fühlt er sich als Außenseiter, der von der Familie ausgeschlossen ist? Das Ringen um Zugehörigkeit spitzt sich in einer weiteren Sequenz
zu, in der es abermals um den zweiten Umzug geht. Donald beschreibt, warum er im
Alter von 15 Jahren aus dem Heim weggelaufen ist:
Ich wollt wieder nach Hause (I: Hm), weil Muttern is grad umgezogen in neue Wohnung (...)
und da wollt ich unbedingt rinn gucken (I: Hm, hm) und dann war ich doch in Bisamstadt und
bin bisschen abhanden gekommen. Ich wollte zu meiner Schwesters Geburtstag nach Bisamstadt (I: Hm) zu Muttern nach Hause. Naja dann biste die Tage vorher eingelocht. (II)
Zunächst wirft die Textstelle viele Unklarheiten auf. Es ist nicht erkennbar, ob die
Mutter alleine oder die gesamte Familie umgezogen ist. Auffällig ist, dass der Vater
in der Textstelle nicht vorkommt. Donald scheint die neue Wohnung nicht zu ken-
179
nen. Deutlich wird jedoch, dass Donald „wieder nach Hause“ will und das Zuhause
nicht an einen Ort oder an ein Gebäude geknüpft ist, sondern daran wo seine Mutter
lebt. Es wird eine Spannung spürbar zwischen „nach Hause“ wollen und „rinn gucken“. Besichtigt er das Zuhause oder möchte er gerne dort leben? Doppeldeutig ist
das „abhanden gekommen“ sein. „Abhanden kommen“ beschreibt einen passiven
Vorgang, bei dem er verloren geht. Was in Bisamstadt geschah, bleibt offen. Entweder hat Donald das Gefühl, in seiner Familie „abhanden gekommen“ zu sein, oder er
ist auf dem Weg zu seiner Familie in der Heimatstadt z.B. bei Freunden „abhanden
gekommen“, ohne seine Familie besucht zu haben. Die Widersprüche in der Textpassage verweisen somit auf innere Konflikte: Er weiß nicht, ob er dazugehört und
heimkommen darf oder ob er „abhanden gekommen“ ist, im Sinne, dass er nicht
mehr dazu gehört und nur mal „reinschauen“ kann. Eindeutig hingegen ist abermals
die institutionelle Intervention („eingelocht“), die verhindert, dass er seine Mutter zu
Hause und seine Schwester an ihrem Geburtstag besuchen kann.
„und da is se wieder gegangen“ – Angst vor Abwendung
Das Gefühl durch Institutionen von seiner Familie getrennt und dadurch ausgegrenzt
zu werden, verstärkt sich durch Donalds Angst, dass seine Mutter sich von ihm
abwendet. Während in der Passage über den Entschuldigungszettel Autonomie und
Kontrolle verhandelt werden und Donald das Angebot seiner Mutter und damit das
Bündnis zwischen Mutter und Sohn gegenüber der Institution Schule ablehnt, beschreibt er in seinem biographischen Rückblick eine Situation als einschneidendes
Erlebnis und Impuls für seine Veränderung, in der die Mutter insistiert und Macht
demonstriert. Als er sich aufgrund seines aggressiven Verhaltens zur Begutachtung
in der Jugendpsychiatrie aufhält, ereignet sich folgende Situation, die er im Interview über die Hafterfahrungen (I) beschreibt:
Na ich bin ja draußen bloß mit Glatze rumgelofen (I: Hm) und da meinte ma meine Mutter
„wenn de Glatze hast komm ich dich nich mehr besuchen” und da war ich grad zum Gutachten
in der [Psychiatrie] und hab ich auch ma wieder meine Glatze gehabt und da is se wieder gegangen (I: Hm) und seitdem hab ich hier kene Glatze mehr (lacht kurz) (I)
Die Passage ist gekennzeichnet durch eine Unterscheidung zwischen drinnen und
draußen. „Draußen“, also außerhalb von geschlossenen Institutionen, demonstriert
Donald seine Zugehörigkeit zur rechten Szene mit dem Tragen einer Glatze. Die
Mutter droht ihm, ihn nicht mehr zu besuchen. Unklar bleibt, wo sie ihm droht, weil
Donald zu dieser Zeit in verschiedenen Institutionen – Heim, Psychiatrie, Untersuchungshaft etc. kurz hintereinander untergebracht ist. Als Donald zur Begutachtung
in eine Psychiatrie eingewiesen wird, macht die Mutter ihre Drohung wahr. Sie sieht
ihn mit kahl rasiertem Kopf und geht. Die Erfahrung, in der geschlossenen Institution („hier“) dem Verhalten seiner Mutter ohnmächtig ausgeliefert zu sein, weil er
sich ihren Besuch wünscht und ihn nicht erzwingen kann, scheint so existenziell zu
sein, dass er seitdem keine Glatze trägt. Seine Mutter setzt sich in einer Situation
durch, in der Donald in einer totalen Institution in einer ohnmächtig Situation ist und
180
familiale Beziehungen eine große Bedeutung haben. Donald beschreibt die Situation
in seinem biographischen Rückblick als einschneidendes Erlebnis.
Wie stark die Angst vor der Abwendung der Mutter ist, wird deutlich, wenn er
über die Untersuchungshaft erzählt – eine weitere geschlossene Institution nach der
Psychiatrie. Auf die Frage, womit er sich gedanklich beschäftigt hat, erzählt er, dass
er über seine Familie nachgedacht hat, besonders:
D: Ob Mutter kommt zum Sprecher als Besuch
I: Hm war war das nich klar?
D: Naja nach meinem ersten Einflug meint se „nochma komm ick dich nich besuchen im
Knast” (I: Hm hm) und dann da bin ich ja leider nochma eingewandert und hat mir doch dann
schon en bisschen gequält: kommt se nu kommt se nich (I: Hm) is aber doch gekommen zum
Glück och. (I)
Vor dem Hintergrund, dass die Mutter ihre Drohung schon einmal wahrgemacht
hat, als Donald in einer geschlossenen Institution war, ist er sich unsicher, ob sie ihn
besucht. Wie wichtig ihm der Besuch ist, wird deutlich, indem er sagt, dass ihn die
Unsicherheit „gequält“ hat und spiegelt sich in seiner Erleichterung, dass sie „zum
Glück“ doch zum Besuchstermin erschienen ist. Im Kontext der biographischen
Erfahrung, dem Verlust der Großmutter und dass Donald die Arbeitslosigkeit und
den Alkoholkonsum seines Vaters als massive Abwendung erlebt, bedroht ihn die
Möglichkeit, dass seine Mutter ihn nicht besuchen könnte und sich damit ebenfalls
von ihm abwendet. Die Erfahrung, dass sich seine Mutter durchsetzt, ihm Grenzen
aufzeigt und ihn in einer totalen Institution alleine lässt, verstärkt sein Ohnmachtsgefühl und macht ihm Angst. Wie schmerzhaft die Erfahrung für ihn zu sein scheint,
ist in der Passage, in der er über seine Unsicherheit erzählt, ob ihn seine Mutter
besucht, zu Beginn der Fallinterpretation schon deutlich geworden. Donald erlebt
sich als hilflos und ohnmächtig in der geschlossenen Institution.
Während seiner ersten Inhaftierung macht Donald jedoch die Erfahrung, dass ihn
seine Mutter besucht und zu ihm hält. Als er nach seiner Entlassung reinhaftiert ist,
antwortet er im ersten Längsschnittinterview (III) auf die Frage der Interviewerin, ob
die Drohung der Mutter, ihn nicht mehr zu besuchen, wenn er erneut gewalttätig
wird, noch einmal Thema zwischen Donald und ihr war:
D: Naja angesprochen hatte se’s mal (I: Hm) aber da hab ich gesagt „Mutti ich weß doch du
kannst mich doch hier nich allene lassen”
I: Hm ham Sie sich nich gefürchtet dass sie’s diesmal machen könnte?
D: Ach diesmal eigentlich nich so doll (I: Ja) diesmal war mir das egal
I: War Ihnen egal?
D: Na egal kann man och nich sagen weil ich ja im Endeffekt wusste dat se komm (I: Hm)
vielleicht vielleicht die ersten oder zwei Wochen nich besuchen (I: Hm) aber die kommen
(I: Hm) die (...) (I: Hm) kann och sein dass se mich die ersten zwe Monate nich besuchen
komm aber die komm dat wusst ich ja. (III)
181
Donald erzählt in der Passage lebendig über die Interaktion mit seiner Mutter. Er
setzt ihr diesmal etwas entgegen und lässt damit ihre potenzielle Drohung ins Leere
laufen. Ein Rest Unsicherheit bleibt jedoch („nich so doll“), den Donald zunächst
durch Gleichgültigkeit („egal“) zu überspielen versucht. In der Interaktion mit der
Interviewerin, die mit ihrer Nachfrage an der Gleichgültigkeit zweifelt, wird die
Gleichgültigkeit zur Gewissheit („im Endeffekt wusste“). Auffällig ist, dass sich
Donald zu Beginn der Textpassage auf seine Mutter bezieht, im weiteren Verlauf
jedoch den Plural verwendet. Seine Mutter besucht ihn nicht alleine, sondern „die“
besuchen ihn. Spricht er damit implizit über den Besuch der Mutter gemeinsam mit
dem Vater? Donald ist sich unsicher, wie lange er auf ihren Besuch warten muss,
aber er hält daran fest, dass sie ihn letztendlich gewiss besucht. Im Längsschnitt
vertraut Donald seiner Mutter und weiß, sie wendet sich nicht ab.
„mit Jewalt hat man da jar keene Lösung“ – widersprüchliche Distanzierung
Diese Erfahrungen führen in seiner Erzählung zu Veränderungen. Donald distanziert
sich zunächst im ersten Längsschnittinterview (III) von der Gleichaltrigengruppe der
rechten Szene, der bei Gewalt eine große Bedeutung zukommt. Wie schwierig die
Distanzierung ist und wie schwer er sich der Gleichaltrigengruppe entziehen kann,
wird in der folgenden Textstelle deutlich:
Na ich hab wir ham eigentlich enen Standpunkt immer gehabt (I: Hm) und den hab ich ja dann
verlassen (I: Hm) mal bin ich denn bloß noch vielleicht am Wochenende da mal bloß vorbei
gucken Guten Tag sagen und dann bin ich wieder abgestartet (I: Hm) woanders hin naja und
denn war ma ne Woche lang Ruhe det weß ich noch da hab ich die absolut nich gesehn naja
und denn war Wochenende dann warn die allemann da wo ich och immer war hab ich mich da
wieder versucht abzusetzen (I: Hm) hab mich och abgesetzt bin denn wieder woanders hin und
da warn die och wieder also lofen die mir hinterher nich ich denen (I: Hm) die stehn doch jedesmal vor meiner Tür und klingeln (I: Hm) „komm lass und wat unternehmen” (I: Hm) phh
ich versteh die Leute nich. (III)
Zu Beginn der Sequenz betont Donald, dass er einen „Standpunkt“ – gemeint ist
eine an Gewalt geknüpfte rechte Einstellung – hatte. Er verschwindet als Subjekt in
seiner Erzählung jedoch sofort in einem kollektiven „wir“. Auffällig ist jedoch, dass
sich nicht die Gruppe, sondern ausschließlich Donald von dieser Einstellung distanziert. Er trennt sich in seiner Erzählung von dem „Standpunkt“, aber noch nicht
gänzlich von der Gruppe („bloß noch vielleicht am Wochenende da mal bloß vorbei
gucken“). Das kollektive „wir“ und auch die Orte, an denen er „vorbei guckt“ und
„wieder abstartet“, bleiben dabei unklar. Implizit weist er aber darauf hin, dass die
Treffen für ihn mit Stress oder Unruhe verbunden sind, denn „Ruhe“ hat er erst, als
er „die“ eine Woche lang nicht sieht. Die Distanzierung von dieser Gruppe erscheint
in der Textstelle widersprüchlich. Während er zunächst bei ihnen „vorbei guckt“,
sind „allemann“ plötzlich da, wo Donald sich aufhält. Er erzählt die Situation, wie
eine Verfolgung, in der es für ihn kein Entrinnen gibt. „Also lofen die mir hinterher“
verweist auf die Verfolgung, zugleich aber steckt in dem Bild jemandem hinterher
182
zulaufen auch das Gefühl, begehrt zu werden. Er gibt die Verantwortung für sein
Handeln ab, indem „die“ vor seiner Tür stehen und mit ihm etwas unternehmen
wollen. Er deutet an, dass es ihm schwerfällt, sich dem kollektiven „wir“ zu entziehen. Dies wird deutlich, wenn er sein Unverständnis dem Verhalten der Gruppe
gegenüber („ich versteh die Leute nicht“) beschreibt. Implizit beschreibt Donald
damit seinen Wunsch, in Ruhe gelassen und somit nicht in Versuchung gebracht zu
werden. In der Passage wird deutlich, wie schwierig es für Donald ist, sich von der
Gleichaltrigengruppe zu distanzieren.
Ein Jahr später, im zweiten Längsschnittinterview (IV), distanziert sich Donald in
diesem Zusammenhang von Gewalt. Er denkt darüber nach, ob seine Aktivitäten in
der rechten Szene „sinnvoll“ sind und gelangt zu dem Schluss, dass sie ihm „keen
Nutzen“ (IV) bringen. Er distanziert sich und lehnt in diesem Zusammenhang Gewalt als Lösung ab:
D: Ich sach mal mit Jewalt hat man da jar keene Lösung.
I: Hm
D: Weil ich sach mal was nützt es dem Staat wenn ich da irgendwelche Neger wegschlage
oder sogar umbringe nischt (I: Hm) da wird denn bloß wieder der Rechtsextremismus in Mist
jezogn.
I: Hm also bringt nichts
D: Jewalt in dem Sinne nich so direkt (IV)
Donalds Auseinandersetzung mit Gewalt im Kontext der rechten Szene klingt zunächst stark sozial erwünscht („Jewalt hat man da jar keene Lösung“). Zugleich wird
deutlich, dass er darum kreist, ob sie sinnvoll ist und einen Nutzen hat. Er spricht in
dieser Textpassage weder über sich noch über die Gleichaltrigengruppe, sondern thematisiert den Nutzen von Gewalt für den Staat. Auffällig ist dabei, dass Donald Gewalt ausschließlich als rationale Strategie beschreibt. Wie brüchig sein rationales Konzept von Gewalt ist, wird an einer Textstelle deutlich, in der er plant, sich nach seiner
zweiten Entlassung an den Jugendlichen zu rächen, die gegen ihn ausgesagt haben:
I: Ja das heißt aber für Sie isses so daß Sie sagn ähm nich Abschied von Gewalt
D: Noch nich
I: Noch nich wann isses so weit?
D: - Weß ich nich
I: Hm oder gar nich
D: Na irgendwann is immer Schluß damit
I: Naja das sind irgendwie son bißchen
D: Ich sach mal bis spätestens wenn ich denn mal zum Opfer werde
I: Wenn Sie hier oder
D: Draußn. (IV)
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In dieser Passage wird deutlich, dass Gewalt durchaus eine Handlungsoption für
Donald darstellt und er sich nicht grundsätzlich davon distanziert. Die Interviewerin
und Donald kreisen um den Zeitpunkt oder Auslöser für einen Ausstieg aus der
Gewalt. Auffällig ist, dass Donald zunächst unkonkret bleibt („Weß ich nich“, „Na
irgendwann“) und dann erzählt „wenn ich denn mal zum Opfer werde“. In seiner
Erzählung betont er dadurch einerseits, dass er kein Opfer ist. Auffällig ist dabei,
dass er sich auf „draußen“ – also die Zeit nach der Entlassung bezieht. Dies wirft die
Fragen auf, ob Donald im Gefängnis Opfererfahrungen gemacht hat oder ob sich
eine klare Konstruktion einer Täter-Opfer-Dichotomie im Gefängnis nicht aufrecht
halten lässt. Zugleich wird deutlich, dass er als Täter nur aus der Gewalt aussteigen
kann, wenn er Opfer wird. Wenn er trotz Gewalt zum Opfer wird, scheint Gewalt
ihren Sinn zu verlieren. In seiner Erzählung ist Gewalt somit stark an Macht- und
Ohnmachtserfahrungen, an Über- und Unterlegenheit, geknüpft. Die Grenzziehung
findet in seiner Erzählung auf der körperlichen Ebene statt.
Hält Donald über die gesamte Zeit an der Bedeutung von Gewalt als Mittel der
Verteidigung fest, ist dennoch eine prozesshafte Veränderung im Längsschnitt erkennbar. Arbeit gewinnt zunehmend an Bedeutung.
„ich brauch wat sonst werd ich wieder straffällig“ – Arbeit und Ausbildung als
Ablösung und Halt
Wie in der Passage über den Entlassungstag weiter vorne bereits deutlich geworden
ist, kümmert sich Donald in der Zeit nach seiner Entlassung selbstständig und aktiv
um Arbeit und ist enttäuscht, dass ihm sein Engagement in der Verhandlung nicht
positiv angerechnet wird. Dies wird im direkten Anschluss der Passage deutlich:
I: Was hätten sie Ihnen anrechnen sollen?
D: Na dass ich mich allene gedreht hab um Arbeit und BVJ und alles (I: Hm) ich bin doch hin
und her zu die Ämter gelofen (I Hm) ich sage hier „ich brauch wat sonst werd ich wieder straffällig” (I: Hm) na ja (III)
Er will mehr Anerkennung für seine Selbständigkeit. Deutlich wird jedoch zunächst die strukturierende und haltgebende Bedeutung von Arbeit („ich brauch wat
sonst werd ich wieder straffällig“). Zugleich verweist diese Stelle auf einen Hilferuf
oder Anspruch an andere – in diesem Fall Institutionen („Ämter“) – für Donald zu
sorgen und ihn zu unterstützen. Neben der prozesshaften Distanzierung von Gewalthandeln im Kontext der rechten Szene gibt es somit ein weiteres Thema, das für
Donald in der Längsschnittperspektive eine große Bedeutung hat: Arbeit und Ausbildung.
In den sieben Wochen zwischen seiner Entlassung und der Reinhaftierung ist er
aktiv auf der Suche nach Arbeit, die ihm Halt geben soll. Mit der Gewissheit, dass er
es „draußen nicht lange aushält“ (III), sucht er eine Beschäftigung „Ja wo ich mich
festhalten drann kann“ (III). Dabei zeigt sich in der Kontrastierung mit einer Sequenz aus dem Interview über die Hafterfahrungen (I) ein Jahr zuvor eine Verände-
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rung. Donald erzählt in diesem Interview: „Naja ohne Familie verreckt man hier
drinne elendig (I: Hm) kann man sich ja nirgends wo dran festhalten und bald auf
die Entlassung freun (I: Hm) kener weiter draußen is“ (I). In der Haft beschreibt
Donald zunächst die Familie als Halt. Während seiner Reinhaftierung ein Jahr später
wird für ihn rückblickend auf die Zeit nach seiner Entlassung Arbeit bedeutsam. Die
Kontrastierung der beiden Sequenzen verweist auf zwei Aspekte des Festhaltens:
einmal auf das Festhalten an der Familie, das heißt auf familiäre Beziehungen als
haltendes Moment und einmal auf den Halt durch eine äußere Struktur. Donald
verbindet nach der Entlassung mit Arbeit einen strukturierenden und haltenden Moment, zugleich kann er durch einen aktiven Bezug zu Arbeit Autonomie demonstrieren – vor allem gegenüber seiner Mutter.
In der kurzen Zeit nach seiner Entlassung beginnt er ein Berufsvorbereitungsjahr,
das er als sinnlos empfindet. Aufgrund seines Verhaltens wird er an seinem ersten
Tag von der Schule, in der er die Maßnahme absolvieren soll, verwiesen. Sofort im
Anschluss beginnt er jedoch eine Ausbildung zum Koch, die ihm die Jugendgerichtshilfe über das Arbeitsamt vermittelt. Donald betont, dass kochen „geil“ und
„fähig“ ist. Mit dieser Berufswahl folgt er dem Rat seiner Mutter, eine Ausbildung
zum Koch zu absolvieren, weil der Beruf nicht in so starkem Maße durch Arbeitslosigkeit bedroht sei: „gefressen wird immer“ (III). Zugleich knüpft er mit seiner Berufswahl an Erfahrungen einer tätigen Beziehung zu seiner Mutter an: Schon ein
Jahr zuvor, im biographischen Interview (II) erzählt Donald, dass er vor seiner Inhaftierung an den Wochenenden mit Unterstützung seiner Mutter das Essen für die
Familie zubereitet hat. Er betont, dass ihm das Kochen „Spaß“ gemacht hat,
zugleich grenzt er sich über das Kochen von seinem Vater ab, der, im Gegensatz zu
ihm, nicht selbst kocht, sondern „immer bloß Pfanni hier mit Milch und Wasser und
dann Gemüse zu und ne Bratwurscht oder so (I: Hm) ne“ (II). Donald betont, dass
das Essen des Vaters nicht geschmeckt hat. In der Sequenz wird erneut sichtbar,
dass der Vater sich in Donalds Wahrnehmung nicht um die Familie kümmert, denn
er kocht auch ohne dass es „dolle eilig is“ Fertiggerichte.
Am Thema Arbeit macht Donald auch eine Veränderung des Verhaltens seiner
Mutter fest. Erzählt er zuvor, dass sie häufig nicht sanktionierend eingreift, beschreibt er, wie sie nach seiner Entlassung auf seinen Rauswurf aus dem Berufsvorbereitungsjahr reagiert:
D: Zum Beispiel wo ich vom BVJ raus geflogen bin meine Mutter hat den übelsten Terror gemacht
I: Ihre Mutter (D: Na) ja
D: Ich bin danach ja gleich zur Jugendgerichtshilfe so dann zu Hause angekommen Jugendgerichtshilfe (...) och angerufen hat dann meiner Mutter Bescheid gesagt na ich kam dann abends
nach Hause mene Mutter es war schon bisschen (...) gewesen aber hat mich denn doch angepfiffen und hat gesagt „wat hab ich denn da heut gehört“ ich sag „wat’n“ „wat is’n mit’n
BVJ?“ ich sag „alles in Ordnung wieso?“ „naja Herr Schulz hat angerufen du bist raus geflogen“ „ach ja“
[...]
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I: Hm aber so war das schon durch die Jugendgerichtshilfe überbracht (D: Ja) die Nachricht ja
Ihr Vater wie hat der reagiert?
D: Eigentlich och ganz normal
I: Hat er sich eingemischt?
D: Nich so wie früher oder so sonst hat der sich immer übelst uffgeregt „warum wieso weshalb“ na vielleicht hat sich Muttern och so ruhig gehalten weil ich ja dann och gleich wieder
wat neues hatte (I: Hm hm) hab ich ihnen gesagt hier „ich hatt kene Lust auf das BVJ wat soll
ich’n da viertel Jahr umsonst da hin gehen kene Noten ken nüscht” hm naja und da krieg ich
wenigstens meine (...) Kohle wenigstens uff Arbeit und alles und da hat se gesagt „na gut hast
dich wenigstens gekümmert“ (I: Hm) so sag ich ma (I: Hm) hat se vielleicht gedacht. (III)
Donald führt die Sequenz als Beispiel für die Veränderung seiner Eltern an. Als
er aus dem Berufsvorbereitungsjahr „rausgeflogen“ ist, hat seine Mutter „übelsten
Terror“ gemacht. Sie stellt ihn zur Rede, als er abends nach Hause kommt, konfrontiert ihn mit seiner Situation und will ihn diesmal nicht entschuldigen. Kontinuität
hat die Intervention der Institution („Jugendgerichtshilfe (...) och angerufen hat dann
meiner Mutter Bescheid gesagt“). Aber auch der Vater verhält sich verändert („Nich
so wie früher“). Auffällig ist die Widersprüchlichkeit, die sich durch die Textstelle
zieht: Beschreibt Donald zu Beginn, dass die Mutter „übelsten Terror“ gemacht hat,
spekuliert er am Ende, warum sich seine Mutter „och so ruhig gehalten“ hat. Dadurch bleibt unklar, ob sie auf den Rauswurf aus dem Berufsvorbereitungsjahr mit
Terror oder mit Ruhe reagiert. Donald scheint ihr Verhalten unklar, denn er versucht
es sich selbst zu erklären. Zunächst erzählt er ihre Reaktion als direkte Rede („da hat
se gesagt ‚na gut hast dich wenigstens gekümmert’“), um dann in einem weiteren
Schritt deutlich zu machen, dass er ihr Verhalten so interpretiert („so sag ich ma
(I: Hm) hat se vielleicht gedacht“). Dies verweist darauf, dass Donald aus der Perspektive seiner Mutter spricht. Zentral bleibt jedoch, dass er die Mutter als verändert
wahrnimmt und sie in seiner Vorstellung seine Aktivität und Selbständigkeit anerkennt („na gut hast dich wenigstens gekümmert“).
Die Ausbildung zum Koch muss Donald kurz nach Beginn abbrechen, als er reinhaftiert wird. Allerdings knüpft er in Haft an seine Arbeitserfahrungen an. Bereits im
Interview über die Hafterfahrungen (I) ist eine Ausbildung und das für einen Schulabschluss erforderliche Berufsvorbereitungsjahr ein zentrales Thema. Ein Jahr später
versteht er das Gefängnis als „allerletzte Chance“ (III) ein Berufsvorbereitungsjahr
zu absolvieren und eventuell eine Lehre zu beginnen. Dabei schreibt er dem geschlossenen Kontext der Institution eine entscheidende Rolle zu. Während Donald
nach seiner ersten Entlassung den haltgebenden Aspekt von Arbeit betont, unterstützen ihn die rigiden Strukturen des Gefängnisses, in einem Berufsvorbereitungsjahr
seinen Hauptschulabschluss zu machen:
D: Zwar haste och nen bestimmten Stoff zu erfüllen den setzte dir aber schon selber weil de
hier drinne bist sagste willste schaffen
I: Ja was wolln (D: Und denn) Sie schaffen?
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D: Schaffst et och meinetwegen der legt uns Blätter vor und sagt „hier macht dat schreibt dat
ab” oder malt das oder sonst was (I: Hm) und dann ziehste dann los machste dir nen bestimmten Satz bis wohin machst am Tag und dann is gut (I: Hm) zum Beispiel müssen mir oben in
der Schule Wände abspachteln (I: Hm) und ene so ne Fläche mach ich am Tag (I: Hm) hab ich
mir vorgesetzt ene so ne Wand am Tag (I: Hm) is zwar schwierig aber geht schaff ich immer
grad so (III)
In der Passage wird sichtbar, dass Donald seine Autonomiebestrebungen hervorhebt: Obwohl er „nen bestimmten Stoff zu erfüllen“ hat, also Vorgaben von Außen
erhält, unterstreicht er, dass er sich sein Arbeitspensum selbst setzt. Er nimmt sich
eine Aufgabe vor und teilt sich in seiner Wahrnehmung seine Arbeit eigenständig
ein: „und ene so ne Fläche mach ich am Tag (I: Hm) hab ich mir vorgesetzt“. Die
Sequenz wirft die Frage auf, ob Donald die Fläche vorgesetzt wird oder er sie sich
selbst vornimmt. Deutlich wird daran jedoch, dass er die Arbeitsaufträge nicht einfach übernimmt, sondern sich selbst aneignet. Er erlebt die Arbeit als Herausforderung („is zwar schwierig“), und ist zugleich stolz auf seinen Erfolg, der sich auch in
seinen Noten widerspiegelt. Donald beschreibt sich im Gefängnis als ehrgeizig, denn
er möchte mindestens die Note Drei auf den Leistungskontrollen, sonst ist er unzufrieden. Er betont, dass er draußen nur Vieren, Fünfen und Sechsen geschrieben hat
und „hier sind die andern drei Zahlen dran“ (III). Trotz des erkennbaren Stolzes
spielt er zugleich seine Leistungen herunter, indem er erzählt, dass er „gar nüscht“
dafür tut – damit betont er implizit seine Begabung.
Donald überlegt, ob er im Anschluss an seinen Hauptschulabschluss in Haft noch
seinen Realschulabschluss machen soll, weil der Realschulabschluss „besser angesehen“ ist als der Hauptschulabschluss. Deutlich wird in diesem Zusammenhang,
dass der Schulabschluss mit Ansehen verbunden ist. Dies weist eine Parallele zu der
Passage über Delinquenz auf, in der Donald den Ruhm und die Bekanntheit „straffälliger Jugendlicher“ beschreibt. Im Längsschnitt bietet somit Arbeit neue Anknüpfungspunkte und seine Schulerfolge wecken in ihm den Wunsch nach höheren Zielen und Erfolg, die er in adoleszenten Größenphantasien beschreibt: Donald erzählt,
dass er mit einem Realschulabschluss nach der Entlassung „Chefkoch“ werden kann
und nicht „bloß Beikoch“ (III).
An diese positiven Lernerfahrungen aus dem Gefängnis knüpft Donald seine Pläne für die Zeit nach der Entlassung. Beschreibt er sich im ersten Interview noch als
„ich wird ewig in Knast gebunden sein (I)“ und glaubt fest an eine Reinhaftierung
nach spätestens einem Monat, erzählt er zwei Jahre später, dass er nach dieser Entlassung seine Heimatstadt verlassen möchte, damit er nicht mit seinen „Kumpels“
konfrontiert wird. Er möchte in einer anderen Stadt eine Lehrstelle als Koch beginnen. Hier deutet sich an, wie zerbrechlich seine Pläne sind. Die Schwierigkeit wird
auch in der folgenden Sequenz deutlich, in der Donald Arbeit als Ausstiegsszenario
aus der Delinquenz beschreibt:
D: Wenn ich das dann schon überlebt habe dann kann mich jar nischt mehr schockn.
I: Wenn Sie Knast überlebt ham
D: Nee wenn ich das da überlebt habe
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I: Ach so hm
D: Wenn ich denn drei Jahre Lehr hinter mir habe Schlussstrich fertich
I: „Schlussstrich“ wo runter? wo drunter ziehn Sie dann den Schlussstrich
D: Na alles was davor war (lacht)
I: Hm
D: Was hier so los was davor war
I: Hm
D: Denn sind meine wildn Jugendjahre vorbei (IV)
Drei Jahre Lehre zu absolvieren, ist für Donald wortwörtlich eine Frage des Überlebens. Wenn er den Abschluss geschafft hat, „schockt“ ihn nichts mehr. Dabei
gestattet er sich keine fließenden oder prozesshaften Übergänge, sondern er zieht
einen „Schlussstrich“. Er entwirft dadurch ein Bild, dass sich mit einem Ereignis
(seinem Ausbildungsende) sein bisheriges Leben verändert. Deutlich wird, dass für
Donald der Abschluss seiner Ausbildung mit dem Eintritt in die Erwachsenenwelt
verknüpft ist („Denn sind meine wildn Jugendjahre vorbei“). Hier taucht erneut die
Frage nach Ablösung und Autonomie auf. Donald beschreibt ein mit Hoffnungen
aufgeladenes und konfliktfreies Ausstiegsszenario, in dem er die Stadt verlassen
muss, um nicht mit seinen „Kumpels“ konfrontiert zu werden. Ob es ihm gelingt, an
die positiven Erfahrungen nach der Entlassung anzuknüpfen, bleibt dabei eine offene Frage.
Fazit
Gewalt im Gefängnis spielt keine zentrale Rolle in Donald Engels Erzählung. Er
wehrt konflikthafte Erfahrungen im Interview ab und vermeidet es über Opfererfahrungen zu sprechen. Gewalt erscheint wie ein Zwang, der Zwang sich wehren zu
„müssen“ und nicht zum Opfer zu werden. Die mit den Opfererfahrungen verbundenen Gefühle von Ohnmacht thematisiert er nicht. Diese werden jedoch sichtbar,
wenn er über den Konflikt mit seiner Mutter spricht. Es wird somit deutlich, dass
Donalds Verletzlichkeit nicht in den körperlichen Auseinandersetzungen liegt, sondern in den schmerzhaften Ohnmachtserfahrungen im Kontext eines biographischen
Zugehörigkeitskonflikts.
In seiner biographischen Erzählung werden im Zusammenhang mit Gewalt typische Adoleszenzkonflikte wie adoleszente Größenphantasien und ambivalente Autonomiebestrebungen sichtbar. Donald phantasiert sich als zerstörerisch und prahlt
mit Gewalt. Es wird eine überzogene Selbstinszenierung als gefährlicher Schläger
deutlich. Gewalt ist eng verknüpft mit der Zugehörigkeit zur Gleichaltrigengruppe
und dient als Mittel, Anerkennung und Ruhm zu erlangen. Die der Gewalt zugrunde
liegenden Ohnmachtserfahrungen werden erst auf den zweiten Blick erkennbar.
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Beschreibt Donald in seinem biographischen Rückblick zunächst fehlende Grenzen und Sanktionen, trifft er in der Adoleszenz im Kontext seiner gewalttätigen
Auseinandersetzungen auf eine Sanktionsspirale, der er sich ohnmächtig ausgeliefert
fühlt und durch die er von seiner Familie ausgegrenzt wird. Durch die institutionellen Interventionen wiederholen sich kindliche Trennungs- und Verlusterfahrungen.
Es wird ein Zugehörigkeitskonflikt sichtbar, der sich dadurch verstärkt, dass seine
Mutter sich aufgrund seiner Glatze als Symbol der Zugehörigkeit zur rechten Szene
von ihm abwendet, während er in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht
ist. Die Abhängigkeit von der Mutter thematisiert er als tiefen Konflikt und es wird
deutlich, dass diese Erfahrung mit Gefühlen der Angst und Ohnmacht verbunden ist.
Donald schlägt sich im wahrsten Sinne des Wortes zurück in die Familie und seine Mutter besucht ihn entgegen ihrer Androhung während seiner ersten Haft und
auch während seiner Reinhaftierung. Im Längsschnitt wird deutlich, dass er sich nun
sicher ist, dass seine Mutter zu ihm hält. Vor dem Hintergrund dieser haltenden
Beziehung distanziert sich Donald zunehmend von der Gleichaltrigengruppe und
von Gewalt im Kontext der rechten Szene – allerdings distanziert er sich nicht
grundsätzlich von Gewalt. Die Bedeutung von Gewalt als Zwang, als Zwang sich zu
wehren und kein Opfer zu sein, hat im Längsschnitt Kontinuität.
Trotzdem zeigt sich ein Moment der Veränderung. Im Längsschnitt gewinnt Arbeit zunehmend an Bedeutung. Donald befolgt mit seiner Berufswahl zunächst den
Rat der Mutter, knüpft aber zugleich an frühere Erfahrungen in einer tätigen Beziehung mit der Mutter an. Während der Reinhaftierung wird eine zunehmende Identifikation mit Arbeit erkennbar und Donald ist stolz auf seine Leistungen. Es wird
eine Bedeutungsverschiebung sichtbar: In Bezug auf Anerkennung erfährt Arbeit
nun eine ähnliche Bedeutung wie Gewalt und öffnet somit neue Anknüpfungspunkte
für adoleszente Größenphantasien.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Zwischen Männlichkeit und Gewalt wird sowohl in den kollektiven Deutungsmustern junger Männer als auch in vielen wissenschaftlichen Ansätzen der Jugendgewalt- und Männlichkeitsforschung ein direkter Zusammenhang vorausgesetzt.
In der vorliegenden Studie werden kollektive Deutungsmuster von Gewalt in Beziehung gesetzt zu der subjektiven Bedeutung von Gewalt im Kontext biographischer Konflikterfahrungen. Unterliegt Gewalt einem biographischen Eigensinn? Dieser Frage wird anhand fünf biographischer Fallinterpretationen auf Basis qualitativer Längsschnittinterviews mit inhaftierten jungen Männern nachgegegangen.
Das Verhältnis von Gewalt und Geschlecht wird aus einer soziologischen und sozialpsychologischen Perspektive untersucht. Dabei rücken die Opfer-Täter-Ambivalenzen von Gewalthandeln in den Blick. Es zeigt sich eine enge Verbindung zwischen der Bedeutung von Gewalt und den biographischen Konflikterfahrungen junger Männer: Gewalt steht in enger Beziehung zu ihren Autonomiekonflikten und ein komplexes und vielschichtiges Verhältnis zwischen Autonomie, Geschlecht und Gewalt wird sichtbar.