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Kapitel 4: Ergebnis
A. Ergebnis der Anwendung der kriminologischen Theorien zur Erklärung der
Frauenkriminalität
Bei männlichen und weiblichen Tätern wurden dieselben ätiologischen Faktoren
wirksam. Wie soeben festgestellt, kam es auf die Tatsituationen, nicht auf geschlechtsspezifische Unterschiede an. Daher können die Erklärungsversuche für die
NS-Täterschaft des Mannes zur Erklärung dieser Tatsituationen herangezogen werden, da diese bei Frauen und Männern dieselben waren. Die Aufgabe einer geschlechtsspezifischen Differenzierung bei der Erklärung einer Täterschaft in Zusammenhang mit nationalsozialistischen Taten bedeutet gleichzeitig, dass die Täterinnen sich denselben Hemmungen gegenüber sahen wie die männlichen Täter. Sie
handelten zwar in dem Bewusstsein, eine notwendige Aufgabe zu erfüllen. Dennoch
waren auch bei ihnen zum Teil Skrupel und Hemmungen vor der Gewaltanwendung
und Tötungshandlungen vorhanden, die sie ebenso überwinden mussten wie die
männlichen Täter. Wenn solche Skrupel nicht vorhanden waren, ist fraglich, warum
diese Hemmungen von Anfang an ausgeschaltet waren. Antwort auf diese Frage
geben die für die nationalsozialistischen Taten der Männer entwickelten Erklärungsversuche. Diese Ansätze können für die weibliche Täterschaft im NS-System übernommen werden, da eine Unterscheidung zwischen der männlichen und weiblichen
Täterschaft im „Dritten Reich“ nicht vorzunehmen ist.
B. Ergebnis der Anwendung der Erklärungsversuche für die NS-Täterschaft des
Mannes auf die weibliche NS-Täterschaft
Zentrales Merkmal der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war, dass die Taten
meist in abgeschlossenen und isolierten Einheiten begangen wurden. Das gilt insbesondere für die Umgebung der Konzentrationslager, die sich mehrheitlich im Ausland befanden sowie für die am Euthanasieprogramm beteiligten Krankenhäuser und
Pflegeanstalten. Die Tätergruppe war zumeist permanent von der Allgemeinheit
abgeschirmt und bei Begehung der Taten nur von Gleichgesinnten umgeben. Dadurch gab es unzählige kleinere und größere Gruppen von Tätern. Es konnte belegt
werden, dass die Auswirkungen der Gruppendynamik bei den Verbrechen des Nationalsozialismus eine entscheidende Rolle spielten1046. Es ist kaum denkbar, dass die
Gräueltaten auch begangen worden wären, wenn es keine dermaßen starken Gruppenbindungen gegeben hätte. Die Angst vor einer Ausgrenzung innerhalb der sozial
1046 Vgl. Browning, Ganz normale Männer, S. 229.
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References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.