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11. Jürgen Kemper: „dass die Gefangenen hier das alles sag ich mal sehr gut
unter Kontrolle haben“ – der rationale Blick auf Gewalt im Kontext
biographischer Ohnmachtserfahrungen
Jürgen Kemper wird 1976 in einer westdeutschen Kleinstadt geboren. Er lebt mit
seinen Eltern sowie zwei drei und sechs Jahre älteren Schwestern zusammen. Der
Vater hat als Krankenpfleger gearbeitet und ist zum Zeitpunkt des ersten Interviews
aus gesundheitlichen Gründen Frührentner. Die Mutter hat ihre Berufstätigkeit zugunsten der Familie zunächst aufgegeben und beginnt, als Jürgen ungefähr elf Jahre
alt ist, im Garten- und Landschaftsbau zu arbeiten. Jürgen ist vier Jahre alt, als die
Familie in ein eigenes Haus mit großem Grundstück zieht. Der Vater verlässt die
Familie als Jürgen ungefähr sieben Jahre alt ist und lebt mit einer anderen Frau zusammen. Nach drei Jahren trennt sich der Vater und kehrt zu seiner Familie zurück.
Jürgen besucht zunächst die Grundschule und anschließend die Hauptschule. In
der sechsten oder siebten Klasse hat er erstmals Lernprobleme und er verlässt die
Hauptschule nach der achten Klasse ohne Abschluss. Mit 17 Jahren besucht er die
Kreisvolkshochschule und absolviert den erweiterten Hauptschulabschluss. Im Anschluss daran beginnt er eine Tischlerlehre, die er 1995 nach zweieinhalb Jahren
abbricht, als er mit seiner damaligen Freundin zusammen zieht. Kurz darauf wird
der erste Sohn geboren.
Mit 16 Jahren begeht Jürgen seinen ersten Autodiebstahl und erhält kurz darauf
für eine Serie von Autodiebstählen zwei Wochen Jugendarrest. Mit 19 Jahren wird
er wegen Autodiebstählen und Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Acht Monate später wird er bei einem Autodiebstahl verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Während dieser Zeit wird sein zweiter
Sohn geboren und kurz nach der Geburt trennt sich seine Freundin von ihm. Jürgen
wird zu einer Jugendstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt. Während dieser Inhaftierung findet 1999 das Interview über die Hafterfahrungen (I) und das biographische Interview (II) statt. Jürgen ist zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt.
Anfang 2000 wird er auf Bewährung aus der Haft entlassen und lebt bei seinen
Eltern. Nach acht Monaten zieht er mit seiner damaligen Freundin zusammen. Aufgrund eines Unfalls unter Alkoholeinfluss und Fahren ohne Fahrerlaubnis verstößt
Jürgen gegen die Bewährungsauflagen. Zur selben Zeit begeht er gemeinsam mit
einem Freund Einbruchdiebstähle. Jürgen wird erneut in Untersuchungshaft genommen und zu einer weiteren Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Während
dieser Zeit finden 2001 das erste Längsschnittinterview (III) und ein Jahr später das
zweite Längsschnittinterview (IV) statt.
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„Also an sich mit dem Vollzug mit den Gefangenen hier hab ich nie Probleme
gehabt“ – institutionelle Anpassung
Jürgen Kemper bewertet Gewalt im Interview über die Hafterfahrungen sehr unterschiedlich, was besonders an der Gegenüberstellung zweier Textpassagen deutlich
wird. Er distanziert sich zunächst im Interview von Inhaftierten, die er folgenderma-
ßen beschreibt:
J: aber ich sag mir klipp und klar von wegen Leute die draußen irgendwelche andern Leute
just fa eh just fa just for fun weggeschlagen haben mit denen will ich so nich viel zu tun haben
(ne) (I: Hm) da setz ich mich nicht in die Hütte und trink da trink da meinen Kaffee und so ne.
I: Warum nicht?
J: Das ist halt wieder das Ding weil man nicht weiß wie man die zu nehmen hat da kommt man
nicht dahinter einen Fall gibt‘s da oben ne ich weiß nicht wie ich den nehmen soll einmal ist er
so einmal ist er so. (I)
Jürgen vertritt zu Beginn der Passage seine Meinung mit aller Deutlichkeit
(„klipp und klar“). Er meidet die Inhaftierten, die außerhalb der Haftanstalt „just for
fun“ – also ohne ersichtlichen Grund, nur zum Vergnügen – jemanden „weggeschlagen“ haben. Er distanziert sich jedoch nicht aufgrund der Gewalttätigkeit, sondern
ist von ihrem Verhalten verunsichert. Als Beispiel nennt Jürgen einen Inhaftierten,
der für ihn nicht einschätzbar ist. Jürgen hat das Gefühl, er versteht nicht oder lernt
nicht, wie er sich ihm gegenüber verhalten muss („da kommt man nicht dahinter“).
Der Inhaftierte scheint Jürgen zu verunsichern, weil er keine klare Orientierung
bietet, sondern sich unterschiedlich oder widersprüchlich verhält. Dieses willkürliche oder schwer einschätzbare Verhalten scheint für Jürgen bedrohlich zu sein. Dass
er sich nicht von Gewalt, sondern von der Unberechenbarkeit distanziert, wird in der
nächsten Textpassage deutlich, in der er erzählt, dass er sich mit Inhaftierten, die
sich zu „behaupten“ wissen, gut versteht. Ihnen gegenüber weiß er, wie er sich verhalten muss, damit er nicht in Konfliktsituationen gerät. Er betont, dass er von ihnen
akzeptiert wird und „stolz“ darauf ist, dass er noch in keine Auseinandersetzung
verwickelt war:
die kommen nicht einfach so an so weil sie Lust drauf haben un un schnappen dich oder so so
was passiert hier an sich (nich) (I: Hm) was heißt an sich noch bislang noch nich ich hab’s
noch nich erlebt [...] das an das hat jedesmal bislang seine Gründe gehabt (I: Hm) (wenn) das
passiert (ist) (I: Hm) ne und das das ist das Ding wo ich sagen muss dass die Gefangenen hier
das alles sag ich mal sehr gut unter unter Kontrolle haben (I)
Jürgen distanziert sich von einer Gruppe Gefangener („die“), wobei zunächst unklar bleibt, was die Gruppe kennzeichnet. Im Kontrast zu dem einzelnen Gefangenen, den Jürgen nicht einschätzen kann, wird in dieser Passage deutlich, dass „die“
nicht aus „Lust“ einen Mitinhaftierten „schnappen“. Auffällig ist, dass die Gewalt,
über die Jürgen implizit spricht, durchgängig unkonkret bleibt – er bezeichnet sie
mit „das“. Gewalt wird nicht konkret benannt und sie scheint in dieser Passage nicht
verbalisierbar. Entscheidend für Jürgen scheint jedoch zu sein, dass „das“, wenn es
passiert ist, immer seine „Gründe“ gehabt hat. Dies verweist auf Jürgens rationalen
129
Blick auf Gewalt. Wenn es einen Grund für Gewalt gibt, ist sie legitim. Am Ende
der Passage nimmt die Unmöglichkeit, die Gewalt zu benennen, immer stärker zu,
indem sich das „das“ häuft. Auffällig ist Jürgens zunehmende Distanzierung in diesem Zusammenhang: Die Formulierung „die Gefangenen“ wirft die Frage auf, ob
Jürgen sich nicht mit der Gefangenengruppe identifiziert oder ob er deutlich macht,
dass er kein Teil der Gefangenengruppe ist, die die „Kontrolle“ hat. Die „Kontrolle“
der Gefangenen hat dabei etwas doppeldeutiges: Sie deutet einmal auf die Macht
einzelner Inhaftierter in der Gefangenengemeinschaft hin, zugleich verweist sie auf
eine Machtphantasie, dass die Inhaftierten in der geschlossenen Institution „alles
unter Kontrolle“ haben. Auffällig dabei ist, dass Jürgen die Kontrolle der Mitinhaftierten nicht negativ beschreibt, sondern ihnen im Interview Anerkennung zollt.
Als einen entscheidenden Anlass für Gewalt benennt er, die inoffizielle Regel der
Gefangenen zu brechen, die er folgendermaßen benennt: „Kackst du mich an, mach
ich dich fertig“ (I). Jürgen bezieht sich mit dem „Kackst du mich an“ auf das ungeschriebenes Gesetz der Gefangenen, Informationen aus der Inhaftiertengemeinschaft
nicht an Bedienstete der Institution weiterzugeben. Dieser Regelbruch zieht Sanktionen nach sich („mach ich dich fertig“), die er an einer anderen Stelle im Interview
erwähnt, in der Gewalt konkretisiert wird: „dann kriegt man die Fresse dick“. Jürgen
erzählt, dass die Inhaftierten von Mitinhaftierten mit Schlägen in der Dusche sanktioniert werden. Erneut greift er mit der Dusche dabei auf ein Bild zurück (ähnlich
dem Bild, die Inhaftierten haben alles unter Kontrolle), das einen hermetischen
Raum der Inhaftiertengemeinschaft entstehen lässt, auf den die Beamten keinen
Zugriff haben.
Gewalt und ihre Androhung ist in seiner Erzählung eng mit der Kontrolle der Inhaftiertengemeinschaft und somit mit Macht verknüpft. Diese Bedeutung von Gewalt ist verwoben mit den Drogengeschäften der Inhaftierten, in die Jürgen involviert ist. Er verkauft Drogen für andere Inhaftierte weiter. Gewalt ist legitim, wenn
sie der Kontrolle des Drogenhandels in der Institution dient. Die Kontrolle suggeriert, dass die Dynamik in der Inhaftiertengruppe kontrollierbar und abwägbar wäre.
Jürgen rationalisiert somit die Angst und ständige Bedrohung durch die gewaltförmigen Auseinandersetzungen in der Inhaftiertengemeinschaft.
Darüber hinaus zeigt sich Jürgens Anpassungsfähigkeit an die Regeln und das
Verhalten der Mitinhaftierten. Dies wird in der folgenden Passage sichtbar, in der er
das Verhalten der Inhaftierten, die sich zu „behaupten“ wissen, folgendermaßen
beschreibt:
Wie machen die das hörst du nicht so brauch ich Gewalt ne (so) (I: Hm) geht das ab und das
läuft dann halt ja das sieht man den Leuten an das das kommt dann man sieht halt das die intelligent sind und das die wissen was sie wollen und das das die kriegen was sie wollen un un
wissen wie sie’s kriegen halt ne das merkt man den Leuten sofort an auch wenn man mit denen
redet und so (I)
Jürgen beschreibt zu Beginn der Sequenz eine Redensart („hörst du nicht so
brauch ich Gewalt“), die einerseits an die Ballade vom Erlkönig (Und bist du nicht
willig, so brauch ich Gewalt) und andererseits an einen autoritären und gewaltförmigen Erziehungsstil in einer Eltern-Kind-Beziehung erinnert – nach dem Motto: wer
130
nicht hören will, muss fühlen. Während in der Passage aus dem Erlkönig eine Person (das Kind) mit Gewalt willig oder gefügig gemacht werden soll, verweist die
Assoziation an den autoritären Erziehungsstil auf die Anwendung oder Androhung
von Gewalt, wenn ein Kind nicht gehorcht. Somit wird Gewalt in seiner Erzählung
zu einem Mittel der Erziehung. In der Passage wird darüber hinaus Jürgens Gespür,
die Mitinhaftierten einzuschätzen, sehr gut sichtbar. Mit allen Sinnen – „man sieht“,
„man merkt“ – versucht er sich zu orientieren. Wichtig dabei ist, mit ihnen zu sprechen. Jürgen orientiert sich in Gesprächen. Neben seiner Anpassungsfähigkeit verweist die Passage jedoch auch auf Jürgens Bewunderung für die durchsetzungsstarken Inhaftierten. Er verknüpft die Entschiedenheit und Durchsetzungsfähigkeit der
Inhaftierten mit Intelligenz und erlebt ihr Verhalten als zielführend und erfolgreich.
Erneut zeigt sich, wie stark die Bedeutung von Gewalt in seiner Erzählung mit
Macht („die kriegen was sie wollen“) verknüpft ist.
Die Durchsetzungsfähigkeit ist auch Teil seines Selbstentwurfs, indem er sie als
wichtige Eigenschaft im Umgang mit Mitinhaftierten beschreibt. Dabei nimmt Jürgen Gewalt in Kauf: „das ist egal, ob man aufs Maul kriegt oder so, solange man
sich gerade macht, ist das alles kein Problem, dann lassen sie einen in Ruhe“ (I). Auf
die Frage der Interviewerin, ob er für den Widerstand gegen Unterdrückungsversuche Schläge in Kauf nehmen würde, antwortet Jürgen:
Jaa was heißt eine fangen wenn er mir eine geben will dann wird er eine wiederkriegen (so)
(I: Ahja) (das ist das) (I: Jaa) dann halt grade machen (ne) (I: Jaa) sagen sagen was Sache ist
sich zur Wehr stellen ne (I)
Die Passage ist sehr undurchsichtig. Beschreibt Jürgen zunächst, dass er zurück
schlagen würde, wenn er angegriffen wird, wechselt er schnell zur verbalen Wehrhaftigkeit („sagen was Sache ist“). Unklar bleibt, was Jürgen mit „grade machen“
meint: Richtet er sich auf, zeigt Rückgrat und leistet Widerstand oder biegt er etwas
gerade? Auffällig ist, dass er „sich zur Wehr stellen“ sagt und nicht zur „Wehr setzen“. Auch hier ist ähnlich dem „grade machen“ das Moment des Aufrichtens enthalten, sich groß zu machen und durch körperliche Präsenz Macht zu demonstrieren.
An einer anderen Stelle im Interview positioniert sich Jürgen eindeutiger zu Gewalt:
Aber ich sag mal das was - die so mit mit mit Sexualstr Sexualstraftätern machen dass ich das
doch schon in Ordnung finde weil ich sag mal so die Leute durch den Knast lernen nicht viel
(I)
Jürgen greift in dieser Passage ein kollektives Deutungsmuster der Inhaftiertengemeinschaft auf, das sich in fast allen Interviews des Samples findet: der selbstverständliche gewalttätige Umgang mit Sexualstraftätern. Wobei er auch in dieser Passage die Gewalt nicht benennt. Sie bleibt abermals als „das“ und „was“ unbestimmt
und vage. Seine Begründung bleibt ebenfalls sehr pauschal: weil „die Leute“ durch
die Inhaftierung nicht viel lernen. Indem Jürgen sich auf „die Leute“ bezieht, wird
nicht deutlich, ob die Sexualstraftäter durch das Gefängnis nicht viel lernen oder
auch die Inhaftierten, die die Sexualstraftäter misshandeln. Auffällig ist jedoch, dass
Gewalt legitim ist, wenn man sonst nicht lernt. Hier taucht erneut das Bild der Gewalt als Erziehungsmittel auf.
131
Das Gefängnis als Ort des Lernens ist in Jürgens Erzählung ein entscheidender
Aspekt. Er passt sich nicht nur an die Inhaftiertengemeinschaft an, sondern auch an
die Institution: „Also an sich mit dem Vollzug mit den Gefangenen hier hab ich nie
Probleme gehabt“ (I). Ist bisher deutlich geworden, dass Jürgen betont, wie
problemlos er sich an die Inhaftiertengruppe anpassen kann, verweist er in dieser
Passage auf die Seite des „Vollzugs“, mit dem er nie Probleme hatte. Offen bleibt,
was der „Vollzug“ meint: Bezieht sich Jürgen auf die rigiden und autonomieeinschränkenden Strukturen der Institution oder auf die Beamten als institutionelle
Vertreter? In einer anderen Passage beschreibt er die Strukturen der Institution näher. Er erzählt über die Untersuchungshaft, in der er 23 Stunden Einschluss hat:
J: und das hat mir wirklich gezeigt was Knast ist das hat mich beeindruckt (I: Hm) (nicht) das
was hier läuft (...) (I: Was hat sie)
I: Was hat sie daran beeindruckt?
J: Das - ja das der Knast so hart sein kann
I: Hm.
J: das heißt man hat ‘ne Stunde eh eh Freizeit mit da kommt man mit anderen Gefangenen zusammen un ansonsten sitzt man auf seiner Zelle und kann zusehen wie man da die Zeit totschlägt (I: Hm) (und) das ist das du kannst machen was du willst du kommst da nicht raus
(I: Hm) (und) das ist das welche Macht letztendlich der Knast (hat) (I: Hm) bzw. welche
Macht die Beamten über dich haben. (I)
Jürgen ist „beeindruckt“ von der Strenge und Härte des Gefängnisses. Er irritiert
damit zunächst, weil er die Autorität und Rigidität der Institution positiv beschreibt.
Das Verb „beeindruckt“ verweist auf die Mischung von Faszination und Einschüchterung. Ist Jürgen zu Beginn der Textpassage von der Härte des Freiheitsentzugs mit
der Autonomiebeschränkung beeindruckt, wird im Verlauf der Sequenz deutlich,
dass ihn nicht nur die Macht der Institution, sondern die Macht der Beamten beeindruckt. Jürgen verweist in seiner Erzählung weniger auf die schmerzhafte Seite der
ohnmächtige Situation in Haft („du kannst machen was du willst du kommst da
nicht raus“) als auf die mächtige, die er fast bewundernd beschreibt.
Im Gegensatz zur rigiden Untersuchungshaft beschreibt er die Strafhaft, die für
ihn „irgendwo kein Knast“ ist, als „Kindergarten“ (I) und erzählt, dass er sich das
Gefängnis „schlimmer als es ist“, vorgestellt hat.98 Damit relativiert Jürgen die
schmerzhafte Erfahrung des Freiheitsentzugs und die Übermacht der Institution und
ihrer Vertreter. Diese Relativierung steht jedoch im Gegensatz dazu, dass Jürgen
sich im Auftakt des Interviews über die Hafterfahrungen über die Beamten beschwert:
Tja was war damals los ich bin erstmal hier eingeflogen dann bin ich auf die Aufnahme gekommen [Gebäudeteil A] und da muß ich sagen hat man sich sehr wenig um mich gekümmert
(I: Hm) (so) - an sich erstmal nicht auf mich eingegangen (I)
98 Zum Begriff „Kindergarten“ in den Interviewauftakten vgl. FN 87
132
Jürgen beginnt seine Erzählung mit einer Anklage gegen die Institution und ihre
Vertreter. Er hat hohe Erwartungen an die Institution, die mit einem intensiven Beziehungswunsch („kümmern“) verknüpft sind. Er ist enttäuscht und empört darüber,
dass nicht auf ihn eingegangen wird. Wird in der Passage über die Untersuchungshaft deutlich, dass er die Beamten für ihre Macht bewundert, zeigt sich in dieser
Sequenz, dass er sich zugleich wünscht, dass die Beamten sich um ihn kümmern und
mit ihm in Beziehung treten. Jürgen hätte sich mehr – „Zuneigung“ will er nicht
sagen – aber mehr Gespräche mit den Beamten gewünscht.
Seine Empörung und Enttäuschung bezieht sich vor allem darauf, dass ihm in der
zweiten Vollzugsplanung – drei Monate vor seiner Entlassung – von Seiten der
Institution nahe gelegt wird, an einer Alkoholtherapie teilzunehmen, weil ihm ein
Alkoholproblem unterstellt wird. Jürgen fühlt sich „als eh Alkoholiker abgestempelt“ (I) und widersetzt sich. Er wehrt die Therapie durch ein Gespräch mit einer
externen Suchtberatung ab. Jürgen macht in dieser Situation die Erfahrung, sich
gegen die mächtigen Strukturen des Vollzugs zu wehren.
Neben der Härte des Gefängnisses, die ihn beeindruckt und den Beamten, die sich
nicht „kümmern“, beschreibt Jürgen in der folgenden Textstelle zwei Beamte, die
ihm „am besten gefallen“:
ja mit denen kann man sich auch unterhalten so da kann man sich mal hinstelln un un über’n
Vollzug reden oder halt auch über draußen so (un un) (I: Hm hm) ach Politik mit denen kann
man eigentlich auch über alles reden und die sind so - weiß nich den geht das alles sag ich mal
so ziemlich am Arsch vorbei weil die finden das was hier läuft auch nicht unbedingt gut ne
(I: Hm) (die) müssen sich halt nur dem fügen was halt die Anstalt will ne (I: Hm) (den) den
Regeln halt so un un - ja weiß nicht das - das sind eigentlich so die Beamten wo ich sagen
muss mit denen komm ich am besten klar und und mit denen würd ich auch nie Probleme machen. (I)
Jürgen betont zunächst die Gespräche mit den Beamten, mit denen man „über alles reden“ kann. Es entsteht das Bild einer gleichberechtigten Unterhaltung, ohne
Hierarchien. Dieses Bild spitzt sich im Verlauf der Passage immer stärker zu. Er
verwischt die Differenzen zwischen den Beamten und den Gefangenen, indem er
erzählt, dass sich die Beamten den Regeln der Institution, die sie nicht gutheißen,
ebenfalls „fügen“ müssen. Am Ende der Passage wird die Identifikation mit den
Beamten am deutlichsten, wenn Jürgen sagt, dass er „mit denen“ „nie Probleme
machen“ würde, statt dass er ihnen nie Probleme machen würde. Auf sprachlicher
Ebene macht Jürgen gemeinsame Sache mit den Beamten. Allerdings bleibt auch
hier offen, wie er den Beamten Probleme bereiten kann. Die Passage steht im Kontrast zu der hermetischen Gefangenengemeinschaft, die Jürgen sonst beschreibt. Er
scheint hin und her zu wandern zwischen der Identifikation mit den Mächtigen in
der Inhaftiertengemeinschaft und der Identifikation mit den Beamten, die er als
mächtige Vertreter der Institution wahrnimmt. Jürgen identifiziert sich im Gefängnis
mit Mächtigen, von denen er lernen kann, zugleich macht er die Erfahrung, sich
erfolgreich gegen die Macht und den Versuch der Kontrolle zu wehren.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Gewalt für Jürgen ein legitimes Mittel ist, wenn sie rational und funktional ist, um Macht zu demonstrieren oder zu
133
erlangen oder um sich an den Drogengeschäften der Inhaftiertengemeinschaft zu
beteiligen. Deutlich wird seine Distanzierung von Unberechenbarkeit und Unbeherrschtheit. Gewalt ist für Jürgen eng verwoben mit Macht. Er identifiziert sich mit
den Mächtigen und bewundert sie – sowohl in der Inhaftiertengemeinschaft als auch
mit den Vertretern der Institution. Diese doppelte Orientierung verweist auf Jürgens
Anpassungsfähigkeit.
Wie lässt sich die Identifikation mit den Mächtigen und sein rationaler Blick auf
Gewalt biographisch verstehen?
„was ich noch von meinen Eltern weiß“ – Erzählte Tradierung im Elternhaus
Sprechen, in Form von „miteinander“ oder „darüber“ sprechen, ist nicht nur im
Gefängnis, sondern auch in Jürgen Kempers biographischer Erzählung ein zentrales
Thema, wenn er über Interaktionen in der Familie spricht. Auch außerhalb der Familie misst er die Qualität der Beziehung zu Freunden und Freundinnen, Lehrern sowie
Ausbildern daran, wie gut er mit ihnen sprechen kann oder ob sie mit ihm geredet
haben. Sprechen scheint in seinem Elternhaus wichtig zu sein. In Jürgens Wahrnehmung wird in der Familie viel miteinander gesprochen. Die Auftaktsequenz spiegelt
dies in doppelter Hinsicht wider: „Ja was mir einfällt. Ich fang mal damit an, dass
wir in unser neues Haus gezogen sind, das sind mehr beruht mehr auf Erzählungen,
was ich noch von meinen Eltern weiß.“ (II)
Jürgen ist gleich zu Beginn des Interviews als Subjekt präsent. Er reflektiert
(„was mir einfällt“) und ist der Erzähler, der entschieden auswählt. Dann bezieht er
sich auf ein „wir“, das zunächst undefiniert ist. Im weiteren Verlauf des Interviews
stellt sich heraus, dass es sich dabei um seine Eltern sowie seine drei und sechs Jahre
älteren Schwestern handelt. Jürgen erlebt somit eine starke kollektive Identität der
Familie, ein Familien-Wir, dem er sich zugehörig fühlt und das in „unserem neuen
Haus“ ein Zuhause hat. Den Umzug in das neue Haus wählt er als Anfang der Erzählung. Das Haus scheint bedeutsam und identitätsstiftend für die Familie zu sein.
Auffällig ist, dass Jürgen zunächst nicht über eigene Erinnerungen erzählt, sondern
dass er benennt, dass ihm die Geschichte des Umzugs erzählt wurde. Der Auftakt ist
eingebettet in eine Erzähltradition, die er im Interview fortführt.99
Aber nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form des Intervieweinstiegs verweist
auf die Bedeutung des Sprechens. Die eben angeführte Sequenz ist nur der kurze
Beginn eines langen Auftakts. Jürgen Kemper beginnt sein biographisches Interview
mit einer Stegreiferzählung, die im weiteren Verlauf über mehr als eine Seite geht
und die außer den zustimmenden „hm“ der Interviewerin nicht unterbrochen ist. Sie
endet mit einer Koda: „ja das war’n eigentlich soweit erstmal das was ich so sagen
99 Das Moment der Überlieferung und Familientradition spiegelt sich auch im Längsschnitt
wider, wenn Jürgen im zweiten Längsschnittinterview (IV) erzählt, dass in jeder Generation
ein männliches Familienmitglied den Namen Jürgen erhält.
134
kann“.100 In diesem im Vergleich zu den meisten anderen interviewten jungen Männern der Studie ungewöhnlich langen und wortgewandten Auftakt erzählt Jürgen
einen kurzen Abriss seines Lebens entlang von guten und schlechten Erfahrungen in
der Familie. Er fügt Erzähltes und Erinnertes zu einer Gesamterzählung über die
Familie zusammen, in der sein Vater viel Raum einnimmt.101 Auffällig ist, dass
Jürgen gute und schlechte Erfahrungen nebeneinander stehen lässt. Dies zeigt sich
auch im weiteren Verlauf des Interviews, wenn er über positive Erinnerungen an
eine schöne Kindheit („Das sind Erinnerungen, die ich an sich so nicht mehr missen
möchte“ (II)) und die „negative Erfahrung“, dass sein Vater „Alkoholiker geworden“ ist, erzählt.
„das die Planung halt und das Zusammenleben gestimmt hat ne“ – haltendes
Familien-Wir
Jürgen erzählt, dass er an die Zeit als er klein war, keine Erinnerungen mehr hat. Das
erste Ereignis, das er selbst erinnert, ist ein Unfall, bei dem er sich im Alter von
neun Jahren den Oberschenkel bricht. Er muss sechs Wochen im Krankenhaus und
sechs Wochen zu Hause liegen. In diesen drei Monaten spielt er Computer, unterhält
sich viel mit seinen Eltern und arbeitet für die Schule, wobei ihn seine Mutter unterstützt. Das Bedeutendste an dem Unfall ist für ihn, zu merken, wie sich seine Geschwister und seine Eltern um ihn kümmern und jederzeit für ihn da sind. Jürgen
erlebt, dass er während seiner Verletzung viel Aufmerksamkeit erfährt.
Im Zusammenhang mit dem Unfall spricht er durchgängig von seinen Eltern und
seinem Elternhaus und erwähnt eher beiläufig, dass der Vater zur Zeit des Unfalls
nicht bei der Familie lebt. Er ist zwei Jahre zuvor aus dem Haus ausgezogen und lebt
mit einer neuen Partnerin zusammen. Das Familien-Wir besteht in Jürgens Erzählung auch über die Trennung der Eltern hinaus: Die Eltern kooperieren, wenn es um
Jürgen geht. Er beschreibt, wie die Familie in außergewöhnlichen Situationen, wie
seinem Unfall, zusammenhält. Der Vater kümmert sich um Jürgen, sowohl im Krankenhaus, in dem er als Krankenpfleger in der Nachtschicht arbeitet, als auch zu
Hause, wo er ihn häufig besucht: „also da hat man gemerkt, dass dass dass man eben
wichtig war (das) (I: Hm) ne dass man halt sein Sohn war irgendwo ne“ (II). In
seiner Erzählung über die Situation, verletzt zu sein, bringt er zum Ausdruck, dass er
das Verhalten des Vaters als väterlich fürsorglich erlebt. Jürgen konnte Kind sein,
100 Wenn hier von Stegreiferzählung und Koda die Rede ist, soll mit diesen Begriffen aus der
Narrationsanalyse auf die narrative Kompetenz und Redegewandtheit Jürgens verwiesen werden. Es sind damit jedoch keine weiteren methodischen und methodologischen Implikationen
verknüpft, denn bei dem erhobenen Interview handelt es sich weder um ein klassisch narratives Interview, noch wird bei der Auswertung der Narrationsanalyse gefolgt.
101 Jürgen spricht in der gesamten Erzählung häufig von dem Verhalten oder den Reaktionen
seiner Eltern. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass es sich dabei meist um das Verhalten
oder die Reaktion seines Vaters handelt. Er stellt somit die Eltern auf den ersten Blick als
Einheit dar, zugleich wird deutlich, wie übermächtig der Vater in seiner Wahrnehmung ist.
135
im Sinne, dass er versorgt wurde, klein und bedürftig sein durfte. Zugleich wird aber
deutlich, dass Jürgen nicht über sich spricht, sondern „man“ benutzt. Aus dieser
Perspektive erscheint die Sequenz wie ein Merksatz, in dem normative Erwartungen
an einen Vater (ein Sohn ist wichtig) formuliert werden. Damit wirft die Passage die
Frage auf, ob Jürgen nicht das Gefühl hat, seinem Vater wichtig zu sein und er die
Vater-Sohn-Beziehung sonst nicht so eindeutig erlebt.
In dieser Zeit, als der Vater ausgezogen ist, „fehlte was im Haus“ (II). Jürgen erzählt außer dem Unfall wenig darüber, obwohl er eher beiläufig erwähnt, dass seine
Mutter „ziemlich depressiv gewesen“ (II) ist. Er beschreibt jedoch nicht näher, was
die Depressionen der Mutter bedeutet haben und die Zeit nach dem Auszug des
Vaters bleibt in seiner Erzählung eher nebulös. Die Wochenenden verbringt Jürgen
bei seinem Vater und dessen neuer Freundin. Obwohl sie ihm sympathisch ist, gewöhnt er sich nicht an sie, und er heißt die Beziehung nicht gut: „sie gehörte halt
irgendwo nicht dazu ne.“ (II) Es wird deutlich, dass die Freundin des Vaters in Jürgens Erzählung kein Teil seines Familien-Wirs wird. Allerdings hat er die Beziehung „akzeptiert, weil ne er wollte es so“ (II). Jürgen passt sich dem Willen seines
Vaters an und rebelliert nicht.
Als Jürgen ungefähr zehn Jahre alt ist, kehrt der Vater zur Familie zurück. Als
Grund für die Rückkehr nennt Jürgen, dass die Mutter auf den Vater solange einredet, ihn „so lange zugetextet hat“ (II), bis er sich zu einer Rückkehr zur Familie
entscheidet. In dieser Sequenz erscheint seine Mutter hartnäckig. Wenn die Mutter
„zutextet“, entsteht ein Bild des Vaters, der verstummt. Sie lässt nicht locker und
bewegt den Vater zurück zu kehren, obwohl sich dieser in Jürgens Erzählung über
die Entscheidung unsicher ist. Der Vater spricht mit seiner Freundin, woraufhin sie
„durchgedreht ist und bei uns Fensterscheiben eingeschlagen hat (?so) (I: Hm) und
das war dann halt der Punkt wo er dann gesagt hat ‚das war’s jetzt endgültig’ ne.“
(II)
Die Freundin des Vaters greift tatsächlich und im übertragenen Sinn die Familie
an, indem sie das für die Familie identitätsstiftende Haus beschädigt. Ferner verweist die Sequenz darauf, dass der Vater scheinbar keine Entscheidung trifft, sondern einen äußeren Anlass sucht, um sich zu trennen. Er wird von den Frauen getrieben. Jürgen beschreibt seinen Vater somit implizit als abhängig, im manifesten
Text erlebt er ihn als autonomen Mann. Unklar bleibt zunächst, worauf sich das
„‚das war’s jetzt endgültig’“ bezieht – trennt sich der Vater endgültig von seiner
Frau oder seiner Freundin? Im weiteren Verlauf des Interviews bestätigt sich die
zweite Lesart. Jürgen beschreibt das Verhalten der Freundin als Anlass, dass der
Vater sich zur Rückkehr zu seiner Familie entscheidet. Die Frauen sorgen somit für
eine Entscheidung – die Mutter durch „zutexten“, die Freundin durch „durchdrehen“. In der Begründung für die Trennung des Vaters von seiner Freundin zeigt sich
eine Strukturparallele zu der Bedeutung von Gewalt im Gefängnis: Distanziert sich
Jürgen im Interview über die Hafterfahrungen von der Unberechenbarkeit, distanziert sich der Vater in Jürgens Wahrnehmung von der Freundin, als sie „durchdreht“
und sich irrational verhält. Auffällig an der Passage ist der hohe Grad der Identifika-
136
tion Jürgens mit dem Vater, der sich darin widerspiegelt, dass er das Ereignis aus der
Erlebnisperspektive des Vaters erzählt.
Aus der Zeit nach der Rückkehr des Vaters erinnert Jürgen Situationen, in denen
er als Jugendlicher gemeinsam mit seinen Schwestern der Mutter im Garten hilft,
während der Vater nach dem Nachtdienst im Haus schläft. Jürgen macht die Gartenarbeit Spaß, und er antwortet auf die Frage der Interviewerin, ob sie seinen Schwestern auch Spaß gemacht hat: „Die waren alle sag ich mal hell auf begeistert ne“ (II).
Der Sprachgebrauch „hell auf begeistert“ irritiert zunächst durch den betonten Enthusiasmus. Durch die übertriebene Sprache liest sich die Sequenz ironisch, aber
Jürgen meint sie nicht ironisch. Die eher aufgesetzte Sprache setzt sich auch in der
Passage fort, in der Jürgen über Familienwanderungen und -ausflüge am Wochenende zu landschaftlich schönen Stellen oder zu Bauwerken in der Umgebung erzählt,
die für ihn „lehrreich“ und „angenehm“ (II) waren. Er resümiert diese Erlebnisse:
J: das sind halt so die die Dinge wo ich sagen muß das das -- das das die Planung halt und das
Zusammenleben gestimmt hat ne (I: Hm) (weil) das das haben halt alle mitgemacht un un das
wollten auch alle ne.
I: Hm. Hat niemand gebockt und gesagt ich hab keine Lust
J: Nein.
I: auf Kirchenbesichtigungen (oder Teich saubermachen) (schmunzelt). (J: Nee das das war)
J: Nee das war genauso wie damals mit der Kirche da haben wir gesagt wi wir gehn dahin und
gut ist es gewesen ne. (II)
Jürgen betont in der Sequenz einen geordneten und strukturierten Charakter der
Familienausflüge („die Planung hat gestimmt“). Darüber hinaus hat auch das Zusammenleben „gestimmt“. Dies ist dadurch gekennzeichnet, dass „alle mitgemacht“
haben und alle „das wollten“. Erneut beschreibt er ein starkes Familienkollektiv, aus
dem niemand ausbricht. In der Textpassage werden keine Konflikte zur Sprache
gebracht. Die Harmonie und uneingeschränkte Zustimmung in Bezug auf unterschiedliche Familienaktivitäten betont Jürgen an vielen Stellen im Interview. In der
Interviewinteraktion wird deutlich, dass die Interviewerin an der konfliktfreien Version zweifelt. Als Jugendliche „hell auf begeistert“ über die Gartenarbeit zu sein,
erscheint ihr eher ungewöhnlich. Die Irritation rührt daher, dass Jürgen nicht erzählt,
was er daran mochte, was ihm Spaß gemacht hat und es keine lebendigen erlebnishaften Erzählungen über die Aktivitäten gibt. Auf der sprachlichen Ebene entsteht in
der Passage der Eindruck, als erzähle Jürgen nicht aus seiner Kindheit und Jugend,
sondern er erzählt über sie. Das Vokabular erscheint geliehen und die Perspektive ist
stark von außen geleitet. Er stellt die Erlebnisse mit der Familie durchweg positiv
dar, klammert die konflikthaften Erfahrungen aus und spricht nicht über emotionale
Beziehungserfahrungen. Er wirkt sehr rational und Spaß oder Gefühle werden nicht
deutlich. Wie sehr Jürgen um dieses positive Bild der Familie bemüht ist, wird am
Ende der Sequenz deutlich. „Gut ist es gewesen“ verweist zum einen darauf, dass es
scheinbar keinen Verhandlungsspielraum über die Kirchenbesuche gegeben hat.
Wenn sich die Kinder untergeordnet haben, ist es „gut“ gewesen. Rein sprachlich
137
spitzt sich darin die durchweg positive Bewertung der Situation weiter zu. Zum
anderen lässt sich die Sequenz auch als implizite Aufforderung an die Interviewerin
lesen, nicht weiter nachzufragen. Sichtbar werden in der rückblickenden Perspektive
Fügsamkeit, Respekt und Loyalität gegenüber den Eltern. Es scheint schwer, Kritik
an ihnen zu üben. Auffällig ist, dass im Interview keine Spuren von Auflehnung und
Autonomiebestrebungen sichtbar werden, obwohl alle drei Geschwister in der Adoleszenz sind. Eine mögliche Lesart wäre, dass Jürgen mit seinen Eltern übereinstimmt und an der Ordnung festhält, weil er die Unordnung fürchtet. Jürgen will
durch den Sprachgebrauch jeden Zweifel an den Familienaktivitäten, an denen alle
begeistert teilgenommen haben, wegwischen und lässt sich von der Interviewerin
auch nicht von diesem konfliktfreien Bild abbringen. Offen bleibt, ob es eine Möglichkeit gegeben hätte, sich zu verweigern oder zu entziehen, und mit welchen Konsequenzen dies verbunden gewesen wäre.
Die Kirche, die Jürgen in der Sequenz anspricht, verweist auf die Zeit nach der
Rückkehr des Vaters, als die Familie sich einer Glaubensgemeinschaft anschließt
und sich an strenge religiöse Regeln anpasst. Jürgen nimmt in der Passage schon
potenzielles Nachfragen und Anzweifeln der Interviewerin vorweg. Er beschreibt
die Situation folgendermaßen:
Und damals wo wir zur Kirche gegangen sind weiß ich auch noch da hat mein Vater uns immer gefragt ob wir was dagegen hätten (hustet) wenn die Fernseher aus dem Haus kommen
würden und alle drei Geschwister gleichzeitig so „nö haben wir nicht ist kein Problem“. (II)
Die Kinder rebellieren nicht gegen den Vorschlag des Vaters. Wobei das „immer“
nahe legt, dass der Vater mehrmals gefragt hat. Hat er gehofft, die Kinder möchten
den Fernseher behalten? In der Art, wie Jürgen die Situation beschreibt, wird eine
starke Übertreibung sichtbar: Alle drei Kinder stimmen dem Vorschlag des Vaters
unisono im Chor zu. Es entsteht ein Bild, in dem alle drei Geschwister überangepasst sind. Diese Überangepasstheit wirft Fragen auf: Will Jürgen, dass alle dem
Vorschlag zustimmen? Hat er Angst davor, was passiert, wenn jemand nicht zustimmt? Oder blendet er die konflikthaften Erfahrungen aus? Wird die Passage auf
ihren latenten Sinn befragt, lässt sich das scheinbar demokratische Verhalten des
Vaters („immer gefragt“), das mit der selbstverständlichen Unterordnung der Kinder
einhergeht, als Hinweis auf autoritäre Verhältnisse lesen.
Jürgen betont, wie „beeindruckend“ es war, das Funktionieren der Familie und
die Harmonie zu erleben. Neben dem Fernsehkonsum haben die religiösen Regeln
der Gemeinde auch den Konsum von Alkohol verboten. In dieser Zeit (mit rigiden
äußeren Strukturen) hat sein Vater nicht oder nur „ganz selten“ Alkohol getrunken.
Jürgen schildert die Familienregeln als harmonische Konsensentscheidungen. Die
auffällig betonte Harmonie und Konfliktfreiheit in der Familie, die in Jürgens Erzählung mit einer Überangepasstheit der Kinder einhergeht, erfährt ihre Bedeutung vor
dem Hintergrund des nächsten Abschnitts.
138
„entweder hat man geredet oder wenn’s zu schlimm war, gab’s halt auf’n Arsch“ –
einseitige Kommunikation
Die harmonischen Konsensentscheidungen und die hohe Bedeutung des miteinander
Sprechens in Jürgens Erzählung haben noch eine andere Seite: „weil die Eltern haben irgendwo immer die besseren Argumente“ (II). Die Gespräche, das miteinander
Sprechen scheint eher eine einseitige Kommunikation zu sein. Offen bleibt, ob die
Argumente der Eltern Jürgen überzeugen oder ob er gegen sie nicht ankommt. Hier
deutet sich bereits an, dass es nicht immer Konsensentscheidungen sind. Übereinstimmung scheint es nur zu geben, wenn die Kinder den Eltern zustimmen.
So erwähnt Jürgen, dass seine Mutter „teilweise zu streng“ (II) war. Als Beispiel
führt er strikte Vorgaben über die Uhrzeit, wie lange er ausgehen durfte, an. Es gibt
wiederkehrende Diskussionen über die Ausgehzeiten, aber er konnte sie nicht überzeugen. Seinen Vater erlebt er in diesem Zusammenhang als Autoritätsperson, an
dessen Ansichten er nichts ändern kann. Als er nicht im Unterricht erscheint und
seine Eltern einen Brief von der Schule erhalten, fragt ihn der Vater „was denn los is
und so und und wieso weshalb und so“ (II). Der Vater fragt ihn nach Gründen. Offen bleibt, ob Jürgen sein Fernbleiben vom Unterricht rational nicht erklären kann,
ob er dem Vater die Gründe nicht nennen will oder ob der Vater die Gründe nicht
versteht. In einer weiteren Textstelle, in der er beschreibt, wie er mit seinen Eltern
über seine Autodiebstähle und das Fahren ohne Führerschein spricht, erzählt er:
J: Nein das so was das das haben sie irgendwo nicht verstanden nicht so richtig sie ham’s zwar
versucht irgendwo aufzunehmen aber so richtig ham das hab ich immer wieder gemerkt so
richtig haben sie es (nicht verstanden) (I: Hm) da sind sie nie so so drauf (klargekommen)
(I: Hm) ne.
I: Hm. Woran haben Sie das gemerkt dass die das nicht verstehen?
J: Ja dieses immer wie immer wieder dieses Nachgefrage vor allem immer wieder die Frage
warum und das das weiß nicht das merkt man so in der Gesellschaft niemand fragt warum jeder weiß das irgendwas ist wie es ist aber keiner fragt warum es (so ist) (I: Hm) so und das war
bei uns zu Hause kom völlig anders da war grundsätzlich die erste Frage warum (warum)
(I: Hm) hast du das gemacht. (II)
Jürgen hebt hervor, dass die Eltern durch ihr Nachfragen, versuchen, zu verstehen, zugleich wird in der Passage deutlich, dass Jürgen unter Erklärungszwang steht
und sich von seinen Eltern nicht verstanden fühlt. Die Frage nach dem „Warum“
lässt verschiedene Lesarten zu. Sie kann einmal als Frage nach dem Sinn verstanden
werden. Ferner lässt sie sich als Vorwurf der Eltern lesen im Sinne von: Warum hast
Du uns das angetan? Darüber hinaus steht hinter der Frage nach dem Warum auch
die Idee der Begründbarkeit. Die Eltern fragen nach einem rationalen Grund, aber
Jürgen kann die Frage nicht beantworten, weil es keinen vernünftigen Grund zu
geben scheint. Das entscheidende an der Sequenz ist jedoch, dass sichtbar wird, dass
die Eltern keine unvernünftigen und irrationalen Handlungen akzeptieren. In dem
Moment, wo in der Sequenz die Genervtheit Jürgens über „immer wieder dieses
Nachgefrage“ offensichtlich wird, nimmt seine Erzählung eine irritierende Wen-
139
dung: Er klagt die Gesellschaft an (und nicht die Eltern). Seine Anklage an die Gesellschaft liest sich dabei doppeldeutig: Warum fragt ihn aus der Gesellschaft niemand nach den Gründen? Seine Eltern fragen ja, aber verstehen ihn nicht. Die Eltern
stehen damit ein Stück neben der Realität, weil sie Fragen stellen, die sonst niemand
stellt. Zugleich wertet er die Familie durch diesen Vergleich auf und signalisiert
implizit, dass dort nach dem Grund gefragt wird. Auffällig ist jedoch, dass das Gespräch sehr einseitig wirkt. Jürgen erzählt ausschließlich über die Interaktion der
Eltern. Was er antwortet, bleibt unklar. Es bleibt offen, was er sagt und wann er
redet. Im weiteren Verlauf des Interviews wird darüber hinaus deutlich, dass nicht
alle Konflikte durch Sprechen gelöst werden:
J: und dann gab’s auch schon mal ein paar auf’n Arsch (I: Hm) (aber) da muß ich sagen bin ich
heute doch glücklich drüber (I: Hm) (weil) ich denk mal sonst wär ich doch früher abgerutscht
(I: Hm) (un und) dann wär das alles glaube ich noch schlimmer geworden ne.
I: Meinen Sie?
J: Doch.
I: Hm.
J: Und das ist auch das Ding mit der Erziehung die die auch die Erziehungsmaßnahmen Hausarrest oder so hab ich nie (kennengelernt) (I: Hm) ne daß ma entweder hat man geredet oder
wenn’s zu schlimm war gab’s halt auf’n Arsch (ne) (I: Hm)
I: Was heißt denn gab’s auf’n Arsch was passierte dann mit (Ihnen) (J: Ja mit’m Gartenschlauch)
J: oder so oder (I: Hm) (weiß ich) was ne ich mein in dem Moment war man zwar tierisch sauer (aber) (I: Hm) dann im Nachhinein hat man sich das überlegt ne hm (räuspert sich) un mein
Vater hat mich nie zu Unrecht (geschlagen) (I: Hm) niemals (I: Hm) (und) das ist das Ding
wenn man im Nachhinein drüber nachdenkt dann wird man sich klar warum und wieso eh
überhaupt un und dann ist man auch irgendwo nicht mehr sauer also (bei mir) (I: Hm) war das
so ich hab das dann eingesehen ich hab Scheiße gebaut dafür bin ich bestraft worden un un ne
(I: Hm) gut ist gewesen. (II)
Anfangs bleibt in der Textpassage offen, wer schlägt. Jürgen verharmlost die Gewalt gegen ihn, indem er die Schläge mit dem Gartenschlauch als „schon mal ein
paar auf’n Arsch“ bezeichnet. Dies ist eine der wenigen Sequenzen, in denen Jürgen
Konflikte thematisiert. Spricht er zunächst über die Gewalt, rationalisiert er sie jedoch umgehend, indem er diese Erfahrung rückblickend bewertet: „bin ich heute
doch glücklich drüber“. Er greift auf das Erklärungsmuster zurück, dass die Gewalt
sein „Abrutschen“ verzögert hat. Auffällig ist an der Passage, dass Jürgen nicht
mehr von sich in der ersten Person spricht, als die Interviewerin ihn auffordert, die
Gewalt zu konkretisieren. Die durchgängige Verwendung von „man“ verweist auf
eine Verallgemeinerung und Distanzierung. Erst am Ende taucht er als Subjekt auf,
wenn er über Schuld und Strafe spricht. Dies legt nahe, dass er zu Beginn der Sequenz über ein von außen herangetragenes Erklärungsmuster erzählt, auf das er sich
erst im nächsten Schritt als Subjekt bezieht. Das Interaktionsmuster zu Beginn der
Textpassage, die Gewalt zu thematisieren und sie zugleich zu rationalisieren, wie-
140
derholt sich am Ende erneut. Jürgen spricht davon, dass er „tierisch sauer“ war,
rationalisiert die Wut auf den Vater jedoch im nächsten Schritt („im Nachhinein hat
man sich das überlegt“). Darauf verweist auch die rationale Erklärung für die Gewalt: der Vater habe ihn „nie zu Unrecht“ bestraft. In dieser Erklärung zeigt sich
eine strukturelle Ähnlichkeit zu der Bedeutung von Gewalt im Gefängnis. Aus Jürgens Sicht ist Gewalt legitim, wenn sie funktional ist. Jürgen wird vom Vater für
sein Verhalten bestraft, aber indem er sagt „nie zu Unrecht“, nimmt er die Schuld
auf sich und entlastet seinen Vater.
Wie sich bereits in den Passagen über die Abschaffung des Fernsehers und das
miteinander Sprechen andeutet, zeigt sich hier sehr deutlich, dass der Vater autoritär
erscheint und die Familienordnung scheinbar sehr rigide ist. Die körperliche Gewalt
des Vaters könnte mit der Überangepasstheit der Kinder, wie sie in den anderen
Sequenzen deutlich wird, im Zusammenhang stehen und auf die potenzielle Angst
verweisen, sich den Empfehlungen des Vaters zu widersetzen. Jürgen beendet die
Passage fast wortwörtlich identisch, wie die Sequenz über die Familienaktivitäten
und den gemeinsamen Kirchenbesuch („gut ist gewesen“). Erneut schließt er das
Thema resolut ab und versucht somit keine Zweifel an seiner Begründung aufkommen zu lassen.
Jürgen erzählt, dass der Vater ihn hauptsächlich dann geschlagen hat, wenn er das
Werkzeug zum Auto reparieren nach Gebrauch nicht wieder an seinen Platz zurückgelegt hat. Diese Abmachung hält Jürgen nur selten ein und betont in diesem Zusammenhang erneut, dass sein Vater ihn somit nie grundlos geschlagen hat. Die
Schläge hat Jürgen auch nicht als „zu häufig oder zu heftig“ (II) erlebt: „Es es hat
sich immer in Maßen gehalten er wusste immer wann Schluss ist (I: Hm) und
Schluss sein muss wann’s genug war (ne)“ (II). Jürgen betont in der Passage erneut
die Angemessenheit der Schläge des Vaters. Konnte er sich darauf verlassen, dass
der Vater rechtzeitig aufhört? Dies wirft die Frage auf, wann „Schluss sein muss“
und „wann’s genug war“. Es wird die Idealisierung des Vaters deutlich, wenn Jürgen
über die Misshandlungen spricht und dabei seinen Vater würdigt und mit positiven
Eigenschaften beschreibt. Indem er den Vater und die Schläge als berechenbar
schildert, rationalisiert er erneut die Angst vor der Gewalt des Vaters. Die Rationalisierung der Angst spiegelt sich auch in der Idee wider, dass es ein Maß gibt. Was ist,
wenn Affekte am Werk sind, die sich nicht in Grenzen halten lassen? Diese affektiv
aufgeladene Gewalt existiert hier in Jürgens Erzählung nicht, sondern er beschreibt
seinen Vater als jemanden, der Maß hält, der weiß, wann es genug ist und sich unter
Kontrolle hat. Jürgen spricht im biographischen Interview immer wieder bewundernd über die Kontrolle, die sein Vater über sich hat. Auf den Alkoholkonsum des
Vaters bezogen beschreibt Jürgen, wie stark sich der Vater zusammenreißen konnte:
Er hat nicht „getorkelt“ und „ganz normal geredet“ (II). Man hat es ihm nicht angemerkt, „es sei denn man hat es gerochen“ (II). In Jürgens Entwurf konnte der Vater
seinen Alkoholkonsum vor Außenstehenden gut verbergen, die Normalität aufrecht
erhalten – gemerkt hat man den Konsum nur, wenn man ihm nahe kam. In einer
anderen Passage erzählt er:
141
Auch man selber nicht so als (als Kinder) (I: Hm) halt ne (I: Hm) man hat’s dann zwar am Pegel von der Flasche gesehen das (das er was) (I: Ja) drin hatte aber so halt die dieses dieses Zusammenreißen (das) (I: Hm) weiß nicht das war doch schon beeindruckend muss ich sagen.
(II)
Die Textpassage verweist als einzige im Interview darauf, dass der Vater schon
Alkohol getrunken hat, als Jürgen noch ein Kind war. Zudem macht sie deutlich,
dass die Kinder den Zustand des Vaters scheinbar nicht einschätzen konnten, sondern „am Pegel von der Flasche“ erkannt haben. Das Wort „Zusammenreißen“, das
Jürgen häufig im Zusammenhang mit seinem Vater benutzt, ist dabei ein in sich
widersprüchlicher Begriff: etwas reißt normalerweise auseinander und nicht zusammen. Der Begriff beinhaltet somit eine Spannung zwischen Zerstörung und Zusammenhalt. Es lässt sich die Frage aufwerfen, wer sich zusammenreißen musste: Der
Vater, weil er getrunken hat oder die Kinder, wenn der Vater getrunken hat? Auffällig an der Passage ist die hohe Idealisierung des Vaters, die sich in dem irritierenden
„war doch schon beeindruckend“ zeigt. Zugleich beschreibt Jürgen nicht den perfekten Übervater, sondern das Ringen des Vaters, seinen Alkoholkonsum zu beherrschen.
Die Idealisierung zeigt sich auch in seiner Antwort auf die Frage, was ihm an seinem Vater nicht gefallen hat – Jürgen fällt nichts ein. Er ist ein „ausgezeichneter
Vater“ (II), der sich um seine Kinder und später um die Enkelkinder kümmert. Den
Vater als „ausgezeichnet“ zu bezeichnen, macht deutlich, dass Jürgen keine Beziehungsqualitäten beschreibt. Es verweist auf eine von außen geleitete Perspektive:
Der Vater wird von Jürgen geprüft und prämiert. Genau wie bei seiner Mutter auch,
fällt ihm nichts ein, wo er sagen könnte, dass die Eltern schlechte Seiten hatten – mit
Ausnahme des Alkoholkonsums des Vaters: „halt bis auf dieses wo er ziemlich viel
getrunken hat (I: Jaa) (da ne) das war – ja sag ich mal schlecht für die Familie ne“
(II). Der Konsum schadet dem Familien-Wir. Seine Gefühle in den konkreten Situationen beschreibt er nicht. In Jürgens Erzählungen fallen die negativen und konflikthaften Erinnerungen in diese Zeit, als er zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt
ist.
„Das sind so die Eindrücke oder die Dinge die ich ja die ich nicht noch mal erleben
möchte“ – zerbrechendes Familien-Wir
Im Kontrast zu den Erinnerungen an seine Kindheit und sein Elternhaus, die er „an
sich so nicht mehr missen möchte“ (II), beschreibt Jürgen die Zeit ab dem Alter von
sechzehn oder siebzehn Jahren als Zeit der Eindrücke, die er „nicht noch mal erleben
möchte“. Sein Vater beginnt zunehmend Alkohol zu konsumieren. Als Grund benennt Jürgen, dass der Vater die Erlebnisse während der Nachtschicht im Krankenhaus nicht mehr bewältigen kann. Hier entwirft Jürgen erneut das Bild eines fürsorglichen, aufopferungsvollen und sensiblen Vaters. Zugleich greift er im Interview auf
ein gesellschaftlich weitverbreitetes Erklärungsmuster für vermehrten Alkoholkonsums bei Pflegepersonal aufgrund der psychischen Belastungen zurück. Als Zeichen
142
für die zunehmende Belastung nimmt Jürgen zunächst nicht den Alkoholkonsum
wahr, sondern dass sein Vater viel über das Krankenhaus erzählt, um die Erlebnisse
zu verkraften: „weil wer ständig schluckt der der stirbt von innen ne“ (II). Jürgen
fasst damit die Doppeldeutigkeit des Schluckens zusammen. Steht es zunächst synonym für Probleme nach innen zu nehmen und sich nicht mitzuteilen, verändert
sich die Bewältigungsstrategie des Vaters in Jürgens Erzählung vom Sprechen zum
Schlucken des Alkohols. Jürgen beschreibt, dass der Vater gedacht habe, der Alkohol helfe ihm weiter. Ähnlich der Passage über die Trennung des Vaters von seiner
Freundin wird erneut die Identifizierung mit dem Vater sichtbar, indem Jürgen weiß,
was der Vater denkt. Zugleich wird der Alkoholkonsum des Vaters erklärt und gerechtfertigt.
Jürgen erinnert sich an konkrete Bilder und Erlebnisse in diesen Jahren. Wenn er
von der Schule kommt, sitzt der Vater „sturzbetrunken“ (II) im Wohnzimmer. Jürgen versucht deshalb, so wenig wie möglich zu Hause zu sein. Nach der Schule hält
er sich nur kurz zu Hause auf und geht dann zu einem Freund, was er zuvor eher
selten ist. Jürgens älteste Schwester lebt zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu Hause.
Seine andere Schwester wohnt noch dort, bis sie mit 23 Jahren ebenfalls auszieht.
Seine Schwestern besuchen die Eltern nach ihrem Auszug nicht mehr und rufen sie
nicht an. Er beschreibt, wie das sonst so enge Familien-Wir langsam auseinander
fällt: „(halt) die diese Entfernung die die zu zu ihm ne (I: Hm) (Distanz halt) also
auch meine Mutter meine Geschwister halt un die haben sich alle von ihm distanziert (ne)“ (II). In Jürgens Erzählung gibt es kein „Wir“ mehr, sondern den Vater
und „die“, die sich distanzieren. Wo Jürgen sich im Familiengefüge verortet, bleibt
unklar genauso wie die Frage, ob auch er zu seinem Vater auf Distanz geht. Im Interview bleibt er seinem Vater gegenüber loyal und zugleich der Familie zugewandt.
In seiner Erzählung konstruiert Jürgen somit ein Familien-Wir, an dem er festhalten
kann.
Die Veränderung des Vaters erzählt er als dynamischen Verlauf, an dessen Ende
die Aggressivität des Vaters massiv zunimmt:
J: Ja da wurde er ziemlich aggressiv da hat er das mit dem Alkohol nicht mehr unter Kontrolle
gehabt also er hat soweit gesoffen bis es nicht mehr ging und dann wenn ihm irgendwas nicht
gepasst hat dann ist er halt auf irgendwelche Möbel losgegangen ne.
I: Hat er Möbel zerschlagen.
J: Ja das ist dann auch in zum Schluss ziemlich häufig passiert (ne) (I: Jaa) un weiß nich das
war dann halt auch irgendwo der Punkt wo ich gesagt hab „jetzt reicht’s ich zieh aus ne ich
will nicht mehr ne.“ (II)
Jürgen beschreibt seinen Vater als „ziemlich aggressiv“. Im Gegensatz zu den Erzählungen über die Schläge, die er erhalten hat, erscheint die Gewalt des Vaters in
dieser Passage willkürlich, grundlos, jedoch ist sie gegen Gegenstände gerichtet.
Warum ist die Gewalt des Vaters gegen Gegenstände so viel bedeutsamer als wenn
der Vater Jürgen schlägt? In der Logik, dass der Vater Jürgen nie zu Unrecht schlägt
und immer nur dann, wenn Jürgen sich falsch verhalten hat, erscheint die Gewalt des
Vaters kontrolliert und berechtigt. Da ein Schrank jedoch keine Schuld haben kann,
143
ist das Zerstören der Möbel Symbol von sinnloser Handlung, von Unkontrolliertheit,
Unbeherrschtheit und Zerstörungswut. Bewundert Jürgen zuvor die Kontrolle, die
sein Vater über sich hat, steht diese Szene für dessen Kontrollverlust und Irrationalität. In der Erzählung lässt sich eine interessante Strukturparallele zwischen Jürgens
Verhalten und dem seines Vaters erkennen: Als der Vater „zum Schluss“ häufig die
Möbel zerschlägt, ist für Jürgen der Punkt erreicht, auszuziehen. Der Vater entscheidet sich an einem ähnlichen Punkt – als seine damalige Lebensgefährtin die Fensterscheibe einwirft – dazu, sich endgültig von ihr zu trennen. An dieser fast wortwörtlichen Parallele wird erneut Jürgens Identifikation mit dem Vater deutlich sichtbar.
Kontrollverlust oder Irrationalität wird in der Familie nicht geduldet. Hier zeigt sich
eine interessante Spur: Wie in der Sequenz, in der die Eltern Jürgen nach vernünftigen Gründen für seine Autodiebstähle fragen, bereits deutlich wurde, akzeptieren die
Eltern kein irrationales Verhalten, obwohl der Vater irrational handelt. Diese Spannung zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Kontrolle (vor allem Affektkontrolle) und Unkontrolliertheit scheint ein Familienthema zu sein, das der Vater
verkörpert. Es wird eine zerstörerische Energie des Vaters sichtbar, die legitim ist,
wenn sie rational und funktional ist und illegitim, wenn sie irrational und unkontrolliert ist. Die Situationen eskalieren in Jürgens Wahrnehmung bedrohlich:
und ich weiß nich das war teilweise war’s soweit dass wir wirklich flüchten mussten aus der
Wohnung dass wir abhauen mussten zu meiner Schwester hm (räuspert sich) und dann kamen
halt auch Morddrohungen ne (I: Hm) (mit der) Zeit so da ja das war auch wo ich zwanzig einundzwanzig war (I: Hm) (damals) die Zeit und dann halt bei meinen Eltern gewesen mit meiner Verlobten un da ist er halt auch wieder ausgerastet ne und dann eh (räuspert sich) bin ich
mit meiner Mutter zu meiner Schwester gefahrn mit meiner Verlobten da und dann haben wir
da halt übernachtet ne erstmal so weil ich wollte eigentlich wollt bei meiner Mutter bleiben
und dann ging klingelte das Telefon da und „ich bring euch alle um“ und so ne (und) (I: Hm)
dann hat er halt auch seinen eigenen Wagen auseinander geschlagen ne (I: Hm) (bei) der Angst
(I: Hm) eh weiß nich das sind halt so Erlebnisse die die ich die ich glaub ich nie vergessen
(werde). (I: Hm) (II)
Die Passage beginnt mit einem allgemeinen und eher unkonkreten Einstieg. Es
bleibt unklar, wer „wir“ ist, warum sie flüchten mussten und wer die Morddrohungen ausspricht, die in Jürgens Erzählung einfach „kamen“. Auffällig ist, dass Jürgen
davon spricht, dass sie aus „der Wohnung“ flüchten mussten. Es ist in seiner Erzählung im Moment der Bedrohung nicht mehr das für die gesamte Familie identitätsstiftende Haus. Im Verlauf der Sequenz erzählt er dann die Situation viel konkreter
und sehr lebhaft. Jürgen scheint zu dieser Zeit nicht mehr bei seinen Eltern zu wohnen, sondern ist mit seiner Verlobten zu Besuch, als der Vater „auch wieder ausgerastet“ ist. Jürgen verweist damit in seiner Erzählung darauf, dass sich die gewalttätigen Situationen mit dem Vater scheinbar wiederholt haben. Jürgen fährt daraufhin
mit seiner Mutter zur Schwester und bleibt über Nacht. Er beschreibt sich als Beschützer der weiblichen Familienmitglieder, allerdings bietet die Schwester Schutz.
Irritierend ist die Sequenz, in der er sagt: „weil ich wollte eigentlich wollt bei meiner
Mutter bleiben“. Ist er nicht bei seiner Mutter und Schwester geblieben? Spricht er
grundsätzlich darüber, dass er nicht von Zuhause ausziehen, sondern bei seiner Mutter bleiben wollte? Oder fährt er, nachdem das Telefon klingelt, zurück zu seinem
144
Vater? Auffällig ist, dass trotz der konkreten und lebhaften Erzählung über die ganze Passage hinweg offen bleibt, wer wütet und die Morddrohungen ausspricht. Jürgen sagt nicht mein Vater, sondern immer „er“. So wie die bis zur Morddrohung
reichende Aggression personenlos bleibt, bleibt es auch die Angst. Wer hat Angst?
Jürgen lässt in der Passage keine Angst zu. Es bleibt unklar, ob er Angst hat oder der
Vater – und zwar davor, von der Familie verlassen zu werden. Der Vater droht seiner Familie mit Mord, als sie von ihm weggeht. Die Familie scheint mit Gewalt
aneinander gebunden. Es entsteht das Bild des Vaters, der sich nicht beherrschen
kann und gebrochen ist, von dem zugleich jedoch eine zerstörerische Energie ausgeht. Das Ausmaß der Gewalt wird im Längsschnitt deutlich, wenn Jürgen im ersten
Längsschnittinterview (III) ein Jahr später über diese Zeit erzählt, dass sein Vater
„durchgedreht“ ist, seine Mutter geschlagen hat und mit einem Luftgewehr im Haus
„durch die Gegend“ geschossen hat (III).
Trotz der Bedrohung, die vom Vater ausgeht, schreibt Jürgen ihm keine Verantwortung für sein Verhalten zu. Dies wird in der Textstelle deutlich, in der er darüber
erzählt, dass er sich mit seiner Schwester über die gemeinsamen Erinnerungen unterhalten kann:
J: Hm (räuspert sich) ja wie’s wie’s damals halt war un un un wie’s überhaupt dazu kommen
konnte und so dass es halt so ausgeartet ist (ne) (I: Hm) weil irgendwo sag ich mal hätte man’s
merken müssen ne aber (I: Hm) das war halt - das Ding so so - wollte man nicht da hat man
auf stur geschaltet un un ist mir egal was jetzt passiert ne.
I: Hm.
J: Das das war halt’n großer Fehler war das ne.
I: Naja sie waren ‘n Jugendlicher ne. (II)
Ähnlich der Passage, in der die Eltern ihn nach dem Warum für sein Schuleschwänzen und die Autodiebstähle fragen, sucht Jürgen in dieser Passage nach den
Gründen für das Verhalten des Vaters. Er versucht sich das Verhalten des Vaters
rational zu erklären. Jürgen macht sich Vorwürfe und sucht die Schuld bei sich, weil
er „auf stur geschaltet hat“. Aufschlussreich ist jedoch die Interaktion zwischen der
Interviewerin und Jürgen in der Passage. Beschreibt Jürgen das nicht Bemerken der
Veränderung des Vaters, die Sturheit und Gleichgültigkeit als „großen Fehler“, entlastet ihn die Interviewerin in der Situation mit einem Hinweis auf sein Alter. Im
übertragenen Sinn lässt sich die Interaktion als Jürgens Entlastung gegenüber dem
Vater deuten. Neben dieser Lesart einer Entlastungsstrategie lässt sich die Reaktion
der Interviewerin auch als genervte Antwort auf seine Erklärungsversuche interpretieren, die latent mit Aggression aufgeladen ist. Die sich in diesem Abschnitt bereits
andeutende Verknüpfung von Schuld und Ablösung in der Adoleszenz hat auch in
Jürgens weiterer Erzählung eine zentrale Bedeutung.
145
„dann ging das los dann hat man mit der Zeit seinen eigenen Kopf entwickelt“ –
schuldbeladene Ablösung und Autonomiedefizit
Für den zunehmenden Alkoholkonsum des Vaters macht Jürgen in seiner Erzählung
nicht nur die belastenden Erfahrungen im Krankenhaus verantwortlich, sondern auch
sein eigenes Verhalten:
Das ist weiß nich -- ich bin der Meinung dass ich doch auch Schuld mit dran war ne (weil
weil) (I: Warum?) ich hab damals ziemlich viel Scheiße gebaut wenn ich (?beim Mofa war)
ich hab’s Werkzeug nicht wieder weggepackt dann ging das los dann hat man mit der Zeit seinen eigenen eigenen Kopf entwickelt und mit achtzehn neunzehn und dann „ich komm nicht
mehr nach Hause ich mach dies nicht mehr ich mach das nicht mehr un un seht zu wo ihr
bleibt“ und so und das war halt - - irgendwo das Ding wo ich auch weiß dass ich schuld mit
(bin ne) (II)
Jürgen sucht die Ursachen für die Schwierigkeiten zwischen ihm und seinem Vater bei sich. Mit dem Begriff „Meinung“ verweist er auf eine rationale und distanzierte Einschätzung. Daran anknüpfend lässt sich die Frage aufwerfen, ob er sich
schuldig fühlt oder ihm die Schuld zugeschrieben wird, wobei durch das „dran“
zunächst unklar bleibt, woran Jürgen Schuld hat. Auffällig an der Passage ist, dass
sich das „Scheiße gebaut“ in seiner Erzählung nicht auf delinquentes Verhalten
bezieht, sondern darauf, dass er die väterlichen Regeln nicht einhält. Jürgen beschreibt eine zeitliche Reihenfolge („dann“) der Ereignisse und einen Prozess („mit
der Zeit“). Die Formulierung „seinen eigenen Kopf entwickelt“ verwendet Jürgen
als Ausdruck der Veränderung und beschreibt den Prozess der Ablösung und Autonomiegewinnung. Auffällig ist, dass genau an der Stelle in der Textpassage die sonst
starke Präsenz des Subjekts verschwindet und er nicht von sich, sondern von „man“
spricht. Dies lässt zwei Lesarten zu: Jürgen bezieht sich auf eine Entwicklungsnorm
als Erklärungsmuster oder er kann im Zusammenhang mit dem Ablösungsprozess
nicht von sich als „ich“ sprechen, sondern er spricht über sich. Er bleibt von Zuhause fern und widersetzt sich seinen Eltern. Dies steht in starkem Kontrast zu der
Überangepasstheit, die er zuvor im Interview beschreibt. Irritierend ist die Sequenz
„‚seht zu wo ihr bleibt’“, durch die Jürgen implizit ausdrückt, dass seine Eltern alleine zurecht kommen müssen und er sich nicht mehr um sie kümmert. Damit vertauscht er in seiner Erzählung die Rollen im Ablösungsprozess zwischen Eltern und
Kind. Verweist er damit auf die Hilfsbedürftigkeit der Eltern? Deutlich wird jedoch,
dass er den Ablösungsprozess in der Adoleszenz, der generell von Auflehnung und
Konflikten begleitet ist, als Grund für seine „Schuld“ anführt. Schuldgefühle zu
haben, weil er einen „eigenen Kopf entwickelt“, erschwert die Ablösung. Es entsteht
das Bild, dass Jürgen in der Familie ein Autonomiedefizit erlebt.
Ein halbes Jahr nachdem Jürgen im Alter von 19 Jahren seine Freundin und spätere Verlobte kennen lernt, verlässt er das Elternhaus und sie ziehen zusammen. Er
geht somit eine neue Bindung ein und gründet kurze Zeit später eine eigene Familie.
Jürgen beschreibt, dass sich das Verhältnis zu seinen Eltern daraufhin wieder zum
Guten verändert. Der Vater trinkt zwar noch Alkohol, „aber die Aggressivität war
weg“ (II). Mit seinem Auszug verschwindet in seiner Wahrnehmung die Aggressivi-
146
tät des Vaters. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Aggressivität des Vaters
nicht an den Alkoholkonsum geknüpft ist, sondern an Jürgen. Somit verweist auch
diese Passage – wie schon bei der Sequenz über die Konflikte zwischen Vater und
Sohn – auf die Schuldgefühle Jürgens. Er erlebt sich als schuldig am Alkoholkonsum und an der Aggressivität des Vaters.
Jürgens Umzug ist damit verknüpft, dass ihm der Weg zu seiner Ausbildungsstätte, in der er seit zweieinhalb Jahren eine Lehre als Tischer absolviert, zu weit wird
und er die Lehre abbricht. Die Einflussnahme des Meisters auf seine Entscheidung
beschreibt Jürgen folgendermaßen:
Wie hab ich (reagiert ich hab’m ich hab’m) (I: auf seine Ansprache) ich hab ihm gesagt wie
das aussieht was los ist dass ich das zu Hause nicht mehr aushalte da sagt er das kann er verstehen (I: Hm) (un) un trotzdem sagt er wär das nicht gut und halt das Ding dass ich’s bereuen
(...) hab ich zu ihm gesagt „das mag schon sein aber zur Zeit nicht und solange ich das nicht
bereue werde ich halt gehen“ ne (I: Hm) (un) ja sagt er kann er kann nichts machen nicht mehr
als mir sagen was los ist un und mir Ratschläge geben halt (I: Hm) (ehm räuspert sich) und das
irgendwo hat er das dann halt auch verstanden (ne) (I: Hm) er war auch nicht sauer (dass ich)
(I: Hm) gehe oder so ne (I: Hm) (das) (I: Hm) (ich hab) ihm das erklärt wie’s ist un und irgendwo hat er das dann halt verstanden (I: Hm) (und hat) auch gesagt „okay gut dein Kopf
deine Sache musst du wissen“. (II)
In der Textstelle wird deutlich, dass der Meister Jürgen anspricht und Jürgen ihm
von seinen Problemen erzählt. Er benennt das erste Mal im Interview, dass er es zu
Hause nicht mehr aushält. Beim Meister erfährt er dafür Verständnis. Jürgen schildert in der Textpassage eine andere Form des miteinander Sprechens und Zuhörens
als mit den Eltern. Er beschreibt einen Dialog, und im Gegensatz zu den Gesprächen
mit den Eltern erzählt Jürgen in dieser Sequenz, was er zu dem Meister sagt. Jürgen
fühlt sich „verstanden“ und der Meister gibt ihm Ratschläge. In Jürgens Erzählung
taucht somit eine Person außerhalb der Familie auf, die ihn berät und seine Entscheidung, die in eine andere Richtung geht als der Rat, akzeptiert, ohne „sauer“ zu
sein. Der Meister gesteht Jürgen einen eigenen „Kopf“, also eine eigene Meinung
und eine autonome Entscheidung zu. Spiegelt ihm der Meister vielleicht erst, dass es
Jürgens „Kopf“ ist und erlaubt ihm somit im übertragenen Sinn, sich abzulösen und
sich zu entfernen? Das Ringen um Autonomie vor dem Hintergrund eines Autonomiedefizits in der Familie spiegelt sich auch in Jürgens Wunsch, Auto zu fahren,
wider.
„unvernünftig fahren kann jeder“ – verschobene Ablösung
Motorisierte Fahrzeuge – zunächst Mofas, später Autos – haben eine zentrale Bedeutung in Jürgens biographischer Erzählung. Auf die Frage, was er als Kind gerne
mit seinem Vater gemacht hat, erzählt Jürgen über das gemeinsame Basteln an Autos und Mofas. Jürgen springt in seiner Erzählung von der Kindheit in die Zeit ab
ungefähr 16 Jahren, als er mit dem Vater am Auto gebastelt hat. Die gemeinsame
Tätigkeit mit dem Vater scheint eng mit einer emotionalen Beziehung zu ihm ver-
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knüpft zu sein, denn Jürgen nennt seinen Vater in diesem Zusammenhang „Papa“
(II). Dies weist auf eine kindliche Perspektive hin und drückt eine emotionale Vater-
Sohn-Beziehung aus, die im Kontrast zu der eher rational beschriebenen Passage
über seinen Unfall mit neun Jahren steht. Er erzählt über das gemeinsame Reparieren:
weil ist man ist einfach miteinander klargekommen (ne) (I: Hm) man wusste einfach was los
ist un un un (I: Hm) (wie’s) wie’s halt geht ne und da hab ich sag ich auch auch ‘ne Menge
von ihm gelernt ne (I: Hm) (?und) über Autos und und überhaupt so ne (II)
Jürgen lernt von seinem Vater und diese Situation ist positiv für ihn besetzt. Die
Wiederholung von „einfach“ weist daraufhin, dass Jürgen den Umgang mit seinem
Vater beim gemeinsamen Basteln an Autos als unkompliziert erlebt. Jürgen erlebt
die Situation mit seinem Vater als einschätzbar. Die Passage wirft somit die Frage
auf, ob sich die Beziehung zwischen Jürgen und seinem Vater über Tätigkeit stiftet.
Im weiteren Verlauf des Interviews wird Jürgens Bewunderung für den Vater deutlich, wenn er beschreibt, dass der Vater sich sein Wissen über die Autoreparatur
autodidaktisch über Bücher angeeignet hat. Jürgen ist davon fasziniert, dass der
Vater Motoren zerlegt und funktionstüchtig wieder zusammenbaut und bezeichnet
sich seitdem als ein „kleiner Fanatiker“102 (II) von Autos.
Die Autos stehen jedoch nicht nur für eine Beziehung zum Vater, sie sind auch
Moment der Ablösung. Es gibt das gemeinsame Reparieren mit dem Vater, aber
auch das Fahren mit Autos – alleine. Diese Autonomiebestrebung wird auch im
Interview sichtbar. Verschwindet Jürgen in seiner Erzählung häufig hinter seinem
Vater, der eine zentrale und dominierende Rolle einnimmt, steht Jürgen im Zusammenhang mit dem Autofahren im Zentrum seiner Erzählung und der Vater verschwindet. Als Jürgen sechzehn Jahre alt ist, entwendet er zum ersten Mal das Auto
seines Schwagers. Es folgt eine Serie von 14 Autodiebstählen, aufgrund derer er zu
zwei Wochen Jugendarrest verurteilt wird. Daraufhin geht seine jüngere Schwester
mit ihm zum Psychiater und Jürgen macht eine sechsmonatige Therapie. In den
Interviews wird deutlich, dass es eine intensive Auseinandersetzung mit dem Therapeuten über das Bedürfnis des Autofahrens gibt. Fährt Jürgen zunächst aus Angst
davor, dass ihn jemand „verpfeift“, alleine, beschreibt er später das Autofahren als
Wunsch der Zugehörigkeit zu einer Gleichaltrigengruppe und als „Unabhängigkeit“
(II). Er erzählt:
I: Was war’n dieses dieser dieser Impuls unbedingt fahren zu wollen können Sie das noch
rückblickend noch sagen was der Reiz war?
J: - Was der Reiz war - zu wissen dass man irgendwo so ist wie halt die Älteren.
102 Der Begriff Fanatiker verweist auf eine interessante Spannung: Ist der Begriff Fanatiker
überwiegend negativ besetzt und bezeichnet im engeren Sinn das Besessen-Sein von einer
Idee, Vorstellung oder Überzeugung, verweist er im weiteren Sinn auf eine besonders hohe
emotionale Wertschätzung bestimmter Tätigkeiten, Interessengebiete oder Objekte. Diese
zweite Lesart wird in der Kurzform ‚Fan’ deutlich, die einen begeisterten Anhänger einer
Person, einer Gruppe von Personen oder einer Sache bezeichnet.
148
I: Hm.
J: Das war glaub ich anfangs das Ding und dann einfach nur das Fahrgefühl (die mit) (I: Hm)
die diese es ist genauso wie mit Pferden ich ich weiß nicht wenn ich auf’m Pferd sitze und das
Pferd unter Kontrolle habe dann weiß ich hab da siebenhundert Kilo unt unter Kontrolle was
eigentlich seinen eigenen Kopf hat (I: Hm) (was) eigentlich machen könnte was es will und
das ist das Ding die dieses irgendwo ‘n Machtgefühl (I: Hm) zu haben so (I: Hm) (das) denk
ich mir mal so so haben wir das irgendwann erklärt mit den Pferden (...) (I: Hm) (und) ungefähr so ist es auch mit’m (Autofahren.) (II)
In der Textpassage thematisiert Jürgen die Gefühle („Fahrgefühl“; „Machtgefühl“), die mit dem Autofahren verbunden sind. Auffällig ist, dass er zugleich eine
Erklärung für das Fahrgefühl anführt. Im Unterschied zu den Gesprächen mit den
Eltern, die ihn nach rationalen Gründen fragen, führt er in dieser Sequenz das
Machtgefühl als Erklärungsmuster an. Die Sequenz „haben wir uns das irgendwann
erklärt“ legt nahe, dass Jürgen die Erklärung des Therapeuten übernimmt. Dieser
scheint etwas Irrationales – wie Gefühle – als Erklärung zuzulassen, während die
Eltern diese nicht akzeptieren. Zugleich ist Kontrolle und Macht ein zentrales Familienthema in seiner biographischen Erzählung. Der Vater ringt um Kontrolle und
Jürgen bewundert ihn dafür. Vor dem Hintergrund des Autonomiedefizits in der
Familie wirft die Passage offene Fragen auf: Beschreibt Jürgen in der Passage seinen
Vater, der versucht, den Sohn zu kontrollieren, obwohl er seinen eigenen Kopf hat?
Oder beschreibt Jürgen, dass er beim Autofahren das Gefühl der Macht erlebt und
somit dem ohnmächtigen Gefühl durch den übermächtigen Vater etwas entgegenzusetzen hat? In Jürgens Erzählung ist auffällig, dass es Jürgen nicht um den Rausch
der Geschwindigkeit geht, sondern um Kontrolle und Macht. Er stellt sich als umsichtiger und korrekter Fahrer dar, der sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen hält:
„unvernünftig fahren kann jeder (I: Hm) (nur) vernünftig fahren das kann nicht jeder“ (II). Jürgen ist stolz auf seine Kompetenz, „vernünftig“ fahren zu können. Er
erzählt, wie er im Gegensatz zu seinen „Kumpels“ immer blinkt. In seiner Abgrenzung von den „Kumpels“ und in seinem Entwurf als „vernünftiger“ Fahrer wird
erneut deutlich, dass es Jürgen sich als erwachsen darstellt und nicht als jugendlich
risikobereit.103 Darüber hinaus deutet das Bild des „vernünftigen“ Fahrers auf die
Selbstidealisierung Jürgens hin, die jedoch im Längsschnitt zusammenbricht, wenn
er über Autounfälle unter Alkoholeinfluss spricht, die er zu der Zeit verursacht hat.
Die Passage verweist auf einen kontrollierten und kompetenten Umgang mit den
Fahrzeugen. Zugleich wird an einer anderen Stelle im Interview sichtbar, dass es
nicht nur um Kontrolle geht, sondern auch um Affekte, die er folgendermaßen beschreibt: „Das war so ungefähr wie wie Schmetterlinge im Bauch wenn man was
weiß ich wenn man jemanden trifft den man wahnsinnig lieb hat oder so (I: Hm)
(so.) (sehr leise)“ (II). Jürgen benutzt in dieser Sequenz ein Bild, das affektiv aufge-
103 Auffällig dabei ist, dass er ein gezähmtes Risiko beschreibt: Denn die Autodiebstähle und das
Fahren ohne Führerschein bedeuten ein Risiko, zugleich betont Jürgen die Kontrolle und er
weiß, wo die Grenze ist. Sein Selbstentwurf verweist hier auf eine Parallele zum Alkoholkonsum des Vaters.
149
laden ist. Die „Schmetterlinge im Bauch“ verweisen auf das intensive Gefühl, verliebt zu sein und damit auf Bindung und Nähe, aber auch auf erotische Gefühle. In
Jürgens Erzählung entsteht somit ein Bild des Autofahrens, das Parallelen zur Dynamik der Adoleszenz aufweist – eine Spannung zwischen erwachsener Vernunft
und überwältigenden Gefühlen. Oder versucht er die überwältigenden Gefühle durch
die Betonung der vernünftigen Fahrweise zu verdecken?
Dieser Reiz am Fahren oder das Fahrgefühl, das in Jürgens Entwurf durch die
Therapie „außer Kraft gesetzt“ war, kehrt in seiner Wahrnehmung zurück, als er
über seine Freundin in eine größere Clique eingebunden ist. Erzählt Jürgen im Interview wenig über Beziehungen zu Gleichaltrigen während seiner Kindheit und Jugend, gewinnt die Gleichaltrigengruppe in dieser Zeit zunehmend an Bedeutung. Mit
dieser Gruppe begeht er Straftaten. Dabei steht nicht mehr so sehr das Fahren mit
gestohlenen Autos im Vordergrund, sondern Diebstähle, aus deren Profit Jürgen und
seine Freundin das Haushaltseinkommen aufbessern können. Nach dem Abbruch der
Tischlerlehre leben sie von Transferleistungen, und seine Freundin wird zwei Monate nach dem Einzug in die gemeinsame Wohnung schwanger. Ähnlich dem Autofahren steht auch bei seinem Entwurf, durch die Diebstähle die Familie zu ernähren,
nicht nur das Geld im Vordergrund, sondern in seiner Erzählung bleiben die Affekte
bedeutsam, das Gefühl des „Kribbelns im Bauch“ (II) – der Reiz, nicht erwischt zu
werden.
Anfang 1997, Jürgen ist 21 Jahre alt, wird er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Er schildert, dass die Aktivitäten mit den peers „aus den Bahnen geraten“ (II) sind.
Hier taucht wie beim Alkoholkonsum des Vaters das Bild eines prozesshaften Kontrollverlustes auf. Jürgen absolviert in dieser Zeit den Wehrdienst bei der Bundeswehr, wo es viele Konflikte gibt und er sanktioniert wird. Als seine Verlobte drei
Monate nach der Geburt des Sohnes mit dem zweiten Kind schwanger ist, erlebt er
die Zeit als „ruhiger“ (II) und die Straftaten mit den „Kumpels“ nehmen ab. Kurz
vor Beendigung des Wehrdienstes wird er jedoch mit dem Bruder seiner Verlobten
bei einem Autodiebstahl erwischt und festgenommen. Die Verhaftung bezeichnet er
rückblickend als „Anfang vom Ende“ (II). In der Situation in Haft erzählt er:
weil man hat irgendwo sein Leben sag ich mal verspielt (I: Hm) (das) ist - ja es heißt immer
Kinderzeit Jugendzeit dann kommt die Lehrzeit dann dann kommt das erwachsen werden un
un dann kommt die Familie und das ist alles falsch rum gelaufen das war komplett falsch war
das alles (bei mir) (I: Hm) [...] die bei mir ja Kinderzeit Jugendzeit normal Lehrzeit und dann
war halt das erwachsen werden dann auf einmal da (I: Hm) (nicht) das erwachsen werden sondern das erwachsen sein (I: Hm) (ne) dieses -- dass man sich wünscht halt erwachsen zu sein
was was aber nicht so ist (II)
„Sein Leben verspielt“ verweist auf einen hohen Einsatz und zugleich auf eine
drastische Endgültigkeit. Jürgen legt eine äußere Vorstellung „es heißt immer“ an,
vor deren Hintergrund er seine eigene Entwicklung rückblickend als „komplett
falsch“ bewertet. Unklar bleibt, worauf sich das „normal“ bezieht: auf die Kinderund Jugendzeit, auf die Lehrzeit oder auf den gesamten Zeitraum. Entscheidend ist
jedoch, dass Jürgen selbst um das erwachsen Werden oder Sein ringt. In seiner
Wahrnehmung gibt es keinen Prozess, der ihm ein erwachsen werden ermöglicht. Er
150
stellt eine Diskrepanz zwischen Wunsch („erwachsen zu sein“) und Realität („was
aber nicht so ist“) fest. Jürgen erlebt sich als noch nicht erwachsen. Es lässt sich die
Frage aufwerfen, warum Jürgen diesen Prozess thematisiert und vor allem so konflikthaft thematisiert. Es scheint keinen Übergangsraum in der Adoleszenz zu geben.
Darüber hinaus wird in der Textpassage Jürgens reflektierte Sprache deutlich, die
ihn sehr überlegt und erwachsen erscheinen lässt und zugleich deutet sich eine regressiven Dynamik an, die ihren Sinn vor dem Hintergrund der Inhaftierung erfährt.
„dass ich auf eigenen Beinen stehen könnte auf einmal das glaub ich nicht“ –
Autonomiezuwachs in Geschlossenheit
Jürgen wird im Herbst 1997, kurz vor der Geburt seines zweiten Sohnes, inhaftiert.
Bald nach der Inhaftierung trennt sich seine Verlobte von ihm. Im Gegensatz zu
dieser Erfahrung betont Jürgen den starken Zusammenhalt in seiner Herkunftsfamilie. Seine Eltern besuchen ihn seit Beginn seiner Inhaftierung regelmäßig und nehmen dafür lange Fahrstrecken in Kauf. Am Ende des biographischen Interviews
antwortet Jürgen auf die Frage, was er ergänzend noch Wichtiges erzählen möchte:
J: Ja halt die das Ding mit meinen Eltern dass die halt so zu mir stehen ne (I: Hm) (und) auch
meine Geschwister jetzt in der Zeit in der gesamten Zeit (wo ich) (I: Jaa) jetzt im Knast bin ne.
I: Hm.
J: Der Zusammenhalt das man da wirklich erfährt dass da jemand da ist der zu einem hält. (II)
In der Situation in Haft betont Jürgen erneut den starken Zusammenhalt der Familie, das Familien-Wir, auf das er sich verlassen kann. Die Eltern wenden sich trotz
der Inhaftierung nicht ab. Er beschreibt hier eine ähnliche Erfahrung wie die in der
Kindheit, als seine Eltern sich trotz der Trennung nach seinem Unfall um ihn kümmern. Vor dem Hintergrund des bereits beschriebenen Autonomiedefizits zeigt sich
hier ein Muster des Familien-Wirs: Es verlangt Anpassung, trägt jedoch zugleich
und besitzt die Stärke Ausbrecher wieder herreinzuholen104. Somit überlagern sich
Anpassung, Unterstützung und Abhängigkeit.
Widersetzt sich Jürgen im Gefängnis empört den Beamten und beklagt, dass sie
sich zu wenig um ihn kümmern, wie bereits zu Beginn der Fallinterpretation ausgeführt, wendet er sich in der Situation in Haft seinen Eltern wieder zu. Er plant, nach
seiner Entlassung zurück zu seinen Eltern zu ziehen und gemeinsam mit dem Vater
am Haus zu bauen. Im Moment des familiären Zusammenhalts, den Jürgen erlebt,
spielt erneut das Haus eine bedeutende Rolle. Jürgen erzählt über viele konkrete
Pläne, die der „Vater und ich zusammen“ (II) für Haus und Garten haben. Hier wird
ein regressives Moment in Haft deutlich: Jürgen beschreibt eine rückwärts gewandte
Perspektive für die Zukunft, mit der er an eine idealisierte Kindheit anknüpft. Das
104 Auch der Vater wird nach der Trennung zurück in das „Familien-Wir“ integriert.
151
Moment, sich zurück in eine kindliche Abhängigkeit zu begeben, zeigt sich auch in
der folgenden Textpassage:
Ich hab mein eignen Kopf jetzt un un das müsst ihr jetzt mal so langsam merken und ich werd
älter erwachsen“ und so un un das das war halt nicht so ne (I: Hm) (das merk) ich jetzt weil ich
ich halt mich nicht mal jetzt für für erwachsen ne ich hab zwar meinen eignen Kopf ich hab
auch ‘ne Menge dazu gelernt aber dass ich jetzt sag dass ich auf eigenen Beinen stehen könnte
auf einmal das das glaub ich nicht (ne) (I: Hm). (II)
Jürgen erzählt zu Beginn der Passage lebhaft und appelliert an seine Eltern, ihn in
seiner Autonomie und seinem Erwachsensein anzuerkennen. Offen bleibt zunächst,
ob sich das „das war halt nicht so“ darauf bezieht, dass die Eltern ihn nicht als erwachsen anerkennen oder ob er nicht erwachsen war. Im Verlauf der Passage wird
deutlich, dass Jürgen sich rückblickend aus der Situation in Haft als nicht erwachsen
erlebt und das Nicht-Erwachsensein in sein Selbstbild integriert.
„Das lief allerdings nicht ja so wie ich mir das vorgestellt hatte sag ich mal“ –
blockierte Ablösungsprozesse
Bei der Betrachtung des Ablösungs- und Autonomiekonflikts lässt sich im Längsschnitt eine langsame Veränderung erkennen. Als Jürgen mit 24 Jahren auf Bewährung entlassen wird, holen ihn seine Eltern von der Haftanstalt ab und es „lief alles
Bestens“ (III). Im ersten Längsschnittinterview (III), das während seiner Reinhaftierung stattfindet, beschreibt er die Entlassung rückblickend als:
erlösend (I: Hm) einfach dieses ich bin wieder mein eigener Herr (I: Hm) ich kann jetz letzten
Endes tun und lassen was ich will (I: Hm) ne und nich nich mehr nach nach jedem oder nach
allem und jedem was man haben oder machen will fragen oder so was sich dann allerdings anders raus gestellt hat durch mein Vater. (III)
Jürgen greift bei seiner Beschreibung auf ein ungewöhnliches Adjektiv zurück
(„erlösend“). Der Begriff Erlösung wird fast ausschließlich in religiösen Zusammenhängen benutzt. Historisch beschreibt die Erlösung das Freikaufen eines Sklaven, also das Kaufen und anschließende Freilassen. Erlösen bedeutet somit das losmachen von einer unfreiwilligen Bindung. Jürgen betont mit diesem Adjektiv das
Moment des Autonomiegewinns im Zusammenhang mit der Entlassung. Die Betonung der Autonomie spitzt sich auch in dem Bild zu, wieder sein „eigener Herr“ zu
sein. Der Autonomiegewinn steigert sich im Verlauf der Passage zu einem gesteigerten Autonomieideal: „tun und lassen, was ich will“. Am Ende der Sequenz erzählt
Jürgen dann jedoch, dass er seine Vorstellungen von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung nicht umsetzen konnte.
Er deutet in dieser Passage bereits Konflikte an, die es zwischen ihm und seinem
Vater gibt, nachdem er wieder bei seinen Eltern eingezogen ist: „Das lief allerdings
nich ja so wie ich mir das vorgestellt hatte sag ich mal“ (III). Es gab mehr „Verbote
als alles andere“ (III): Jürgen durfte keine Freunde mit nach Hause bringen und
seine neue Freundin durfte nicht bei ihm übernachten. Trotz seines Alters schreibt
ihm sein Vater in der ersten Zeit vor, wann er zu Hause sein soll und wann er weg-
152
gehen darf. Um ihn zu kontrollieren, hat ihm sein Vater zunächst keinen Hausschlüssel gegeben. Jürgen erzählt:
dann wollt er mir nen Schlüssel geben damit ich denn rein und raus konnte wenn ich wollte
beziehungsweise rein konnte wenn ich wollte und und wenn ich weg war oder was damit ich
die dann nich aus’m Bett klingeln musste so war’s die erste Zeit und das passte mir gar nich
und eh dann ging’s soweit wenn ich eh wenn’s ihm zu spät wurde oder was weiß ich in der
Nacht nich nach Hause komme und nich Bescheid sagen dann war der Schlüssel wieder weg
so und das lass ich mir nich bieten (I: Hm) also bei allem bei allem Respekt nich (I: Hm) ne
(I: Hm) das warn eben so die Dinge die mir absolut nich gepasst haben. (III)
Jürgen erhält die erste Zeit nach der Entlassung keinen eigenen Hausschlüssel von
seinem Vater. Das Verhalten des Vaters weckt damit Assoziationen an das Gefängnis: Im Gefängnis kann Jürgen nicht gehen, wann er will, zu Hause kann er scheinbar nicht kommen, wann er will. Im Verlauf der Sequenz wird der Schlüssel dann
zum Erziehungsmittel. Jürgen erhält einen Schlüssel, der ihm jedoch wieder entzogen wird, wenn er sich nicht an die väterlichen Regeln hält. Die Situation nach der
Entlassung weist in Jürgens Erzählung somit eine Parallele zu der rigiden Struktur
des Gefängnisses auf und steht im Kontrast zu seinen Vorstellungen von Autonomie
nach der Entlassung. Es lässt sich in diesem ersten Längsschnittinterview ein Moment der Transformation erkennen: Jürgen thematisiert die Regeln des Vaters als
Autonomie einschränkend und inakzeptabel und setzt sich dagegen zur Wehr. Er
kann hier an die Erfahrung in Haft anknüpfen, als er sich erfolgreich gegen die
mächtigen Strukturen der Institution zur Wehr gesetzt hat, indem er sich durch ein
Gespräch mit der externen Suchtberatung einer Alkoholtherapie widersetzen konnte.
Jürgen beschreibt seinen Vater als zurückgezogen, der in seiner eigenen Welt lebt
ohne viele Außenkontakte „und da meint er dann die Herrschaft zu haben zu haben
(I: Hm) auch von wegen zu Hause „so lange Du Deine Füße unter meinem Tisch
hast hast Du zu tun (I: Hm) was ich Dir sage“ so nach dem Motto“ (III). In der Passage werden die autoritären Verhältnisse im Elternhaus deutlich sichtbar: Der Vater
verlangt Anpassung an seine Regeln. Die „Herrschaft“ des Vaters läuft Jürgens
Vorstellung zuwider, nach der Entlassung, wieder sein „eigener Herr“ zu sein. Dafür
scheint es Zuhause keinen Raum zu geben. Es gibt virulente Konflikte mit dem
Vater, die Jürgen im ersten Längsschnittinterview explizit benennt, ohne das Verhalten des Vaters zu rechtfertigen. Allerdings zeigt sich in der Passage deutlich, dass
Jürgens Identifikation mit dem mächtigen Vater ungebrochen ist: Der Vater hat die
„Herrschaft“, Jürgen möchte sein eigener „Herr“ sein. Dies wirft die Frage auf, wer
der Herr im Haus ist.
Im Gegensatz zum autoritär-kontrollierenden Vater beschreibt Jürgen seine Mutter als fürsorglich-kontrollierend. Sie akzeptiert, wenn er bei seiner Freundin übernachtet, solange sie weiß, wo er ist. Seine Schwestern bieten ihm eine Anlaufstelle,
wenn er dem Streit zu Hause ausweichen will:
im Grunde genommen wollt ich damit bewirken dass sie irgendwo sehn dass das dass ich irgendwo auch mein eigenes Leben hab (I: Hm) dass ich zu Hause wohne und so weiter alles gut
und schön und und was weiß ich Kostgeld und so weiter alles überhaupt kein Problem das das
wusst ich vorher (I: Hm) nur eben die Behandlung ne (I: Hm) dieses dann und dann bist Du zu
Hause und wir wolln wissen wo Du hingehst (I: Hm) also weiß nich (I: Hm) kam ich so nich
153
mit klar (I: Hm hm) und dann mit der eignen Wohnung das das im Grunde genommen war’s
überstürzt weil phh ja wie soll ich das sagen dieses ja meine Eltern hatten immer nen Auge auf
mich (I: Hm) und eh das war von Vorteil muss ich mal sagen (I: Hm) ja aber eben dann teilweise auch zu zu schlimm zu extrem für mich (I: Hm) zu heftig (III)
In der Interviewsequenz wird Jürgens Ringen um Unabhängigkeit deutlich. Er
will seinen Eltern zeigen, dass er sein „eigenes Leben“ hat, obwohl er zu Hause
wohnt. Während er den Bedingungen des Zusammenlebens („Kostgeld“) zustimmt,
fällt es ihm schwer die „Behandlung“ zu akzeptieren. Mit den Vorschriften und der
Kontrolle durch die Eltern kommt er nicht zurecht. Auffällig ist, dass er nicht über
seinen Auszug spricht, sondern „die eigne Wohnung“ in seiner Erzählung genauso
überstürzt auftaucht, wie er sie rückblickend als „überstürzt“ bewertet. Dieser Bruch
in der Textpassage zwischen dem „zu Hause“ wohnen und der „eigenen Wohnung“
spiegelt wieder, dass es scheinbar keinen Raum für einen Ablösungsprozess gibt.
Jürgen beschreibt die Ambivalenz der elterlichen Kontrolle: Sie haben „nen Auge“
auf ihn, dass heißt, die Eltern wachen über ihn, sie kontrollieren ihn, aber passen
auch auf ihn auf. Er erlebt die elterliche Kontrolle als „Vorteil“, aber zugleich als
„zu extrem“. Es scheint somit keinen Freiraum für einen Ablösungsprozess und
Autonomiezuwachs in einer haltenden und kontrollierenden Struktur zu geben. Jürgen schlägt zwischen den Extremen hin- und her. Erlebt er die Kontrolle im Elternhaus ohne Freiraum, beschreibt er seinen Auszug folgendermaßen: „da wo ich wo
ich ausgezogen bin das is das Ganze aus der Bahn geraten (I: Hm) muss ich mal
sagen (I: Hm) ja“ (III). Jürgen beschreibt mit dem Bild, „das Ganze“ sei „aus der
Bahn geraten“, die fehlende Kontrolle nach seinem Auszug. Hier zeigt sich eine
Strukturparallele zu dem Erklärungsmuster für seine Delinquenz nach seinem ersten
Auszug, wie er sie bereits bei seiner ersten Inhaftierung beschrieben hat. In seiner
Erzählung gibt es entweder die rigide Kontrolle des Vaters ohne Freiräume oder
Freiräume ohne Kontrolle, wenn er auszieht. Jürgen beschreibt die Kontrolle des
Vaters ambivalent: Er benötigt sie, zugleich ist sie „zu extrem“. Jürgen erlebt sich
als abhängig und den Vater als mächtig. Jürgens Ablösungsprozess ist in seiner
Erzählung somit stark mit abhängiger Kontrolle verwoben: Es gibt für ihn entweder
Autonomie oder abhängige Kontrolle und kein Dazwischen.
„Ja ich sag mal das is ne Sucht dieses diese Unabhängigkeit“ – abhängige
Autonomie
Jürgen zieht acht Monate nach seiner Entlassung, kurz nach dem er seine neuen
Freundin kennen lernt, mit ihr zusammen. Über den Auszug aus dem Elternhaus
erzählt er, dass seine Eltern die Lebensgemeinschaft mit der Freundin „akzeptiert“
haben, aber:
J: Ja im Prinzip schon sie ham nur gesagt dass das Dein Untergang ist also ich hab mir nen
Handy geholt mit Vertrag und den Vertrag hat meine Freundin dann unterschrieben und da hat
mein Vater gesagt „das is Dein Untergang“
I: Untergang
154
J: Ja (I: Aha) das bringt Dich wieder zurück da hat er schon gesagt dass ich wieder rein geh
(I: Aha) und so leid es mir tut aber ich muss ihm Recht geben
I: Wie kommt er darauf was meinte er damit genau?
J: Dass ich zu übermütig werde (I: Ha) ich hab ich hatte mein mein mein Handy ich hatte mein
Leben und und ich hatte meinen Freiraum (I: Hm) und das führte dann auch irgendwo dazu
dass ich mir dann mein Auto gekauft hab das hätt ich mir nie gekauft wenn ich zu Hause gewohnt hätte (III)
In der Passage spricht er zunächst über die Reaktion seiner Eltern und meint eigentlich die Reaktion seines Vaters. Jürgen spricht jedoch nicht nur über die Reaktion des Vaters, sondern spricht aus seiner Perspektive über sich selbst („das ist Dein
Untergang“). Hieran wird erneut die Identifizierung mit dem Vater sichtbar. Die
Drohung des Vaters scheint wie eine self-fullfilling prophecy zu wirken – Jürgen
muss ihm rückblickend „Recht geben“. Die Eltern prophezeien ihm, dass er untergeht, wenn er nicht mehr zu Hause wohnt. Diese Prophezeiung übernimmt er in sein
Selbstbild und beschreibt sich, als wenn er mit den neu gewonnenen Freiräumen
nicht umgehen kann. Mit dem Adjektiv „übermütig“ wird von der Wortbedeutung
her das vermessene Vertrauen eines Menschen in seine eigenen Kräfte beschrieben.
Es weckt darüber hinaus Assoziationen an ermahnende Sprüche von Eltern, wie
beispielsweise werd mal nicht übermütig oder auch Sprichwörter wie Übermut tut
selten gut. Gemein ist beiden Assoziationen, dass sie eine Aufforderung darstellen,
sich in Grenzen zu halten, nicht über das Ziel hinaus zu schießen, um sich oder anderen nicht zu schaden. Die Belehrung, die in beiden Assoziationen steckt, verweist
darüber hinaus auf ein Machtgefälle: Der Adressat der Botschaft wird klein gehalten.
Darüber hinaus wird sichtbar, dass auch im Längsschnitt Autofahren und Autonomie eng miteinander verwoben sind. Das Auto lässt sich in der Textpassage im
übertragenen Sinn auch als Ausdruck von Autonomie deuten: Wenn er sein Leben
lebt, hat er Freiraum (und ein Auto), wenn er zu Hause wohnen geblieben wäre,
hätte er kein Auto gekauft (keinen Freiraum). Er erzählt, dass das Gefühl unbedingt
fahren zu wollen, nach seiner Entlassung zurückgekehrt ist. Als Dauerkonflikt zeigt
sich dabei über den gesamten Längsschnitt, was Jürgen bezogen auf das Autofahren
folgendermaßen beschreibt: „Ja ich sag mal das is ne Sucht (I: Aha) dieses diese
Unabhängigkeit“ (III). In dieser Passage wird deutlich, wie unlösbar verwoben Abhängigkeit (Sucht) und Autonomie (Unabhängigkeit) miteinander sind. Jürgen ist im
übertragenen Sinn süchtig nach Autonomie, was an sich ein Widerspruch ist, den er
jedoch nicht als Widerspruch thematisiert.105 Jürgen fährt mit dem neu erworbenen
Auto, ohne einen Führerschein zu besitzen, und verursacht einen Unfall unter Alkoholeinfluss. Gut einen Monat nach seinem Auszug aus dem Elternhaus ist er wieder
reinhaftiert.
105 In der Rhetorik würde diese Sequenz als Oxymoron bezeichnet, das die Zusammenstellung
zweier sich widersprechender Begriffe in einem Kompositum oder in einer rhetorischen Figur
beschreibt.
155
Trotz Jürgens Festhalten an dem Deutungsmuster, dass immer wenn er das Elternhaus verlässt, sein „Untergang“ beginnt, lässt sich ein langsamer Ablösungsprozess von den Eltern wahrnehmen, der auch nach seiner Reinhaftierung sichtbar ist.
Jürgen spricht im ersten Längsschnittinterview (III) deutlich weniger über seine
Eltern, und sie haben ihn zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht im Gefängnis
besucht. Außerdem plant er nach der Entlassung, nicht wieder zu ihnen zu ziehen.
Mit der zunehmenden Ablösung von den Eltern gewinnt eine andere Person eine
zentrale Bedeutung für ihn: Uta, die er bereits aus der Zeit kennt, als er an der
Kreisvolkshochschule seinen Schulabschluss nachgeholt hat. Jürgen hat sie 1995 das
letzte Mal gesehen und 1999 während der ersten Inhaftierung per Brief Kontakt zu
ihr aufgenommen. Sie haben sich regelmäßig geschrieben und sich während eines
Ausgangs getroffen. Nach seiner Entlassung wäre Jürgen gerne eine Beziehung mit
ihr eingegangen, aber Uta braucht aufgrund einer Trennung noch Zeit. Jürgen beschreibt sich als zu ungeduldig, um auf sie zu warten, sondern beginnt erst eine
Beziehung mit einer acht Jahre jüngeren Frau und zieht dann mit einer neuen Freundin zusammen. Während dieser Partnerschaft entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihm und Uta. Sie ist auch der Grund für die Trennung von seiner Freundin.
Seit seiner Inhaftierung haben sie regelmäßigen Kontakt über Briefe. Sie planen,
nach seiner Entlassung zusammen zu ziehen und Jürgen betont im Interview, dass er
„nich im geringsten irgend welche Zweifel“ (III) daran hat, dass Uta auf ihn wartet.
Hinter der Sicherheit, dass sie bei ihm bleibt, die er mehrmals betont, verbirgt sich
die Abwehr von angstvollen und schmerzhaften Erfahrungen der Trennung, wie er
sie während der ersten Inhaftierung mit seiner damaligen Verlobten erlebt hat.
Zugleich beschreibt er die Erfahrung, dass eine Person außerhalb der Familie zu ihm
hält.
Im Längsschnitt wird in den Interviews jedoch nicht nur eine Bindung an Uta erkennbar, auch die Erzählung über das Gefängnis verändert sich. Jürgen erlebt sich
als eingebunden in die Gefangenengruppe. Die Stimmung unter den Inhaftierten
bezeichnet er als „hervorragend“ (III). Er beschreibt eine Situation, in der die Inhaftierten alle miteinander lachen, und sagt: „einfach nur glücklich (I: Hm) ich weiß
nich hab ich so noch nie erlebt so“ (II). Die Sequenz erinnert an Jürgens Beschreibungen seiner Kindheit und verweist somit auf die Idealisierung des Gefängnisses
während seiner Reinhaftierung. Hat er bei der Erstinhaftierung gedacht, „man wird
wahnsinnig“, genießt er nun die Ruhe im Gefängnis, um den Stress von draußen zu
verarbeiten. Er rebelliert nicht wütend gegen die institutionellen Vertreter. Dieser
Anpassungsprozess unter den Bedingungen beschränkter Autonomie setzt sich auch
im zweiten Längsschnittinterview (IV) ein Jahr später fort.
„man merkt das die sich um einen kümmern hier“ – Gefängnis als Bindungsangebot
Jürgen ist in zwei Verhandlungen zu vier Jahren Strafhaft verurteilt und in die Haftanstalt verlegt worden, in der er auch während seiner Erststrafe inhaftiert war. Er
erlebt seine Ankunft in dieser Haftanstalt als positiven „Empfang“ und fühlt sich
156
von den Inhaftierten „aufgenommen“ (IV). Er teilt sich seinen Haftraum mit dem
selben Inhaftierten wie damals und sagt, sie haben „zusammengewohnt“ (IV). Das
Verb wohnen verweist darauf, dass das Gefängnis für Jürgen eine Art Zuhause wird.
Jürgen erlebt sich als mehr und mehr eingebunden in die Inhaftiertengruppe und
beschreibt die Reinhaftierung als „wesentlich positiver als das letzte Mal“ (IV).
Aber nicht nur die Eingebundenheit in die Gefangenengemeinschaft ist auffällig in
seiner Erzählung, sondern er passt sich im Längsschnitt auch zunehmend an die
Institution an. Jürgen beschreibt sich als Inhaftierter, der von den Beamten als „vernünftig“ wahrgenommen wird. Er schildert die kleinen Handlungsspielräume der
Beamten gegenüber den Inhaftierten, zum Beispiel, wenn sie die Inhaftierten auf
eine andere Station gehen lassen und sie sich dort mit Mitgefangenen unterhalten
oder Kleidung und CDs tauschen, was gegen die institutionellen Regeln verstößt.
Auffällig ist, dass Jürgen die Regelverstöße der Beamten als „ungeschriebene Gesetze“ bezeichnet und nicht die inoffiziellen Verhaltensnormen unter den Gefangenen, wie es die anderen Inhaftierten tun. Dies lässt sich als Identifizierung mit den
Beamten lesen, wie sie auch während seiner ersten Inhaftierung deutlich geworden
ist. Er nimmt die einzelnen Beamten sehr differenziert wahr und kritisiert einen
Beamten, der die vorhandenen Spielräume nicht zulässt. Hier wird in Jürgens Erzählung eine Strukturparallele sichtbar zwischen diesem Beamten und dem rigiden
Vater, der Jürgen nach seiner Entlassung ebenfalls keine Spielräume lässt. Jürgen
beobachtet die feinen Freiräume, die es offiziell nicht gibt und beschreibt sich im
Gegensatz zu den meisten anderen Gefangenen als angepasst an die institutionellen
Regeln.
Eine besondere Bezugsperson im Gefängnis stellt der Meister der Anstaltstischlerei
dar, in der Jürgen eine Ausbildung begonnen hat. Jürgen erzählt, dass der Meister ihn
abends noch einmal aus dem Haftraum abholen kann, wenn es besondere Arbeiten zu
erledigen gibt. Damit ermöglicht der Meister ihm zusätzliche Freiräume und Jürgen
betont den Vertrauensbeweis. Der Meister setzt sich auch für ihn ein als es um Jürgens
Aufnahme in die Ausbildung geht und der Berufsschullehrer ihn mit seinen schlechten
Schulleistungen während der Ausbildung vor der Inhaftierung konfrontiert. Der Lehrer
zweifelt an Jürgens Absicht, die Tischlerlehre zu absolvieren, weil er dem Zeugnis
nach zu urteilen: „nicht mal bis drei zählen“ (IV) kann. Jürgen ist „geschockt“, „sauer“
und schildert den Verlauf der Situation folgendermaßen:
J: und dann erzählt er mir sowas und dann stand ich da ich sag „hören Sie zu zwei Möglichkeiten entweder oder Sie sagen ne ist nicht oder Sie probieren’s mit mir“
I: hmhm
J: ich sag „mehr haben wir hier nicht“
I: hmhm
J: sagt er un un da fing er an „er würde mich so einschätzen dass ich den Unterricht nur stören
würde un un ja eigentlich auf das ganze keinen Bock hätte dass ich das halt nur machen würde
um irgendwelche Vorteile hier für die meine Haft zu kriegen“ da hab ich ihm gesagt „gut“ ich
sag „dann lassen wir das“ (IV)
157
In der Interviewpassage wird einerseits sichtbar, dass es für Jürgen in der Konfliktsituation nur zwei Möglichkeiten gibt: „entweder“ – „oder“ und sich somit im
Interview wenig Konfliktfähigkeit zeigt. Er kämpft nicht für seinen Wunsch, an der
Ausbildung teilzunehmen. Andererseits verweist die Passage noch auf eine zweite
Lesart: In dem Jürgen sagt, „dann lassen wir das“, kann er der enttäuschenden Erfahrung, abgelehnt zu werden, etwas im Vorfeld entgegen setzen. Jürgen entscheidet
selbst, bevor es andere tun. Er kehrt somit in seiner Erzählung das Lehrer-Schüler-
Verhältnis um. Darüber hinaus testet er das Zulassen einer Beziehung: Der Lehrer
verweigert sie ihm zunächst, der Meister lässt sich darauf ein, denn er ergreift Partei
für ihn und sorgt dafür, dass Jürgen mit der Ausbildung beginnen kann.
Der Meister wird zur zentralen Person in Jürgens Erzählung. Jürgen fühlt sich von
ihm angenommen, er konfrontiert Jürgen in konflikthaften Situationen und fordert
ihn auf, sich zu entscheiden. Jürgen fühlt sich verstanden und unterstützt und sagt:
„ja man merkt dass die dass die sich um einen kümmern hier“ (IV) Die Sequenz
verweist auf eine Veränderung im Längsschnitt: Beschreibt Jürgen während der
ersten Haft, dass sich die Beamten nicht um ihn kümmern, sich sein Vater jedoch
immer um ihn gekümmert hat, verkehrt sich dieses Bild ins Gegenteil. Während der
Reinhaftierung erlebt Jürgen enge Grenzen, aber mit Freiräumen, er nimmt Aushandlungsprozesse wahr und er wird konfrontiert. Vor dem Hintergrund seiner Erzählung über die Beamten erscheint der Vater nach der ersten Entlassung rigider als
das Gefängnis. Im Längsschnitt zeigt sich so, dass das Gefängnis Jürgen einen Raum
eröffnet, den er als Autonomiegewinn unter den Bedingungen von Geschlossenheit
und rigiden Strukturen und als Bindungsangebot – nicht zuletzt durch die Bindung
an den Meister – erlebt. Diese Bindung an die Institution wird in seiner Erzählung
ebenfalls deutlich, wenn Jürgen rückblickend erzählt, dass er während der ersten
Inhaftierung kein „Verständnis“ für die Logik der Institution Gefängnis aufgebracht
hat:
He hm (atmet aus) ich sag mal für für dieses das was den Knast eigentlich ausmacht die dies
diese Vorschriften dieses das man im Grunde genommen absolut keinen freien Willen mehr
hat (IV)
Jürgen beschreibt, dass er es ihm schwergefallen ist, die Vorschriften und Autonomiebeschränkungen („keinen freien Willen“) der geschlossenen Institution zu
akzeptieren. Zwar ist die Situation im Gefängnis während seiner Reinhaftierung
nicht grundsätzlich anders, er erlebt jedoch ein offenes und zugleich enges Verhältnis vor allem zu dem Meister in der Tischlerei, aber auch zu den Beamten, so dass er
zusammenfasst: „alles irgendwo freier“ (IV). Die Freiheit in der geschlossenen Institution, die Jürgen beschreibt, spitzt sich zu, indem Jürgen erzählt:
man hat seine Freiräume man kann in gewissem Sinne sagen gut ich hab meine freien Willen
(hier) (I: Hm.) ich kann letzten Ende tun und lassen was ich will (I: Hm.) (ich) hab mich halt
nur an gewisse Zeiten zu halten (IV)
Die Passage macht Jürgens überzogenes Autonomieideal – in der geschlossenen
Institution „tun und lassen“ zu können, was er will – sichtbar. Er passt sich scheinbar problemlos an die Institution und ihre Regeln an. Dies wirft die Frage auf, ob
Jürgen im Vergleich zu den Erfahrungen im rigiden Elternhaus das Gefängnis als
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Autonomiezuwachs erlebt oder ob ihn die Geschlossenheit der Institution vom Autonomieprozess entlastet. In einer anderen Passage wird jedoch deutlich, dass Jürgen
im Gefängnis einen Raum erlebt, um an sich zu arbeiten. Er nimmt während dieser
Inhaftierung sechs Monate lang an einem Konfliktlösungstraining106 teil, das von
zwei weiblichen Bediensteten der Anstalt angeboten wird. Das besondere an der
Situation ist, dass das Training zum ersten Mal durchgeführt wird und Jürgen somit
an der Testphase beteiligt ist. Sein Betreuer und der Abteilungsleiter haben ihn gefragt, ob sie ihn vorschlagen können. Er erlebt sich somit stolz als jemand, der ausgewählt wird. Damit geht einher, dass die Teilnahme an dem Training oder der Abbruch des Trainings keinerlei vollzugliche Konsequenzen für ihn nach sich zieht –
weder Belohnungen noch Sanktionen. Er erzählt über das Konfliktlösungstraining:
J: also ruhiges ruhiges Klima sag ich mal jeder wir haben uns ausreden lassen gegenseitig wir
haben es gab gew eh gewisse Regeln an (die) (I: Jaa) man sich zu halten hatte (ne) (I: jaa) und
das das war eben halt den a den andern ausreden lassen dann nicht keine Beleidigungen
(I: Hm) (keine) Beleidigungen
I: hmhm.
J: keine persönlichen Angriffe (I: Hmhm) (ob) jetzt verbal oder körperlich (wie auch) (I: hm)
immer und und ich sag mal es hat sich je jeder drangehalten und wir haben ‘ne Menge Spaß
damit gehabt
I: hmhm
J: also ‘ne Menge (I: hmhm.) (‘ne Menge) Spaß. (IV)
Jürgen erlebt einen Raum, in dem offen geredet werden kann und der durch klare
Regeln, an die sich die Inhaftierten halten, geschützt ist. Dieser Schutzraum ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Inhaftierten nicht beleidigen und angreifen, sich
somit gegenseitig kein Leid zufügen. Die abstrakte und differenzierte Sprache Jürgens, mit der er das Training beschreibt, macht deutlich, dass er die Reflexion aus
der Maßnahme übernimmt – hier findet sich erneut das Moment der Anpassung.
Auffällig ist der Spaß, den Jürgen benennt und der auf die lustvollen Momente des
Trainings verweist. Die Gefangenen müssen sich ein Problem aus ihrem Leben überlegen, das sie mit anderen Teilnehmern aus dem Training in einem Rollenspiel der
Gruppe vorspielen. Dies wird mit einer Videokamera aufgenommen und anschlie-
ßend gemeinsam in der Gruppe besprochen. Jürgen erzählt, dass dies der „lustigste
Teil“ war. Die auffallend häufige Betonung der „lustigen“ und „spaßigen“ Aspekte
des Trainings, die sich beispielsweise darin zeigen, dass ein Teilnehmer „dann’n
Mädchen“ spielen musste, verweisen dabei auch auf schamhafte Erfahrungen.
Zugleich verweist der „Spaß“ auf eine über die Scham hinausgehende lustvolle
Seite. Auch Jürgen überlegt sich ein Problem, das er in einem Rollenspiel nachstellt:
106 Eine ausführliche Interpretation der Passagen über das Konfliktlösungstraining findet sich
auch bei Bereswill, Döll, Koesling und Neuber 2007.
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J: das Problem mit meinem Daddy
I: Hm.
J: ne das wir kamen damals kamen wir so gut miteinander nicht klar und das hab ich wollt ich
halt wissen ne
I: Jaa.
J: ob das jetzt anders geht oder ob ich da wirklich so bleiben muss wie ich will wie ich (bin)
(I: Jaa.) ne. (IV)
Jürgen nutzt die Möglichkeit für sich, an einem für ihn zentralen Konflikt zu arbeiten und erprobt Veränderungsmöglichkeiten. Auffällig ist das Ende der Passage,
das verworren ist. Jürgen kreist um die Möglichkeit der Veränderung der Beziehung
zu seinem Vater– „ob das jetzt anders geht“ – wobei er im weiteren Verlauf der
Sequenz darum ringt, ob die veränderte Beziehung zu seinem Vater nur möglich ist,
wenn er sich nicht verändert. Die Sprachverwirrung am Ende der Passage zwischen
den Verben müssen, wollen und sein, verweist auf die offene Frage, um die Jürgen
zu kreisen scheint: Wie muss er sein? Wie will er sein? Will er so sein, wie er sein
muss?
Jürgen erlebt ein lustvolles Sich-Ausprobieren und bezeichnet die Erfahrung als
„beste Erfahrung“, die er gemacht hat. Er realisiert, dass es für ihn in schwierigen
Situationen Handlungsalternativen gibt. Jürgen erscheint erleichtert und für ihn
persönlich ist die Erfahrung bedeutsam, weil er etwas über sich lernt. An der gesamten Erzählung über das Konfliktlösungstraining fällt auf, dass er sich nicht vorgeführt fühlt und sich alle in der Gruppe beteiligen und einbringen. Er beschreibt eine
haltende und vertrauensvolle Gruppendynamik, in der sich scheinbar das Gefühl des
Familien-Wirs reinszeniert. Dies spiegelt sich auch darin wieder, dass er den ersten
Durchlauf des Konfliktlösungstrainings als „ein voller Erfolg“ bezeichnet. Dies
verweist auf den Erfolg eines gemeinsamen Projekts. Jürgen erlebt das Konfliktlösungstraining als gemeinsamen Lernort der Inhaftierten und des Personals. Er knüpft
dabei an biographische Erfahrungen des Lernens und der Hilfebeziehungen an. Zeigen sich einerseits die von ihm positiv erlebten Lern- und Unterstützungsbeziehungen in Haft, die mit einer Idealisierung des Gefängnisses einhergehen, wird andererseits ein Ablösungsprozess von den Eltern erkennbar. Allerdings wird an der Bindung an das Gefängnis sichtbar, dass sich das Abhängigkeitsmuster im Längsschnitt
nicht verändert. Es wird lediglich vom Vater zur Institution verschoben.
Fazit
Die Bedeutung von Gewalt im Gefängnis ist in Jürgen Kempers Erzählung eng mit
Macht verknüpft. Gewalt wird von ihm als legitim erachtet, wenn sie funktional ist
und einem Zweck dient – ein rationaler Blick auf Gewalt. Im Umkehrschluss grenzt
sich Jürgen deutlich von aus seiner Sicht irrationalem und unberechenbarem Ge-
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walthandeln ab. Sein rationaler Blick auf Gewalt geht mit der Identifikation mit
Personen einher, die sich ihm gegenüber in Machtpositionen befinden: Jürgen identifiziert sich sowohl mit Inhaftierten, die eine mächtige Position in der Gefangenenhierarchie haben, als auch mit den Beamten als mächtigen Vertretern der Institution.
Bei der Betrachtung der Bedeutung von Gewalt vor dem Hintergrund seiner biographischen Konflikterfahrungen wird die biographische Bedeutung seiner rationalen Perspektive auf Gewalt im Gefängnis schnell offensichtlich: Jürgen rationalisiert
Gewalterfahrungen im Kontext der Familie. Er erlebt irrationale Gewaltausbrüche
des Vaters und sucht sie rationalisierend zu deuten. Die Gewalt des Vaters hielt sich
nach seinem Empfinden immer in Grenzen, hatte immer einen Grund und hat laut
Jürgen seinen „Absturz“ verzögert. Seine Angst und Ohnmachtsgefühle als Kind
bleiben dadurch im manifesten Text verdeckt. Latent weist die Rationalisierung
jedoch darauf hin, dass Jürgen sich in den geschilderten Situationen in besonderem
Maß abhängig und ohnmächtig gefühlt hat. Die deutliche Identifikation mit dem
Vater, die über den Längsschnitt sichtbar wird, geht damit einher, die Gefühle von
Angst und Ohnmacht abzuwehren.107 Besonders deutlich zeigt sie sich darin, dass
Jürgen das väterliche Muster, irrationales Verhalten abzulehnen, obwohl der Vater
selbst irrational handelt, übernimmt.
Vor dem Hintergrund der gewaltförmig strukturierten Familienbeziehungen erscheint das Irrationale bedrohlich und die Angst vor der Gewalt des Vaters muss
rationalisiert werden. Jürgen hält an dem Bild fest, dass alles seine Ordnung hat und
sich die Familienmitglieder der Ordnung anpassen. In seiner Erzählung wird somit
Anpassung, Unterordnung und Loyalität gegenüber den Eltern und vor allem dem
Vater sichtbar. Dementsprechend thematisiert Jürgen im Interview kaum Konflikte
in der Familie. Wenn er sie einräumt, relativiert und rationalisiert er sie im nächsten
Schritt. Damit einher geht, dass Jürgens Loyalität den Eltern und besonders dem
Vater gegenüber im gesamten Längsschnitt bestehen bleibt.
Mit der Anpassung an die rigide familiale Ordnung zeigen sich strukturelle Ähnlichkeiten zu Jürgens Anpassungsfähigkeit an die Subkultur im Gefängnis, aber auch
an die Institution. Die Anpassungsfähigkeit steht im Kontext einer familial angelegten Abhängigkeitsdynamik, die manifest in der stofflichen Abhängigkeit des Vaters
deutlich wird. Jürgen selbst nimmt die Dynamik nicht als Abhängigkeit wahr, sondern als Unterstützung und Schutz, was sich zunächst in seiner Erzählung über seinen Vater und im Längsschnitt auch in der Erzählung über das Gefängnis zeigt.
Thematisiert Jürgen kaum Konflikte in der Familie, beschreibt er den Prozess des
Erwachsenwerdens konflikthaft. Es scheint für ihn keinen Übergangsraum in der
Adoleszenz zu geben. Jürgens Ablösungsprozess ist stark mit einem Muster verwoben, das als abhängige Kontrolle bezeichnet wurde und das beschreibt, dass Jürgen
die Kontrolle des Vaters als notwendig erlebt. Damit gibt es für ihn entweder Auto-
107 Aus psychoanalytischer Perspektive zwingt die erlebte Angst und Hilflosigkeit Subjekte, sich
mit dem Angreifer zu identifizieren, um ihn als äußere Realität zum Verschwinden zu bringen. Statt sich aktiv mit ihm auseinander zu setzen, wird er zum Teil des Selbst (vgl. Anna
Freud 1936/1978; Ferenczi 1938/1964).
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nomie oder abhängige Kontrolle und keine Abstufungen. Aus adoleszenztheoretischer Perspektive binden eine rigide Erziehung und autoritäre Verhältnisse Adoleszente eng an die Familie und erschweren adoleszente Individuierungsprozesse. (vgl.
Günther 2008: 72) Der Ablösungsprozess in der Adoleszenz löst bei Jürgen Schuldgefühle aus. Diese Schuldgefühle halten die Bindung zum Vater aufrecht und er
erlebt die Autonomiebestrebungen als Ungehorsam ihm gegenüber. Die Entwicklung persönlicher Autonomie wird blockiert. Die Bedeutung des Autofahrens, die
sich in Jürgens Erzählung zeigt, gewinnt vor dem Hintergrund des Autonomiekonflikts eine tiefere Bedeutung. Autofahren kann als Ablösung vom Vater interpretiert
werden und dient dem Gefühl, Macht zu erleben und dem ohnmächtigen Vater etwas entgegenzusetzen. Zugleich ist das gemeinsame Reparieren der Autos Ausdruck
der Identifikation mit dem Vater.
In Jürgen Kempers Erzählung wird sichtbar, wie sich Abhängigkeit und Anpassungsfähigkeit überlagern. Im Gefängnis spitzt sich diese Konstellation zu, auch
wenn sich für Jürgen in Haft ein Raum eröffnet, sich gegen die autoritären Strukturen der Institution zu wehren und an Konflikten zu arbeiten. Es wird ein langsamer
Ablösungsprozess von den Eltern sichtbar, der jedoch nicht zu einem Mehr an Autonomie führt, sondern zu einer Bindung an die rigide Institution. Das Gefängnis
entlastet Jürgen von den Anforderungen, Autonomie zu entwickeln. Im Längsschnitt
zeigt sich, dass das Gefängnis einen Raum eröffnet, den er als Autonomiegewinn
unter den Bedingungen von Geschlossenheit und als starkes Bindungsangebot erlebt.
Daran wird deutlich, dass sich im Längsschnitt das Abhängigkeitsmuster nicht ver-
ändert, sondern zwischen den Bindungsfiguren hin- und herwechselt.
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12. Donald Engel: „Jeder kennt dich du wirst angehimmelt bald wie so'n Gott“ –
Gewalt als Mittel der Anerkennung im Kontext biographischer
Zugehörigkeitskonflikte
Donald Engel wird 1982 geboren. Er wächst mit einem vier Jahre jüngeren Bruder
und einer sechs Jahre jüngeren Schwester bei seinen Eltern in einer mittelgroßen
Stadt in der DDR auf. Als seine Mutter mit der Schwester schwanger ist, zieht die
Familie in eine neue Wohnung, in der es aufgrund eines technischen Defekts kurz
nach dem Umzug brennt. Daraufhin lebt Donald vorübergehend bei der Großmutter
mütterlicherseits auf dem Land. Ein halbes Jahr später zieht Donald zu seiner Familie zurück, die in der Wohnung der Großmutter väterlicherseits Unterkunft gefunden
hat. Anfang 1998 zieht die Familie erneut um. Unklar bleibt, ob Donald zu diesem
Zeitpunkt in der Familie lebt oder in einer Institution untergebracht ist.
Donalds Vater ist LKW-Fahrer und nach der politischen Wende in der DDR erwerbslos. Seine Arbeitslosigkeit ist durch kurzfristige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unterbrochen. Donalds Mutter arbeitet in der DDR als Köchin in einer Werkskantine. Nach der politischen Wende ist sie als Sachbearbeiterin bei einem neuen
Arbeitgeber beschäftigt.
Mit sechs Jahren wird Donald eingeschult. Nach der Grundschule besucht er die
Hauptschule, wiederholt die achte Klasse und verlässt die Schule mit dem Abgangszeugnis der achten Klasse. Gegen Ende seiner Schulzeit wechselt er häufig die
Schule, da er in unterschiedlichen Institutionen untergebracht wird: Im Dezember
1997 erfolgt sein erster Aufenthalt in einem Heim, in dem er statt einer Untersuchungshaft untergebracht wird, aus dem er aber einen halben Monat später entweicht. Er wird von der Polizei aufgegriffen und von Februar bis März 1998 in Untersuchungshaft genommen. Danach wird er erneut im Heim untergebracht. Für ein
Gutachten wird er zwischenzeitlich kurz in eine psychiatrische Anstalt verlegt. Als
er eine Bewährungsstrafe erhält, muss er das Heim verlassen. Er zieht zurück zu
seinen Eltern und wird kurze Zeit später in einer weiteren psychiatrischen Anstalt
untergebracht. 1998, als Donald 16 Jahre alt ist, wird seine Bewährungsstrafe wegen
Raubes zu einem Jahr Strafhaft aufgrund von Autodiebstahl und des Tragens verfassungswidriger Kennzeichen umgewandelt. Während dieser Inhaftierung finden das
Interview zu den Hafterfahrungen (I) und das biographische Interview (II) statt.
Ungefähr einen Monat nach dem biographischen Interview (II), wir Donald im Frühjahr 1999 aus der Haft entlassen. Sieben Wochen nach der Entlassung, in denen er
ein Berufsvorbereitungsjahr beginnt, abbricht und eine Erstausbildung zum Koch
anfängt, wird er erneut verhaftet und in Untersuchungshaft gebracht. Die zweite
Jugendstrafe beträgt zweieinhalb Jahre wegen Körperverletzung und bewaffnetem
Raub. Während dieser Inhaftierung wird das erste Längsschnittinterview (III) und
ein Jahr später das zweite Längsschnittinterview (IV) mit ihm geführt. Donald
schließt während seiner zweiten Inhaftierung ein Berufsvorbereitungsjahr ab und
absolviert seinen Hauptschulabschluss.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Zwischen Männlichkeit und Gewalt wird sowohl in den kollektiven Deutungsmustern junger Männer als auch in vielen wissenschaftlichen Ansätzen der Jugendgewalt- und Männlichkeitsforschung ein direkter Zusammenhang vorausgesetzt.
In der vorliegenden Studie werden kollektive Deutungsmuster von Gewalt in Beziehung gesetzt zu der subjektiven Bedeutung von Gewalt im Kontext biographischer Konflikterfahrungen. Unterliegt Gewalt einem biographischen Eigensinn? Dieser Frage wird anhand fünf biographischer Fallinterpretationen auf Basis qualitativer Längsschnittinterviews mit inhaftierten jungen Männern nachgegegangen.
Das Verhältnis von Gewalt und Geschlecht wird aus einer soziologischen und sozialpsychologischen Perspektive untersucht. Dabei rücken die Opfer-Täter-Ambivalenzen von Gewalthandeln in den Blick. Es zeigt sich eine enge Verbindung zwischen der Bedeutung von Gewalt und den biographischen Konflikterfahrungen junger Männer: Gewalt steht in enger Beziehung zu ihren Autonomiekonflikten und ein komplexes und vielschichtiges Verhältnis zwischen Autonomie, Geschlecht und Gewalt wird sichtbar.