25
For the inmates of the NewJersey State Prison, however, violence is a familiar companion
rather than a rare breach in social relationships and they are keenly aware of its different
meanings. The prisoners draw a firm line between violence which stems from ‚real’ courage
and violence which is part of a pattern of braggadocio. (Sykes 1958/1999: 104)
Neben der Allgegenwärtigkeit von Gewalt im Gefängnis zeigt sich in diesem Zitat folgendes interessante Argument: Sykes betont, dass den Inhaftierten die unterschiedliche Bedeutung von Gewalt bewusst ist, und sie genau differenzieren zwischen Gewalt aus Mut oder Prahlerei. Aus dieser Perspektive erscheint das Verhalten der Inhaftierten genau einschätzbar, was Gewalt im Gefängnis einen Teil der
Bedrohlichkeit nehmen würde. Die Übernahme der Rollen scheint nach Sykes glatt
und reibungslos zu funktionieren. Die Dynamik der Inhaftiertengemeinschaft und
die Uneindeutigkeiten gehen darin verloren. Die Struktur der Inhaftiertengemeinschaft wirkt klar hierarchisch und starr und die „Widersprüche innerhalb der Inhaftiertenrolle bleiben daher in seinem Landkartenmodell unbesehen“ (Koesling 2003:
113). Diese Lücke steht im Widerspruch zu seiner sonst sehr detaillierten Beschreibung.
Für die vorliegende Arbeit bedeutet dies, den Kontext von Gewalt, die geschlossene Institution, die gewaltförmig strukturiert ist, und in der sich alle Inhaftierten zu
Gewalt verhalten müssen, in den Blick zu nehmen. Zugleich werden die konflikthaften und oftmals widersprüchlichen Erfahrungen von Gewalt im Gefängnis betrachtet, die Sykes in seiner empirischen Arbeit zu den Erfahrungen und der Bewältigung
einer Inhaftierung aufspürt. Durch diesen Zugang gerät die strukturtheoretische
Perspektive ins Wanken und die Frage wie das Verhältnis von Struktur und Handlung sowie Institution und Subjekt zueinander vermittelt gedacht werden kann, stellt
sich.
Um die Dynamik in der Inhaftiertengemeinschaft zu erfassen, erscheint es fruchtbarer, im übertragenen Sinn auf ein Gesellschaftsmodell zurückzugreifen, das stärker, vor allem auch horizontal, differenziert ist.
2. Bourdieus Konzept des sozialen Raums und des Habitus – ein vermitteltes
Modell von Struktur und Handeln
Bourdieu knüpft in seiner Theorie an die Vorstellung der Soziologie als Sozialtopologie an und beschreibt den sozialen Raum zunächst analog einer Landkarte (vgl.
Bourdieu 1982: 277), ähnlich wie Sykes die Gefangenengemeinschaft als „map of
the inmate social system“ (1958/1999: 84) beschreibt. Der soziale Raum besitzt, wie
der geographische, eine Struktur – eine gesellschaftliche Topologie (vgl. Bourdieu
1992: 35). Während Sykes jedoch die Hierarchien starr und eher implizit beschreibt,
existiert für Bourdieu ein entscheidender Unterschied zwischen dem gesellschaftlichen und dem geographischen Raum und somit im übertragenen Sinn auch zwischen
seiner und Sykes’ Vorstellung von Gesellschaft: Es existiert ein Raum, der starke
Zwänge ausübt, der allerdings nicht statisch ist. Die Menschen sind, ausgehend von
ihrer Stellung im sozialen Raum, in einen fortwährenden Kampf untereinander um
26
die Veränderung dieses Raums verwickelt (vgl. Bourdieu 1992: 36f.). Bourdieu
möchte die Dynamik in dem Raum erfassen und betont somit, dass der soziale Raum
mehrdimensional ist.23 Die Akteure im sozialen Raum sind anhand ihrer relativen
Stellung innerhalb dieses Raums definiert (vgl. Bourdieu 1985: 10).
Der soziale Raum ist für Bourdieu ein Raum von Unterschieden. Mit kritischem
Bezug zu Karl Marx und Max Weber analysiert Bourdieu die moderne Gesellschaft
als Klassengesellschaft. Unterscheidungen werden entlang der Verfügung verschiedener Kapitalsorten getroffen. Er differenziert zwischen ökonomischem, kulturellem
und sozialem Kapital. Ökonomisches Kapital umfasst Formen materiellen Reichtums wie Einkommen oder Besitz. Kulturelles Kapital existiert in drei Formen: inkorporiert (Geschmack, Wissen, Benehmen), objektiviert (kulturelle Güter wie Bücher, und Gemälde) und institutionalisiert (in Form von Titeln, wie Schulabschlüsse
oder akademische Titel). Das soziale Kapital bezeichnet die vorhandenen oder potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder
weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens
verbunden sind. Die Ressourcen können auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe
beruhen (wie beispielsweise Familie oder Netzwerke). Sozialkapitalbeziehungen
beruhen auf materiellem oder symbolischem Tausch zwischen den Akteuren und
erfordern eine ständige Beziehungsarbeit in Form von Austauschakten, in denen die
gegenseitige Anerkennung erneuert wird. Für die Stellung der Akteure im sozialen
Raum ist sowohl die Gesamtmenge (Kapitalvolumen) als auch die Zusammensetzung der einzelnen Kapitalsorten (Kapitalstruktur) relevant; die relative Stellung der
Akteure zueinander spielt eine entscheidende Rolle. Der soziale Raum ist demnach
nicht nur ein Raum von Unterschieden, sondern auch ein Raum von Beziehungen
(vgl. Bourdieu 1985: 13; Krais & Gebauer 2002: 36).
Bourdieu differenziert drei gesellschaftliche Klassen im sozialen Raum: die herrschende Klasse, die mittlere Klasse und die untere Klasse. Seine Analyse bleibt
jedoch nicht bei der Einteilung der Gesellschaftsmitglieder stehen, denn er beschreibt die „feinen Unterschiede“, das was er „Distinktionen“ nennt, innerhalb der
einzelnen Klassen mit ihren unterschiedlichen Geschmackssystemen und Lebensstilen. Die obere Klasse ist durch Distinktion, durch ihr Bestreben, den Abstand zu den
anderen gesellschaftlichen Gruppen zu wahren, gekennzeichnet. Sie gibt vor, was
relevant ist, wobei die Distinktion nicht bewusst sein muss (Bourdieu 1985: 21). Die
mittlere Klasse ist gekennzeichnet durch Prätention, durch ein ständiges Bemühen,
sich der oberen Schicht anzupassen. Die untere Klasse ist geprägt durch Notwendigkeit, den Kampf um die Existenz. Innerhalb des sozialen Raums findet somit ein
Kampf um Positionen statt, der meist einen Kampf nach oben bedeutet. Für die
Akteure in der Mitte der Gesellschaft beschreibt Bourdieu, „dass sie zwischen den
beiden Polen, am neutralen Punkt des Raumes lokalisiert sind und zwischen beiden
Extrempositionen hin und her schwanken“ (1985: 12; Herv. im Orig.). Er verweist
23 Die dritte Dimension des sozialen Raums ist die Zeitachse. Damit bildet Bourdieu die „soziale Laufbahn“ (1982: 187ff.) der Akteure ab.
27
somit ausdrücklich auf die Dynamik im sozialen Raum und die Aufstiegsbestrebungen und Abstiegsmöglichkeiten.
Wird sein Modell des sozialen Raums auf das Gefängnis übertragen oder präziser
ausgedrückt auf die Inhaftiertengemeinschaft, da die Vollzugsbediensteten nicht
Gegenstand der Untersuchung sind, stellt die beschriebene Dynamik und die damit
verbundene ständige Bedrohung des Abstiegs, eine hilfreiche Perspektive dar, um
die Gefangenengemeinschaft in den Blick zu nehmen: Welche Dynamiken lassen
sich im sozialen Raum der Inhaftiertengemeinschaft erkennen? Welche Kapitalsorten sind relevant? Wie findet Distinktion statt? Welche Rolle spielt Gewalt im sozialen Raum der Inhaftiertengemeinschaft?24
Die Bewegung im sozialen Raum entsteht nach Bourdieu durch das Miteinanderringen von Abgrenzungsversuchen bei gleichzeitiger Suche nach gegenseitiger Akzeptanz, also durch die Gegenläufigkeit von Vergemeinschaftung und Konkurrenzkampf. Die gegenseitige Akzeptanz ist ein weiterer zentraler Aspekt seiner Theorie.
Um diese zu erfassen, bringt er eine vierte Kapitalsorte ins Spiel: das symbolische
Kapital. Symbolisches Kapital wird bezeichnet als die wahrgenommene und als
legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien. Bourdieu selbst bezeichnet das symbolische Kapital als einen anderen Namen für Distinktion, als „Kapital
(gleich welcher Art), wahrgenommen durch einen Akteur, dessen Wahrnehmungskategorien sich herleiten aus der Inkorporierung der spezifischen Verteilungsstruktur
des Kapitals, mit anderen Worten: ist Kapital, das als selbstverständliches erkannt
und anerkannt ist“ (Bourdieu 1985: 22). Symbolisches Kapital muss somit wahrgenommen und als legitim anerkannt werden. Es wird häufig als Bekanntheit, Anerkennung, Ansehen, Ehre, Ruhm etc. gefasst. Die hohe Bedeutung von symbolischem
Kapital als Mittel der Abgrenzung (Distinktion) ist für die eigenen Überlegungen
sehr aufschlussreich, denn hieraus lässt sich folgendes Argument entwickeln: Die
tendenzielle Dominanz von ökonomischem Kapital in der Gesellschaft, die sich
auch in Bourdieus Theorie finden lässt, spielt im Gefängnis keine dominante Rolle,
wenn sie auch nicht unerheblich ist, um sich an den Geschäften der Subkultur beteiligen zu können. Dies wirft die Frage nach der Bedeutung der Kapitalsorten in der
Inhaftiertengemeinschaft auf und es lässt sich die These aufstellen, dass aufgrund
mangelnder Ressourcen, von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, das
symbolische Kapital an Bedeutung gewinnt. Diese Überlegungen knüpfen an ein
24 An dieser Stelle erfolgt eine kurze Anmerkung zur Übertragbarkeit von Bourdieus Ansatz auf
das Gefängnis. Während Sykes mit Blick auf das Gefängnis auch auf gesellschaftstheoretische Erkenntnisse hofft, hat sich Bourdieu hingegen nicht explizit mit der Institution Gefängnis beschäftigt, sondern eine Klassentheorie entwickelt, die in der vorliegenden Arbeit auf die
Inhaftiertengemeinschaft übertragen wird. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive auf die
Institution Gefängnis zu übertragen, ist nicht reibungslos, dient jedoch als soziologisches Gedankenexperiment und hat eine lange Tradition. Schon Clemmer (1940) argumentiert mit
klassentheoretischen Gesellschaftsbegriffen und teilt die Inhaftiertengemeinschaft in drei
Gruppen ein: die „elite“; die „middle class“ und die „lower class“. Für eine Studie, in der
Bourdieu kriminologisch gewendet wird, vgl. Monica Barry (2006), die Jugenddelinquenz
empirisch erforscht.
28
Argument der britischen Kriminologin Monica Barry an. Barry grenzt sich kritisch
von Bourdieus Annahme ab, dass die Akkumulation von symbolischem Kapital
sowohl Dauerhaftigkeit als auch offizielle Legitimation durch die breitere Gesellschaft erfordert. Sie argumentiert bezogen auf Heranwachsende:
in the possible absence of other forms of capital, symbolic capital is also a viable and vital
source of identity, status, recognition, reputation and power within the friendship group and although not necessarily durable, can accrue once legitimated by other young people in the short
term rather than by the wider society in the long term. (Barry 2006: 40)
Auf das Gefängnis übertragen handelt es sich bei der Inhaftiertengemeinschaft
nicht um eine „friendship group“. Ob symbolisches Kapital im Gefängnis eine hohe
Bedeutung hat, gilt es in der vorliegenden Arbeit empirisch zu prüfen.25 Dabei wird
der Frage nachgegangen, welche Rolle Gewalt im Kontext von symbolischem Kapital spielt und wie dies mit der Position im sozialen Raum zusammenhängt.
Wie jedoch lässt sich die Beziehung zwischen der Position oder Stellung im sozialen Raum und den spezifischen Praktiken der Akteure denken? Für Bourdieu fungiert als Vermittlungsglied der Habitus (vgl. 1992: 31). Die Verknüpfung von Struktur und Handeln zeigt sich für ihn in der Verknüpfung von Klassenlage und Lebensführung. Der Habitus ist somit die Vermittlung von Lebenslage und Lebensstil: Er
ist ein kollektives, geschichtlich erworbenes System unbewusst funktionierender
Denkstile und Wahrnehmungsfilter. Er produziert Handlungsmuster und Bewertungen und stellt eine Umsetzung der sozialen Position eines Menschen zu einem passenden Lebensstil dar.26
Sein Konzept des Habitus stellt einen Paradigmenwechsel zum Konzept der sozialen Rolle dar (vgl. Krais & Gebauer 2002: 66). Ein Mensch kann mehrere Rollen
einnehmen, aber nur einen Habitus haben. Im Gegensatz zur Rolle wird der Habitus
als im Subjekt angesiedelte Instanz gedacht und nicht als ein von außen an das Subjekt herangetragenes Bündel von Verhaltensregeln (vgl. Krais 1993; zitiert nach
Althoff, Bereswill & Riegraf 2001: 248). Bourdieu beschreibt den Menschen als
vergesellschaftetes Subjekt und denkt damit das Verhältnis zwischen Struktur und
Handeln als ein vermitteltes. Geht das Konzept der sozialen Rolle, wie in Sykes’
Ansatz, von einem Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft aus, die
wechselseitig auf sich einwirken, lenkt das Habitus-Konzept den Blick auf eine
gänzlich andere Auffassung von Gesellschaft und Individuum – als ein „In-der-
Welt-Sein“ (vgl. Krais & Gebauer 2002: 78). Jedoch ist dies nicht als ein passives
Ruhen des Individuums in der Gesellschaft zu verstehen, sondern als aktive Auseinandersetzung mit der Welt. Mit dem Habituskonzept lassen sich die Konstitution,
Handlungsbedingungen aber auch Handlungsmöglichkeiten des Menschen als ver-
25 Edgar et al. argumentieren: „Respect becomes particularly important in prison when one has
little else.” (2003: 138)
26 Auf das Gefängnis bezogen macht es keinen Sinn, von einem Lebensstil im Bourdieuschen
Sinn zu sprechen. Jedoch lässt sich in der Institution der Habitus als generierendes Prinzip
verstehen, das vielfältige, differenzierte und spontane Praxen der handelnden Subjekte hervorbringt (vgl. Krais & Gebauer 2002: 43). Von daher wird sich in der vorliegenden Untersuchung nicht auf Lebensstile, sondern auf Praxen oder Handlungsschemata bezogen.
29
gesellschaftetes Subjekt analysieren (vgl. Spetsmann-Kunkel 2003). Gesellschaft
und Individuum erzeugen sich somit gegenseitig.
Im Gegensatz zum Begriff der sozialen Rolle ist der Habitus als generatives Prinzip zu denken, das sowohl an der (Re-)Produktion sozialer Strukturen beteiligt ist als
auch diese Strukturen verinnerlicht und inkorporiert hat. Das Habituskonzept macht
deutlich, wie der Mensch als sozialer Akteur einerseits durch die soziale Struktur in
seinem Handeln determiniert wird, zugleich aber durch sein Handeln an der (Re-
)Produktion der Struktur maßgeblich beteiligt ist: Die Individuen beziehen sich in
ihrer vom Habitus hervorgebrachten Praxis auf gesellschaftliche Strukturen und
Institutionen, die sie sich aneignen, verändern und neu schaffen. Über diese Praxis
der Akteure, dem Möglichkeitsraum, den sie vorfinden durch ihr Handeln eine konkrete Gestalt und Struktur zu geben, konstituiert sich wiederum Gesellschaft (vgl.
Krais & Gebauer 2002: 78+81). Für die vorliegende Untersuchung zur Bedeutung
von Gewalt im Gefängnis heißt das, den Blick zu öffnen und neben der gewaltförmigen Struktur der Institution die eigensinnigen Handlungen der inhaftierten jungen
Männer zu betrachten, die nicht ausschließlich durch die Struktur determiniert sind.
Darüber hinaus ist der Habitus auch ein System von Grenzen; er bestimmt die sozialen Grenzen. Bourdieu beschreibt den Sinn für die eigene Stellung im sozialen
Raum mit Bezug auf Goffman’s sense of one’s place. Dieser sense of one’s place
bringt die Akteure dazu,
die soziale Welt so wie sie ist hinzunehmen, als fraglos gegebene, statt sich gegen sie aufzulehnen und ihr andere, wenn nicht sogar vollkommen konträre Möglichkeiten entgegenzusetzen: Der Sinn für die eigene soziale Stellung als Gespür dafür, was man ‚sich erlauben’ darf
und was nicht, schließt ein das stillschweigende Akzeptieren der Stellung, einen Sinn für
Grenzen. (Bourdieu 1985: 17f.)
Aber innerhalb dieser Grenzen ist der Habitus durchaus erfinderisch, sind seine
Reaktionen keineswegs immer schon im voraus bekannt (vgl. Bourdieu 1992: 33).
Daraus ergeben sich zwei fruchtbare Überlegungen für die eigene Untersuchung:
zum einen lässt sich betrachten, dass nicht alle inhaftierten jungen Männer in der
gewaltförmig strukturierten Institution auf gewalttätige Strategien zurückgreifen.
Zum anderen wird aber auch deutlich, dass die Interaktionen der inhaftierten jungen
Männer untereinander für sie selbst nicht immer einschätzbar und vorhersehbar sind.
Für die Betrachtung von Gewalt im Gefängnis ist ein weiterer Gedanke Bourdieus
von zentraler Bedeutung: Im Gegensatz zum Rollenkonzept stellt das Habituskonzept eine Abkehr der Vorstellung vom sozialen Handeln dar, die dieses als Resultat
bewusster Entscheidungen bzw. als das Befolgen von Regeln begreift. Nach Bourdieu lässt sich soziales Handeln
nur zum geringsten Teil als bewusst kalkulierendes und in diesem Sinne >rationales< Handeln
beschreiben (...). Vielmehr ist soziales Handeln weitgehend spontan, es folgt einer sozialen
Logik, die intuitiv gewusst wird, die den Individuen so selbstverständlich ist, dass sie nicht
30
darüber nachdenken, ja nicht einmal darüber nachdenken können (vgl. Krais & Gebauer 2002:
80, Herv. im Orig.).27
Für die vorliegende Arbeit heißt das, Gewalt nicht nur als rationales und intentionales Handeln zu begreifen (vgl. Sutterlüty 2004; Neuber 2008), sondern die unbewussten Momente darin aufzuspüren. Dabei ist Bourdieus Verständnis des Unbewussten jedoch ein anderes, als das der vorliegenden Arbeit, in der von einem dynamisch Unbewussten in Anlehnung an die Psychoanalyse ausgegangen wird. Vera
Saller (2002) schlägt vor, zwischen einem habituell Unbewussten (gewohnheitsmä-
ßig bekannt und momentan nicht bewusst) und einem dynamisch Unbewussten
(konflikthafte Inhalte und Affekte werden aus dem Bewusstsein ferngehalten) zu
unterscheiden.
Bei der Beschäftigung mit dem eigensinnigen Handeln der Akteure unter Bezugnahme auf Bourdieus Gedanken der aktiven Auseinandersetzung mit der Welt und
der Verinnerlichung von Strukturen, lässt sich folgende Frage aufwerfen: Wie stellt
sich Bourdieu diese Verinnerlichung von Strukturen und die Aneignung der Welt
vor? Den größten Aufschluss darüber scheint sein Sozialisationsmodell zu liefern.
Bourdieu unterscheidet drei Formen der Sozialisation: 1. Lernen durch schlichte
Gewöhnung, 2. Lernen durch Unterweisung und 3. zusätzlich zu diesen Formen
„sieht jede Gesellschaft Strukturübungen vor, mit denen diese oder jene Form praktischer Meisterschaft übertragen werden dürfte“ (Bourdieu 1993: 138, zitiert nach
Meuser 2005: 320). Meuser & Scholz betonen mit Bezug auf Männlichkeit, dass
Männer sich in diesen Strukturübungen „die ernsten Spiele des Wettbewerbs“28
(Bourdieu 1997: 203) aneignen und sie darüber hinaus zu lieben lernen (Meuser &
Scholz 2005: 222). Pointiert würde dies bedeuten, dass die Aneignung der Welt für
Männer in erster Linie eine homosoziale ist, da Frauen von den ernsten Spielen des
Wettbewerbs ausgeschlossen sind. Darüber hinaus ist dies eine soziologische Perspektive auf Adoleszenz, die sehr funktional ist und somit in einem auffallenden
Gegensatz zur psychosozialen Dynamik dieser Entwicklungsphase steht (Erdheim
1982, 1988, 1991; King 2004).29
Erst in einem späteren Aufsatz (2000), in dem er die Vater-Sohn-Beziehung thematisiert, spricht Bourdieu aus soziologischer Perspektive über die Identifikation des
Sohns mit dem Vater und über den Ablösungsprozess des Sohnes vom Vater als
27 Bourdieus Überlegungen weisen an dieser Stelle eine große Nähe zu den latenten Sinnstrukturen und dem tacit knowledge in der Methodologie der objektiven Hermeneutik nach Oevermann auf. Bourdieus Konzept des Unbewussten und der „intuitiv gewussten Regeln“ ist
im Sinne des Latenzbegriffs der objektiven Hermeneutik zu verstehen (vgl. Kap.II.7.2).
28 Auf die Bedeutung der „ernsten Spiele des Wettbewerbs“ wird weiter hinten noch ausführlicher eingegangen.
29 Vera King (2004) bringt mit ihrem theoretischen Ansatz des „psychosozialen Möglichkeitsraums“ einen fruchtbares Konzept von Adoleszenz in die soziologische Debatte ein. Dabei
geht sie von einem dialektischen Spannungsverhältnis von Individuation und Generativität
aus. Sie richtet den Blick auf die Bedeutung der Adoleszenz für die Entstehung des Neuen,
sowohl hinsichtlich der familiären Bindungen und subjektiven Lebensentwürfe, als auch hinsichtlich des kulturellen Wandels in einer Gesellschaft.
31
„Mission (...), die ihn zu zerreißen droht.“ (Bourdieu 2000: 83) Widersprüchliche
Erfahrungen neigen dazu, einen „zerrissenen, in sich gespaltenen Habitus hervorzubringen, der sich in ständiger Negation seiner selbst und seiner eigenen Ambivalenzen befindet“ (Bourdieu 2000: 88).30 Er verortet diese Widersprüche und Ambivalenzen jedoch theoretisch nicht in einem psychoanalytisch orientierten Konfliktmodell im Subjekt, sondern für Bourdieu ergibt sich daraus, einer Vielfalt von
Identitäten ausgeliefert zu sein. Er erklärt das Verhältnis seines Begriffs von Subjektivität und dem der Psychoanalyse als ungeklärt und grenzt die Soziologie von der
Psychoanalyse ab:
Eine echte Soziogenese der konstitutiven Dispositionen des Habitus müsste versuchen zu begreifen, wie die gesellschaftliche Ordnung psychologische Prozesse abfängt, kanalisiert und
verstärkt oder ihnen entgegenwirkt, je nachdem, ob zwischen den beiden Logiken Homologie,
Redundanz und Verstärkung herrscht oder im Gegenteil Widerspruch und Spannung. Selbstverständlich sind mentale Strukturen nicht einfach ein Spiegelbild gesellschaftlicher Strukturen. (Bourdieu 2000: 90)
In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Strukturen und dem Subjekt immer ein spannungsreiches
und widersprüchliches ist.
Das Konflikthafte steht bei der Betrachtung des subjektiven Sinns von Gewalt vor
dem Hintergrund der gewaltförmigen Struktur der Institution im Zentrum der Analyse der vorliegenden Arbeit. Es wird in Übereinstimmung mit Bourdieu davon ausgegangen, dass sich die gesellschaftlichen Strukturen nicht ungebrochen im Handeln
der Subjekte niederschlagen. Um diese Brüche jedoch angemessen erfassen zu können, wird Gewalt aus einer psychodynamischen Konfliktperspektive betrachtet, auf
die später noch ausführlicher eingegangen wird. Während Bourdieu die Konflikte
als „Sprengsätze im Habitus“ (vgl. Krais & Gebauer 2002: 72) sieht, sind aus der
eigenen Forschungsperspektive Subjekte grundsätzlich konflikthafte Wesen. Für die
vorliegende Arbeit bedeutet dies, Bourdieus Habituskonzept als Brücke zwischen
(gesellschaftlicher) Struktur und (subjektiver) Handlung zu erweitern und die Konflikthaftigkeit der Aneignung der Welt zu berücksichtigen.
Bisher ist die Betrachtung der Inhaftiertengemeinschaft ohne expliziten Bezug zur
Kategorie Geschlecht erfolgt. Da die Inhaftiertengruppe eine homosoziale Gemeinschaft ist und die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit die Frage nach dem
Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt ist, wird nun eine geschlechtsbezogene Perspektive auf die Bedeutung von Gewalt im Gefängnis eingenommen.
Ebenso wie die Ansätze von Bourdieu und Sykes sind auch die Debatten der Geschlechterforschung von grundsätzlich soziologischen Fragen zum Verhältnis von
Struktur und Handeln bestimmt. Im Folgenden werden einige ausgewählte Ansätze
mit unterschiedlicher Reichweite diskutiert. Zunächst wird ein kurzer geschlechtsbezogener Blick auf die Theorien von Sykes und Bourdieu geworfen, um in einem
30 In seiner letzten Vorlesung am Collège de France spricht Bourdieu über das Konflikthafte im
Habitus, indem er sich selbst als Beispiel für das Zerrissene, Konflikthafte, Widersprüchliche
im Habitus des modernen Individuums schildert (vgl. Krais & Gebauer 2002: 72).
32
nächsten Schritt den Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt mit Bezug auf
Ansätze der Männlichkeitsforschung zu beleuchten.
3. Strukturübungen und Hegemoniekämpfe? – der Zusammenhang von
Männlichkeit und Gewalt
Sykes hat in seiner Studie zur Society of Captives Geschlecht nicht als grundlegende
Kategorie mitgedacht. Allerdings verweist er auf das System der Zweigeschlechtlichkeit außerhalb der Gefängnismauern und den homosozialen Raum der Inhaftiertengemeinschaft:
The inmate is shut off from the world of women which by its very polarity gives the male
world much of his meaning. Like most men, the inmate must search for his identity not simply
within himself but also in the picture of himself which he finds refelcted in the eyes of others;
and since a significant half of his audience is denied him, the inmate’s self image is in danger
of becoming half complete, fractured, a monochrome without the hues of reality. (Sykes
1956/1999: 72)
Sykes betont in diesem Zitat die Relationalität der Kategorie Geschlecht: Männlichkeit wird in Abgrenzung zu Weiblichkeit hergestellt. Ein Gedanke, der sich auch
vierzig Jahre später in Ansätzen der Frauen- und Männerforschung wiederfindet. So
argumentiert beispielsweise die australische Soziologin Raewyn Connell31 (1999)
mit den Konzepten der „hegemonialen Männlichkeit“ und „betonten Weiblichkeit“,
die in Relation zu einander stehen. Ein Anknüpfungspunkt existiert auch zu den
Überlegungen von Bourdieu, dass Frauen von den „ernsten Spielen des Wettbewerbs“ der Männer ausgeschlossen sind. Ihnen kommt die Rolle von Zuschauerinnen und mit Bezug zu Virginia Woolf von „schmeichelnden Spiegeln“ zu, „die dem
Mann das vergrößerte Bild seiner selbst zurückwerfen, dem er sich angleichen soll
und will; womit sie seine narzisstische Besetzung eines idealisierten Bildes seiner
Identität verstärken“ (Bourdieu 1997: 2003). Damit verweist sowohl Sykes, der das
Fehlen der Spiegel als Gefahr für das Selbstbild der Männer beschreibt, als auch
Bourdieu auf die Rolle der Frauen als Quelle der Anerkennung für Männer.32 Zudem
weist Sykes Gedanke des „pictures of himself which he finds reflected in the eyes of
others“ Ähnlichkeiten zur Tradition des symbolischen Interaktionismus auf, der von
einer interaktiven und intersubjektiven Konstruktion der sozialen Welt ausgeht (vgl.
Scholz 2004: 23). An diese Perspektive knüpft die Konzeption von Geschlecht an,
die als doing gender gefasst wird (West & Zimmerman 1987; Gildemeister & Wetterer 1992/1995). Gegen diese interaktionstheoretische Lesart spricht jedoch Sykes
Bezug auf die Rollentheorie. Handeln im Sinn der Inszenierung einer Rolle wird in
31 Die Publikationen, auf die sich im Text bezogen wird, hat die australische Soziologin als
Robert W. Connell veröffentlicht.
32 Bourdieu verweist allerdings auch auf die Wichtigkeit und positive Bedeutung des homosozialen Raums für Männer, wobei er sich nicht auf die homosoziale Zwangsgemeinschaft der
Inhaftierten bezieht.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Zwischen Männlichkeit und Gewalt wird sowohl in den kollektiven Deutungsmustern junger Männer als auch in vielen wissenschaftlichen Ansätzen der Jugendgewalt- und Männlichkeitsforschung ein direkter Zusammenhang vorausgesetzt.
In der vorliegenden Studie werden kollektive Deutungsmuster von Gewalt in Beziehung gesetzt zu der subjektiven Bedeutung von Gewalt im Kontext biographischer Konflikterfahrungen. Unterliegt Gewalt einem biographischen Eigensinn? Dieser Frage wird anhand fünf biographischer Fallinterpretationen auf Basis qualitativer Längsschnittinterviews mit inhaftierten jungen Männern nachgegegangen.
Das Verhältnis von Gewalt und Geschlecht wird aus einer soziologischen und sozialpsychologischen Perspektive untersucht. Dabei rücken die Opfer-Täter-Ambivalenzen von Gewalthandeln in den Blick. Es zeigt sich eine enge Verbindung zwischen der Bedeutung von Gewalt und den biographischen Konflikterfahrungen junger Männer: Gewalt steht in enger Beziehung zu ihren Autonomiekonflikten und ein komplexes und vielschichtiges Verhältnis zwischen Autonomie, Geschlecht und Gewalt wird sichtbar.