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im Gefängnis? Wie findet Distinktion statt? Welche Rolle spielt Gewalt im sozialen
Raum der Inhaftiertengemeinschaft? Wie wird Geschlecht in diesem spezifischen
Kontext interaktiv ausgehandelt und hergestellt? Dient Gewalt dabei als Struktur-
übung oder Ressource der Wiederherstellung und Verteidigung bedrohter Männlichkeit?
An dieser Stelle erfolgt nun ein kurzer Vorgriff auf das empirische Material. In
aller Kürze werden ausgewählte Ergebnisse der kollektiven Deutungsmuster von
Gewalt im Gefängnis dargestellt und zu der theoretischen Diskussion in Beziehung
gesetzt. Im Anschluss daran, wird der eigene Forschungszugang für die biographische Perspektive entwickelt. Die Analyse der kollektiven Deutungsmuster basiert
auf Interviews über die Hafterfahrungen, die mit 30 jungen Männern in zwei verschiedenen Jugendhaftanstalten und einer Jungtäteranstalt geführt wurden.44
4. Oben, unten oder in der Mitte? Positionszuweisungen und
Selbstpositionierungen in der Gefangenenhierarchie – der Vorgriff auf das
empirische Material
Die Interviewerzählungen verdeutlichen den hohen Stellenwert von Gewalt im Gefängnis.45 Alltägliche Gewalt und ihre Androhung strukturiert die Interaktionen der
Inhaftierten untereinander und durch Gewalt werden die Positionen der Gefangenenhierarchie verhandelt. Gewalt im Gefängnis spielt schon vor der Inhaftierung
eine Rolle in Form von Gerüchten und Diskursen. Diese prägen auch die jungen
Männer und lösen Ängste bei ihnen aus.46 Diese Angst und Unsicherheit bestimmen
die Aufnahme- und Ankunftssituation im Gefängnis, die einem Initiationsritual
ähnelt (vgl. Grapendaal 1990), durch das die Werte der Gefangenengemeinschaft
weitergegeben werden. Die Neuinhaftierten werden durch Provokationen, Drohungen und Unterdrückungsversuche sogenannten „Anfangstests“ unterzogen. Ein Inhaftierter beschreibt dies folgendermaßen: „Nach dem Motto ‚Wie ist er, ist er
dumm, ist er schlau, ist er klug, ist er stark, ist er schwach, ist er gewaltbereit, kann
er was?’“47
Das Zitat zeigt anschaulich, dass vor allem Grenzen, aber auch Verhalten getestet
werden. Zugleich wird sichtbar, dass es Verhaltens- und Handlungsspielräume für
die Inhaftierten gibt: Verhandelt wird mit und über Stärke, Klugheit, Dummheit und
Gewaltbereitschaft. Unverrückbar erscheint somit die Tatsache, dass sich alle Inhaf-
44 Für eine ausführliche Beschreibung der Erhebung und des methodischen Vorgehens vgl. Kap.
II.
45 Dass Gewalt und ihre Androhung Bestandteil des Alltags im Jugendstrafvollzug ist, findet
sich auch in klassischen wie aktuellen Studien zum Gefängnis (Sykes 1958/1999; Kersten &
von Wolffersdorff-Ehlert 1980; Sim 1994; Bereswill 1999, 2001a & 2002; Kury & Smartt
2002; Edgar et al. 2003).
46 Zur Bedeutung von Gerüchten (rumors) über die Institution vgl. Bartollas et al. (1976: 224f.).
47 Für eine ausführliche Interpretation des Zitates vgl. Bereswill 2004a: 101; 2006a: 245 und
Campe et al. 2001: 35.
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tierten zu Gewalt in Beziehung setzen müssen – egal ob durch Stärke, Schwäche,
Klugheit oder Gewaltbereitschaft. Allerdings wird ebenfalls deutlich, dass im Gefängnis vielfältige Handlungsstrategien im Umgang mit Gewalt existieren, denn
obwohl sich die Inhaftierten zu Gewalt verhalten müssen, stellt diese nicht für alle
eine Handlungsressource dar: Gewalt ist für einige Inhaftierte legitime, für andere
zwangsläufige, für wiederum andere keine Handlungsressource im Gefängnis (vgl.
Bereswill 2002).
In den Erzählungen der inhaftierten jungen Männer wird deutlich, dass der Haftalltag häufig durch Gewaltandrohung bestimmt ist und nicht durch Gewaltausübung.
Somit sind die Übergänge zwischen Unterdrückung, Schikane, Beleidigung und
körperlicher Gewalt fließend. Aus Sicht der Inhaftierten hat Gewalt im Gefängnis
viele Facetten: Sie kann angedroht oder ausgeübt, physisch oder psychisch sein. Die
für alle sichtbarste Form, das Zuschlagen, also offene physische Gewalt, ist damit
nur eine Form von Gewalt im Gefängnis. Die realen Gewalterfahrungen sind vielmehr geprägt durch Unterdrückung, die alltägliche Gewalt zwischen den Inhaftierten. Unterdrückung findet meist über den Versuch statt, Inhaftierte bestimmte Dienste durch Gewaltandrohung verrichten zu lassen, die häufig mit Hausarbeit verknüpft
sind („koch mal Kaffee“, „putz mal meine Zelle“), und die ebenso wie die Benennung der Opfer von Unterdrückung als „Fotzen“ oder „Muschis“ (sexualisierte)
Zuschreibungen von Weiblichkeit beinhalten. Aber auch Beleidigungen und Schikane werden als Beispiele genannt.
Zentrale Motive, der Sinn, den die jungen Männer Gewalt verleihen, sind hierbei
das Erlangen von Respekt, Anerkennung und Ansehen, die Verteidigung der Ehre
sowie das Demonstrieren von Härte und damit verbunden das Erreichen oder Absichern einer Position in der Gefangenenhierarchie.
Die Gefangenenhierarchie im Kontext der zentralen Charakteristika der geschlossenen Institution beschreibt ein junger Mann im folgenden Zitat anschaulich: 48
man kann nicht hier weglaufen, man ist nicht draußen, wo man vor die eh vor den anderen
Menschen da eh von laufen kann, wo man sagen kann „Hör zu, Junge alles klar, du hast gewonnen, ich verzieh mich jetzt“. Das geht hier nicht. (...) Weil entweder man wird als Schlappi
eingestuft oder eh man ist nen man ist nen Junge, der sich nichts gefallen lassen tut und der der
mehr oder weniger auch in Ruhe gelassen wird.
An diesem Zitat wird die Geschlossenheit der Institution („man kann nicht hier
weglaufen“) sehr gut sichtbar.49 Der junge Mann verweist auf die damit einhergehende Unmöglichkeit, Gewalt in der Institution auszuweichen („‚du hast gewonnen,
ich verzieh mich jetzt’. Das geht hier nicht.“). Ferner wird die in dem Zitat beschriebene Zwangsläufigkeit einer klaren Positionszuweisung in der Gefangenenhierarchie
deutlich: man ist entweder der „Schlappi“ oder der „Junge, der sich nichts gefallen
lässt“, unten oder oben in der Hierarchie – zumindest auf den ersten Blick.
48 Vgl. auch die Interpretation bei Bereswill 2006a: 246f.
49 Eine ausführliche Darstellung der Wirkung von Geschlossenheit findet sich bei Bereswill
2001a & 2006a: 243.
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Aus Sykes Perspektive ließe sich der „Junge, der sich nichts gefallen lässt“ als
„tough“ oder vielleicht als „real man“ beschreiben. Der „Schlappi“, der auch im
deutschen Sprachgebrauch durch die Assoziationen zu Schlappschwanz sexuell
konnotiert ist, wäre vielleicht der „punk“ oder „fag“. In diesem Zusammenhang fällt
eine entscheidende Leerstelle in Sykes Modell der argot roles auf: Es gibt keine
Bezeichnung für Inhaftierte, die von physischer Gewalt und Unterdrückung betroffen sind jenseits sexueller Gewaltformen. Warum fallen diese Inhaftierten durch sein
sonst so genaues Raster? Dies könnte ein Hinweis sein, dass die Opfer von Gewalt
nicht so einfach zu identifizieren sind, weil sie sich nicht so leicht zu erkennen geben. Eine weitere Lesart wäre, dass die Täter- und Opferrollen nicht so eindeutig
verteilt sind.
Sykes implizite Beschreibung einer klaren Hierarchie wird in den Interviewerzählungen der inhaftierten jungen Männer explizit zur Sprache gebracht. Die Erzählungen über Gewalt und Unterdrückung im Gefängnis lassen auf den ersten Blick ein
klares Bild der Gefangenenhierarchie entstehen: Es gibt die Inhaftierten, die unterdrücken, und die Inhaftierten, die sich unterdrücken lassen. Ein Inhaftierter beschreibt dies als „Hackordnung“. Diese Hack- oder Rangordnung betont die Hierarchie, bestehend aus einem Oben (die Unterdrücker) und einem Unten (die Unterdrückten). In der eigenen Studie zeigt sich darüber hinaus jedoch ein sehr
widersprüchliches Ergebnis: Obwohl das Oben und Unten der Gefangenenhierarchie
sehr präzise beschrieben wird, verortet sich aber kaum ein junger Mann in den Interviews dort. Die Inhaftierten verorten sich meist in der Mitte, die sie jedoch nicht
näher beschreiben. Im manifesten Text existiert somit zunächst eine „Hackordnung“, die klar erscheint und statisch ist. Wenn die jungen Männer jedoch ins Erzählen geraten, wird die „Hackordnung“ dynamisch und verliert ihre vertikale Eindeutigkeit. Somit weist die Gefangenenhierarchie keine eindeutig vertikale Struktur auf.
Es gibt mehr als ein Oben und Unten. Die Landkarte der Inhaftiertengemeinschaft
wird zum sozialen Raum, indem es eine Dynamik gibt und die Inhaftierten in einen
fortwährenden Kampf untereinander verwickelt sind.50
Aus Bourdieus Perspektive lassen sich die Inhaftierten auf den ersten Blick im
sozialen Raum der Inhaftiertengemeinschaft verorten. Es gibt ein Oben, ein Unten
und die Mitte. Wie bereits erwähnt, verweist er auf die Mitte als neutralen Punkt im
Raum, von dem aus die Akteure zwischen den beiden Extrempositionen hin- und
herschwanken. Dieses potenzielle Hin- und Herpendeln zwischen Oben und Unten
ist im Gefängnis jedoch mit permanenter Wachsamkeit und Bedrohung verbunden.
Dies wird deutlich, wenn die Frage gestellt wird, warum die Inhaftierten in ihren
Erzählungen trotz ihrer Selbstverortung in der Mitte dennoch am Bild der starren
Hierarchie festhalten? Eine klare Hierarchie dient zunächst der Orientierung und
stellt eine Bewältigungsstrategie dar, den Stress auszuhalten, zwischen anderen
Adoleszenten in einer geschlossenen Institution zu sein. Gleichzeitig müssen die
50 Obwohl er die Dynamik nicht explizit benennt, verweist auch Sykes auf den Kampf der
Inhaftierten, den er als „war of all against all“ (1958/1999: 82) beschreibt.
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Inhaftierten unentwegt die Balance halten oder, wie Mechthild Bereswill es beschrieben hat:
Die fließende Grenze zwischen realer und befürchteter Unterdrückung trägt erheblich zur Stabilisierung des ‚symbolischen Kapitals Gewalt’ bei – Gerüchte und Mythen über Gefährdungen führen zur ständigen Wachsamkeit, zum Bluff mit der eigenen Stärke, der Verdrängung
von Angst und Schwäche und der Notwendigkeit, mit Dauerstress zurecht zu kommen. (Bereswill 2003: 194)
Diese psychodynamische Lesart des neutralen Punkts im sozialen Raum wird
noch deutlicher, wenn eine Unterscheidung zu der Dynamik, die Bourdieu für den
sozialen Raum beschreibt, in den Blick genommen wird: Wenn der soziale Raum
durch ein fortwährenden Kampf um Positionen, der einen Kampf nach oben bedeutet, charakterisiert ist, warum verorten sich die inhaftierten jungen Männer nicht
dort, sondern in der Mitte?
In dem es keine klare Hierarchie gibt, wird in den Interviewerzählungen sichtbar,
dass auch mehr als eindeutige Opfer- oder Täterpositionen existieren. Dies wird in
der folgenden Passage deutlich, in der ein inhaftierter junger Mann über einen Konflikt mit einem Mitinhaftierten erzählt. In dessen Verlauf kommt es zu einer körperlichen Auseinandersetzung, der interviewte junge Mann wird von der Institution als
Täter identifiziert und angezeigt. Für ihn sind die klaren Zuschreibungen, die die
Institution vornimmt, nicht nachvollziehbar51:
D: Bloß weil ich denn halt uffjesprung bin und bisschen härter jemacht hab, bin ich halt zum
Täter jewordn
I: Hm Sie findn er is auch Täter
D: Hm?
I: Sie findn er is auch Täter?
D: Naja klar
I: Hm
D: Er hat doch im Endeffekt anjefang er wollt doch mein Zirkel haben und hat anjefang
(I: Hm) mir n paar in de Rippn zu schlagn naja dann bin ich aufjesprung.
Der junge Mann bezieht sich in diesem Zitat auf eine körperliche Auseinandersetzung zwischen ihm und einem Mitinhaftierten während des Unterrichts. Auslöser
des Konflikts ist aus Sicht des Erzählers der Versuch des Mitinhaftierten, ihm den
Zirkel weg zu nehmen. Die Auseinandersetzung wird von einem Lehrer bemerkt und
der Interviewte als Täter identifiziert und angezeigt. Er widerspricht dieser Auffassung und kreist um die Frage, wer Täter und wer Opfer ist. Er veranschaulicht den
Zuschreibungsprozess, in dem er sagt: „bin ich halt zum Täter jeworden“. Auffällig
an der Passage ist, dass es in der Erzählung des jungen Mannes zwei Täter gibt, aber
51 Aus Perspektive der Institution ist jedoch eine eindeutige Zuschreibung für eine strafrechtliche Verfolgung notwendig.
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kein Opfer. Aus seiner Sicht ist der Mitinhaftierte der Täter, aber das kann er im
Interview nicht benennen, ohne selbst Opfer zu sein. Er wird angegriffen und darf
nicht zum Opfer werden. Er wehrt den Angriff gegen den Körper ab und zugleich
die Erfahrung von Schwäche. In dem Zitat wird darüber hinaus sichtbar, dass im
Gefängnis häufig Formen reziproker Gewalt existieren, die eine eindeutige Zuordnung von Opfer- oder Täterschaft unmöglich machen. Die Interaktion zwischen
jungen Männern im geschlossenen Kontext Gefängnis ist dynamisch, Anerkennungs- und Unterdrückungs-Szenarien überlagern sich. Eine systematische Unterscheidung zwischen reziproker und einseitiger Gewalt, wie sie Meuser für eine differenzierte Betrachtung der „mann-männlicher Gewalt“ vorschlägt, ist nicht sinnvoll
(vgl. Bereswill 2004a). Mit Bezug auf das Gefängnis als homosozialen Raum, der
jedoch im Gegensatz zu den anderen homosozialen Gemeinschaften eine Zwangsgemeinschaft darstellt, beschreibt Meuser, Gewalt im Gefängnis als einseitig. Dieser
Annahme liegt eine implizite Vorstellung von klaren Täter-Opfer-Positionen
zugrunde, die sich in der vorliegenden Arbeit so nicht bestätigt hat. Die Perspektive
des jungen Mannes verdeutlicht somit, dass für die Untersuchung von Gewalt im
Gefängnis eine eindeutige Täter-Opfer-Dichotomie zu eng ist.52
In den kollektiven Deutungsmustern von Gewalt im Gefängnis zeigt sich auf den
ersten Blick die hohe Aktualität von Sykes Ergebnissen, die auf die Wirkmacht der
Strukturen der geschlossenen Institution verweist.53 Gewalt ist strukturgebend für
die soziale Ordnung des Gefängnisses und die Deprivation, verbunden mit den
schmerz- und konflikthaften Erfahrungen des Freiheitsentzugs fördert Gewalt. Es
zeigt sich allerdings deutlich, dass trotz der gewaltförmigen Struktur der Institution
Gewalt nicht für alle Inhaftierten eine Handlungsressource darstellt und dass die
Gefangenenhierarchie viel dynamischer ist, als sie aus Sykes strukturfunktionalistischer und rollentheoretischer Perspektive erscheint. Die Dynamik wird sichtbar,
wenn die Austauschprozesse der Inhaftierten in den Blick genommen werden. Die
Positionsrangeleien im sozialen Raum der Inhaftiertengemeinschaft werden deutlich,
aber auch der eigenwillige Umgang der jungen Männer mit den Strukturen der Insti-
52 Auch andere Studien betonen die Wechselseitigkeit von Gewalt im Gefängnis und die Überlappung von Täter-Opfer-Positionen: „But it would be inaccurate to think of threats as predominantly used by stronger inmates to coerce weaker ones. Threatening behaviour was often
mutual, and there was a substantial overlap between the perpetrators and the victims of
threat” (Edgar et al. 2003: 41; vgl. auch Bereswill 2001a; Kury & Smartt 2002).
53 Vor dem Hintergrund der weltweit zunehmenden Inhaftierungszahlen erfährt Sykes Society
of Captives noch eine weitere aktuelle Bedeutung: Nicht nur als Studie über den Alltag im
Gefängnis, sondern auch als Beschreibung einer Gesellschaft, in der Repression eine offizielle Strategie darstellt, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Institution Gefängnis existiert nicht unabhängig von der Gesellschaft, sondern ist bedeutender Teil ihrer institutionellen
Landschaft geworden. Der Gefängnisboom geht mit einer Politik der Disziplin einher, die
Ordnung als legitimierte Gewalt denkt und nicht mehr in Sykes Sinn als informelle Grundlage sozialen Zusammenhalts (vgl. Simon 2000; Western 2007). An diese Gedanken wäre die
diskurstheoretische Perspektive Michel Foucaults (1976) anschlussfähig, der ebenfalls einen
wichtigen soziologischen Beitrag zur Gefängnisforschung geleistet hat, in der vorliegenden
Arbeit jedoch keine Berücksichtigung findet.
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tution und ihre Handlungsspielräume rücken ins Zentrum. Bourdieu beschreibt die
Abgrenzungsversuche und gleichzeitige Suche nach gegenseitiger Akzeptanz als
Entstehung für die Bewegung im sozialen Raum. Er nennt dies die Gegenläufigkeit
von Vergemeinschaftung und Konkurrenzkampf, eine Dynamik, die auch schon
Sykes beschrieben hat, wenn er betont, dass die Inhaftiertengemeinschaft eine Solidargemeinschaft gegenüber den Vertretern der Institution darstellt und zugleich
innerhalb der Inhaftiertengruppe ein „war of all against all“ (1958/1999: 82)
herrscht. Dies wird in den Interviewerzählungen deutlich, wenn die ungeschriebenen
Gesetze der Inhaftierten in den Blick genommen werden. Informationen aus der
Inhaftiertengemeinschaft an Bedienstete der Institution weiterzugeben (das sogenannte „anscheißen“) ist ein Vergehen, das massive Sanktionen durch Mitinhaftierte
nach sich zieht.54 Darüber hinaus wird die hohe Bedeutung von Gewalt als symbolisches Kapital deutlich. Den Sinn, den die inhaftierten jungen Männer Gewalt verleihen, ist der Kampf um Ehre, Ansehen, Anerkennung und Respekt. Symbolisches
Kapital sorgt für eine hohe Position in der Gefangenenhierarchie.55
Dieses Ergebnis weist zunächst eine große Anschlussmöglichkeit an zentrale Ergebnisse der Männlichkeitsforschung zum Zusammenhang von Männlichkeit und
Gewalt auf, der in der Verteidigung der Ehre sowie dem Erlangen von Respekt und
Anerkennung gesehen wird (Kersten 1997a+b; Messerschmidt 2000; kritisch hierzu
Bereswill 2003a+b, 2006a; Neuber 2008). Gewalt erscheint somit als Ressource
bedrohter Männlichkeit.
Ein zentrales Ergebnis der kollektiven Deutungsmuster von Gewalt im Gefängnis,
die Überschneidung der Täter-Opfer-Positionen, lässt sich mit den bisherigen Ansätzen nicht erklären. Meuser (1999: 53) betont als positive Entwicklung, dass die
Zunahme von handlungstheoretischen und konstruktivistischen Ansätzen der Geschlechterforschung (doing gender) gegenüber gesellschaftstheoretischen Ansätzen
weg führt von einer eindimensionalen Opferzuschreibung an Frauen. Auffällig ist,
dass dies umgekehrt scheinbar nicht zutrifft: Wenn Gewalt doing masculinity ist,
trägt die handlungstheoretische Perspektive nicht dazu bei, die eindimensionale
Täterzuschreibung an Männer aufzuheben, sondern im Gegenteil sie verfestigt sie, in
dem sie Gewalt mit Geschlecht erklärt.
54 Diese Regel der Inhaftiertengemeinschaft zeigt sich vielen Untersuchungen über Gewalt im
Gefängnis als konstant über die Jahre (vgl. beispielsweise Bartollas et al. 1976: 230; Grapendaal 1990: 345; Edgar et al. 2003: 155).
55 In den Austauschprozessen der Inhaftierten spielen alle Kapitalsorten eine Rolle: ökonomisches Kapital (z.B. Tabak, Kaffee, Drogen, Markenkleidung aber auch Bargeld) als Grundlage für die Tauschgeschäfte und den Handel in der Inhaftiertengemeinschaft. Soziales Kapital
spielt eine bedeutende Rolle bei der Frage nach Zugehörigkeiten. Wer kennt wen? Wer beschützt wen? Die geringste Bedeutung hat das kulturelle Kapital zumindest in objektivierter
und institutionalisierter Form. Aber auch hier lassen sich Spuren in den Interviewerzählungen
finden, wenn z.B. Inhaftierte Briefe und Anträge für Mitinhaftierte schreiben oder sich durch
verbale Überlegenheit gegen Unterdrückungsversuche wehren. Ferner ließe sich das inkorporierte kulturelle Kapital als Wissen oder Fähigkeit übersetzen, die Regeln der Inhaftiertengemeinschaft zu durchschauen und sich an sie anpassen zu können. Gewalt und ihre Androhung
dient meist, jedoch nicht immer und ausschließlich, der Vermehrung des Kapitalvolumens.
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Die Überschneidungen der Täter-Opfer-Positionen lassen sich mit dem Habituskonzept ebenfalls nicht angemessen erfassen. Es ist im Sinne einer Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Handeln ein sehr hilfreiches Konzept, es weist jedoch
bei der konflikthaften Aneignung der Welt eine Leerstelle auf. An dieser Leerstelle
setzt die vorliegende Arbeit an, indem versucht wird, eine andere Perspektive als
Vermittlung von Struktur und Handlung, Gesellschaft und Subjekt zu denken, um
den Zusammenhang von Gewalt und Männlichkeit zu erforschen: eine biographische Perspektive, die die Widersprüche und Ambivalenzen im Subjekt berücksichtigt. Bourdieu selbst betont in seinem späten Werk immer stärker die Brüchigkeit
des Habitus. Wendet er sich 1990 in einem Aufsatz polemisch gegen die Biographieforschung (Bourdieu 1990), macht Bourdieu wenige Jahre später56 implizit eine
biographische Perspektive stark, wenn er sagt, „dass in der Erzählung von höchst
„persönlichen“ Problemen, von scheinbar eindeutig subjektiven Spannungen und
Widersprüchen, häufig grundlegende Strukturen der sozialen Welt und ihre Widersprüche zum Ausdruck kommen“ (Bourdieu 2000: 89). An diese Überlegungen wird
in der vorliegenden Arbeit angeknüpft, wenn eine biographische und subjektorientierte Perspektive auf die Bedeutung von Gewalt im Kontext biographischer Konflikterfahrungen eingenommen wird, denn wie Mechthild Bereswill betont: „Die
Strategien der Aushandlungen verstehen zu wollen, erfordert aber eine Überschreitung der kollektiven und institutionell geprägten Dimensionen von Gewalt im Gefängnis.“ (Bereswill 2002: 185f.)
5. Subjekt, Geschlecht, Biographie – ein konflikthaftes Modell von Struktur und
Handeln
Der Verweis auf die Überschneidungen der Täter-Opfer-Positionen lenkt den Blick
darauf, dass das Verhältnis von Männlichkeit und Gewalt ein komplexes und konflikthaftes ist, das erst aus einer biographischen Perspektive seinen Sinn erfährt.
Selbst in der geschlossenen Institution Gefängnis, in der Gewalt eine Norm darstellt,
unterliegt Gewalt einem biographischen Eigensinn, und die Bedeutung von Gewalt
ist verknüpft mit biographischen Konflikterfahrungen. Einen produktiven Ansatzpunkt hierfür bietet die Untersuchung der Opfer-Täter-Ambivalenzen in den Lebensentwürfen und Biographien von Männern (vgl. Bereswill 2003). Hier stellt sich
die Frage, ob die kollektiven Deutungsmuster der jungen Männer von Anerkennung,
Ehre und Respekt, brüchig werden, wenn die subjektive Bedeutung von Gewalt im
Kontext biographischer Konflikterfahrungen in den Blick genommen und beides
zueinander ins Verhältnis gesetzt wird. Der subjektive Sinn von Gewalt ist mit den
kollektiven Deutungsmustern verwoben, jedoch nicht gleichbedeutend. Dies wird
mit Blick auf die Täter-Opfer-Positionen besonders deutlich: In den kollektiven
56 Der Text (Bourdieu 2000) auf den sich bezogen wird, ist ein Nachdruck von einem Text, der
1997 in dem Werk „Das Elend der Welt“ erschienen ist, das in Frankreich bereits 1993 veröffentlicht wurde.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Zwischen Männlichkeit und Gewalt wird sowohl in den kollektiven Deutungsmustern junger Männer als auch in vielen wissenschaftlichen Ansätzen der Jugendgewalt- und Männlichkeitsforschung ein direkter Zusammenhang vorausgesetzt.
In der vorliegenden Studie werden kollektive Deutungsmuster von Gewalt in Beziehung gesetzt zu der subjektiven Bedeutung von Gewalt im Kontext biographischer Konflikterfahrungen. Unterliegt Gewalt einem biographischen Eigensinn? Dieser Frage wird anhand fünf biographischer Fallinterpretationen auf Basis qualitativer Längsschnittinterviews mit inhaftierten jungen Männern nachgegegangen.
Das Verhältnis von Gewalt und Geschlecht wird aus einer soziologischen und sozialpsychologischen Perspektive untersucht. Dabei rücken die Opfer-Täter-Ambivalenzen von Gewalthandeln in den Blick. Es zeigt sich eine enge Verbindung zwischen der Bedeutung von Gewalt und den biographischen Konflikterfahrungen junger Männer: Gewalt steht in enger Beziehung zu ihren Autonomiekonflikten und ein komplexes und vielschichtiges Verhältnis zwischen Autonomie, Geschlecht und Gewalt wird sichtbar.