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Schlussbetrachtung
Über den Widerstand der Frauen gegen die Nationalsozialisten in den Lagern, Gefängnissen, im Untergrund oder vom Ausland aus wird gesagt, dass er nie „typisch
Frau“ gewesen sei. Die Frauen wie die Männer seien ihrem Gewissen gefolgt, um
gemeinsam den Nationalsozialismus zu bekämpfen1075. Im Gegenzug kann man
aufgrund der Ergebnisse dieser Arbeit sagen, dass die Frauen, die im NS-Regime die
Gelegenheit bekamen, Grausamkeiten zu verüben, dies ebenso wie männliche Täter
taten. Es gab also keine geschlechtsspezifischen Besonderheiten, welche eine spezifisch weibliche Täterschaft im NS-System von der männlichen unterschied. Ein
geschlechtsspezifischer Unterschied bei der Erklärung der nationalsozialistischen
Taten ist nicht gegeben: Nicht das Geschlecht bestimmte über die Täterschaft, sondern die Gelegenheiten und die Umstände, in welchen sich die Täter befanden. Dieses Ergebnis ist in seinen Auswirkungen in der Gegenwart von besonderer Bedeutung, denn es wäre verfehlt, die Beobachtung der Gewaltanwendung durch Frauen
nur auf den Zeitraum des NS-Regimes zu beschränken:
Zum einen werden im Zuge der Entwicklung zur Gleichberechtigung von Mann
und Frau immer mehr Frauen in staatliche Militärorganisationen einbezogen1076. In
nahezu allen europäischen Ländern ist der freiwillige Einsatz von Frauen zugelassen. In den Vereinigten Staaten von Amerika, wo Frauen zu allen militärischen
Dienstposten zugelassen sind und nur von der Kampftruppe mit direktem Einsatz
gegen Bodentruppen und vom Dienst auf U-Booten ausgeschlossen sind, liegt der
Anteil der weiblichen Soldatinnen bei 15%. Keine Beschränkungen beim Einsatz
erfahren Frauen u.a. in Belgien, Norwegen, Österreich, Dänemark, Spanien und
Schweden. In Israel unterliegen Frauen der Wehrpflicht, wobei hier ein eigenes
Frauenkorps besteht. Wie anhand der Entwicklung in der deutschen Bundeswehr
erkennbar, ist zu erwarten, dass sich diese Tendenz weiter fortsetzt.
Zum anderen wurde in den letzten Jahren verstärkt wahrgenommen, dass sich
auch Frauen – sowohl als Zivilistinnen als auch als Soldatinnen – an Menschenrechtsverletzungen beteiligen. Dies geschah nicht nur aufgrund der intensiveren
Verarbeitung der weiblichen Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen,
sondern auch aufgrund aktueller Ereignisse, etwa in Ruanda oder im ehemaligen
Jugoslawien. In Ruanda etwa förderten hochrangige Politikerinnen die Verbrechen
durch Befehle, Anstachelungen, Verbreitung von Propaganda; andere Frauen beteiligten sich direkt an den Tötungen, Misshandlungen und Plünderungen von Toten
1075 So Faerber-Husemann in: Drewitz (Hrsg.), Die deutsche Frauenbewegung, S. 85 (94).
1076 vgl. hierzu: Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Frauen in der Bundeswehr, S. 20 ff.
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und Sterbenden1077. Die UN-Spezialberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen fasste
dies in ihrem Ruanda-Bericht 1998 zusammen:
„The genocide in Rwanda was sadly characterized by (…) the massive involvement of women
as perpetrators of the violence. (…) Not only did women take part in the general violence and
fighting during the conflict, but were also actively involved in committing violence against
other women, including acts of sexual violence. The Special Rapporteur considers this to be a
very disturbing development which should be appropriately dealt with in order to avoid repetition.”1078
Auch bei Terrorakten werden Frauen mittlerweile verstärkt als „new weapon of
choice“1079 eingesetzt. Nach weiblichen Selbstmordattentaten in Israel, Irak, Tschetschenien, Usbekistan, Kaschmir mit islamistischem Hintergrund und im Libanon,
der Türkei, Sri Lanka und Israel aus säkularen Gründen, wird die Bedrohung durch
weibliche Terroristen ernster eingeschätzt1080. Schließlich wird durch die Beteiligung von US-Soldatinnen an Folterungen und Erniedrigungen von Gefangenen im
ehemaligen Militärgefängnis von Abu Ghuraib in Irak deutlich, dass Menschenrechtsverletzungen auch von Frauen begangen werden, deren Herkunft in jenen
Industrieländern liegt, die sich einer demokratischen Verfassung verschrieben haben.
Mit diesen Entwicklungen geht die Erwartung einher, dass immer mehr Frauen
mit nationalem und internationalem (Straf-)Recht konfrontiert werden1081. Dies wird
verschärft durch das Ergebnis dieser Untersuchung, die besagt, dass Frauen, wenn
sie in dieselben Tatsituationen kommen wie Männer, und damit mit denselben Tatgelegenheiten konfrontiert werden, auch ebenso häufig und ebenso grausam Verbrechen begehen wie diese. Ein besonderes Bedürfnis nach intensiver und breiter Erforschung der Handlungs- und Tatmotivation von männlichen und weiblichen Tätern in
makrokriminellem Kontext bleibt bestehen. Diese Forderung muss durch die Tatsache, dass im Jahr 2006 weltweit 46 Kriege und kriegerische Konflikte stattfanden,
noch verschärft werden1082. Die herausgearbeiteten Faktoren, wie Gruppeneinflüsse,
Autoritätshörigkeit, Propaganda, rassische Traditionen, innere Distanz zu außerhalb
der Gruppe stehenden Personen, Wirkungen des arbeitsteiligen Vorgehens, Streben
nach eigenen Vorteilen und Hemmungsabbau und Brutalisierung, beschränken sich
nicht auf die Verbrechen unter dem nationalsozialistischen Regime, sondern erstrecken sich auf fast alle Verbrechen, die unter ähnlichen Voraussetzungen stattfanden
1077 African Rights, Rwanda – Not so innocent. When women become killers,
http://www.africanrights.org/publications/Innocent895.pdf
1078 United Nations (Economic and Social Council), Report of the Special Rapporteur on violence
against women, its causes and consequences. Addendum: Report of the mission to Rwanda
on the issues of violence against women in situations of armed conflict (4.2.1998)
E/CN.4/1998/54/Add.1, V.1.
1079 Dickey in: Newsweek, December 12, 2005, Women of AlQaeda, S. 18 (20).
1080 Dickey in: Newsweek, December 12, 2005, Women of AlQaeda, S. 18 (20 f).
1081 Von völkerrechtlicher Seite wird die Täterschaft von Frauen insoweit ignoriert, als das Genfer
Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen nur auf männliche Gefangene ausgerichtet ist.
1082 AKUF, Pressemitteilung, S. 1.
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und vor allem noch stattfinden. Dieser Themenkreis erhält eine besondere Relevanz
durch die Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland nach den kriegerischen
Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien zahlreiche Ermittlungen wegen
Verdachts des Völkermordes nach § 6 VStGB (§ 220a StGB a.F.) eingeleitet wurden, wobei sogar von einem „neuen Kriminalitätsfeld“ gesprochen wird1083. Die
Verwicklung einer größeren Anzahl von Frauen in solche Verbrechen hat also eine
direkte Auswirkung auf die deutsche Strafverfolgung.
Stark umstritten ist hierbei die Frage, ob solche Verbrechen überhaupt bestraft
werden sollen. Strafverfolgung sei immer selektiv, außerdem sei der Strafzweck bei
makrokriminellen Straftaten zweifelhaft, weil eine Wiederholung der Straftaten bei
Wegfall der die Taten auslösenden gesellschaftlichen Extremzustände unwahrscheinlich sei. Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist aber zwangsläufig, dass
eine strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung völlig ausfallen müsste, was rechtlich und moralisch gerade bei Verbrechen mit dem Ausmaß von Makrokriminalität
schlicht unerträglich wäre. Trotzdem ist immer noch eine „Abstinenz der kriminologischen Forschung zum Thema der ‚Makrokriminalität’“1084 festzustellen. Jäger
konstatiert zu Recht, dass so
„ausgerechnet die in ihrer destruktiven Wirkung besonders gravierenden und gefährlichen
Großformen kollektiver Gewalt aus der kriminologischen Untersuchung ausgeblendet (werden), die den ganz überwiegenden und folgenreichsten Teil menschlichen Aggressionsverhaltens ausmachen: Verbrechen in Zusammenhang mit Kriegen, Völker- und Massenmorden, totalitärer Herrschaft, staatlicher Repression, Minderheitenverfolgung, Kultur- und Religionskonflikten, Guerillakämpfen, revolutionären und gegenrevolutionären Bewegungen, akuten
politischen Massensituationen und anderen kollektiven Ausnahmezuständen“1085.
Kollektive Kriminalität ist ein Mosaik aus unterschiedlichsten oft von persönlichen
Tatantrieben mitgesteuerten verbrecherischen Einzelakten1086. In der Täterpersönlichkeit findet man meist keine Anzeichen, die auf die Verbrechen hindeuten und die
Taten wären auch nie geschehen, hätten nicht bestimmte Rahmenbedingungen, eben
Tatgelegenheiten, vorgelegen, in denen innere Hemmungen durch Neutralisationen
überwunden wurden. Dabei ist klar, dass politische Entscheidungsträger solche
Neutralisierungen gezielt in verschleiernder Absicht einsetzen können, die dann von
den Tätern im Rahmen eines kollektiven, gleichgeschalteten Rechtsbewusstseins in
das eigene Rechtfertigungsrepertoire übernommen werden1087.
Obwohl Geschehnisse wie die Verbrechen unter dem nationalsozialistischen Regime ein Stück weit unerklärt und unerklärlich1088 bleiben, bestehen bezüglich der
Makrokriminalität ätiologische Klärungsbedürfnisse, die bisher von der Kriminologie nicht befriedigend behandelt wurden. Insbesondere die verstärkte Anwendung
von Internationalem Strafrecht verlangt die Erweiterung der Kriminologie auf mak-
1083 Soukup/Kreilinger in: Kriminalistik 2001, S. 477 (477 und 481).
1084 Schneider, H. in: GA 2006, S. 763 (764).
1085 Jäger in: MSchrKrim 1980, S. 358 (358 f).
1086 Jäger in: KJ 1986, S. 143 (145).
1087 Neubacher, Kriminolgische Grundlagen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, S. 252.
1088 Wiesel in: Schoeps (Hrsg.), Ein Volk von Mördern, S. 44 (47).
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rokriminelle Straftaten. Weitere kriminologische Forschung zum Thema der Täterschaft in kollektivem, totalitärem Zusammenhang ist unerlässlich, um Geschehnissen wie den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und anderen Genoziden präventiv entgegentreten zu können. Ein Anspruch, den zumindest demokratische, dem
Rechtsstaatsprinzip verpflichtete Nationen verfolgen sollten.
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References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.