142
„private“ Kontrolle, die gegenüber Frauen stärker wirke als gegenüber Männern,
komme zur „öffentlichen“ strafrechtlichen Kontrolle hinzu, so dass Frauen sich
einer doppelten Überwachung gegenüber sähen974. Aus diesen Gründen würden
Frauen weniger straffällig.
VI. Mehrfaktorenansätze (multiple causation approach)
Aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit des menschlichen Verhaltens und
dessen Ursachen wird immer wieder die Einseitigkeit der kriminologischen Erklärungsversuche bemängelt. Aufgrund der Tatsache, dass es keine einzelne Ursache
des Verbrechens gebe, könnten monokausale Erklärungsversuche immer nur einen
Ausschnitt von Delinquenz erklären und Korrelationen aufdecken, nie allerdings den
tatsächlichen Kausalzusammenhang zwischen einer möglichen Ursache und dem
Begehen einer Straftat feststellen975. Die Mehrfaktorenansätze versuchen, durch
Untersuchungen solche Merkmale und Verhaltensweisen herauszufiltern, die bei
Straftätern überproportional stark vertreten sind976.
Die Kriminalität der Frau wurde unter anderem von dem Ehepaar Glueck erforscht. Diese führten eine empirische Untersuchung mit 500 delinquenten Frauen
durch und analysierten hierbei deren körperliche und persönliche Merkmale, soziokulturelle Faktoren, wie Familienverhältnisse, Kindheit und Jugend, Sexualität und
Ehe, aber auch das Ausmaß des abweichenden Verhaltens. Sie gingen davon aus,
dass diese Faktoren in einer Kombination Kriminalität auslösen würden, wobei sie
annahmen, dass deren kriminogene Wirkung im Einzelnen kaum zu bestimmen
sei977. Das Ergebnis der Untersuchung war, dass ein belastetes emotionales Klima in
der Familie, mangelnde elterliche Überwachung, Weglaufen aus dem Elternhaus,
vorzeitiger Schulabgang, Herumstreunen, mehrfacher Lehrstellen- und Arbeitsplatzwechsel, Kontaktschwäche und häufiger Partnerwechsel bei Straftäterinnen
besonders oft festgestellt wurde978.
VII. Sonstige
Weitere Ansätze, die einen Beitrag zur Erklärung der Kriminalität der Frau leisten
können, sind die Routine Activity Approach und die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung.
974 Heidensohn, Women and Crime, S. 198.
975 Vgl. Bock, M., Kriminologie, S. 94, Rn. 200; Schwind, Kriminologie, S. 146, Rn. 20; Kaiser,
Kriminologie, S. 191 ff, Rn. 1 ff.
976 Bock, M., Kriminologie, S. 94, Rn. 201.
977 Glueck/Glueck, Five Hundred Delinquent Women, S. 64 ff; zusammenfassend: Brökling,
Frauenkriminalität, S. 32 ff.
978 Glueck/Glueck, zitiert nach Brökling, Frauenkriminalität, S. 33.
143
1. Routine Activity Approach
Der Routine Activity Approach oder die „Routine-Aktivitäts-Theorie“ geht ebenfalls
von einer Diskrepanz sozialer Organisation und einer engen Verflechtung von Struktur und Häufigkeit legalen Handelns und dem Vorkommen strafbaren Verhaltens
aus979. Auch hier wird weniger nach den Charakteristika des Täters gefragt als nach
den Situationen, in denen Verbrechen begangen werden. Strafrechtlich relevantes
Verhalten soll nach diesem Ansatz dann entstehen, wenn drei Voraussetzungen
erfüllt sind: Die Anwesenheit eines geeigneten Täters (likely offender), das Vorhandensein eines passenden Zieles für die Tat (suitable target) sowie die Abwesenheit
von Schutzmechanismen (absence of capable guardians)980. Ein potentieller Täter
habe verschiedene Gründe, eine Tat zu begehen. Diese könnten in dem Gewinn aus
der Tat liegen, etwa um eine Drogensucht zu finanzieren, in Armut oder Gier, in
Gruppenzwang, Neid, Aufsässigkeit, dem Familienhintergrund, Frustration, Vorurteilen, psychischer Krankheit oder ähnlichem. Ein geeignetes Ziel könne in einer
Person, also einem Opfer, einer Sache oder einem Ort bestehen. Das Ziel müsse zum
einen einen gewissen Wert für den Täter haben, etwa einen materiellen Wert oder
auch nur die Befriedigung aus der Zerstörung einer Sache oder an einer Verletzung
des Opfers. Bei Eigentumsdelikten spiele außerdem die Masse und damit die Transportierbarkeit eine Rolle sowie die Sichtbarkeit des Objekts. Ferner sei entscheidend, wie leicht oder schwer zugänglich das Tatobjekt sei. Ein Schutzmechanismus
sei jede Person oder Vorkehrung, die den Zugriff auf das Ziel erschwere, also etwa
eine Videoüberwachung, eine Polizeistreife, ein Schloss oder eine helle Beleuchtung. Sei ein geeignetes Ziel für die Tat gegeben und keine Schutzmechanismen am
Tatort vorhanden und erkenne ein potentieller Täter diese beiden Faktoren, sei die
Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ein Verbrechen begangen werde. Ähnlich dem
Lebensstil-Konzept981 betont die Routine Activity Theory den Zusammenhang zwischen Delinquenz und Alltagstätigkeiten, d.h. die Zeit, die zu Hause verbracht wird,
bei der Arbeit oder bei anderen Aktivitäten außer Haus982. Es werden demnach die
situativen Bedingungen für die Entstehung von Straftaten betont983. Dadurch, dass
Frauen ihre Routineaktivitäten häufig im häuslichen Bereich verrichteten, würden
sie auch weniger mit Situationen konfrontiert, in denen kriminalitätsfördernde Faktoren gegeben seien, so dass ihr Anteil an der Gesamtkriminalität geringer sei.
979 Eisenberg, Kriminologie, S. 68.
980 Vgl. Felson/Clarke, Opportunity makes the Thief, S. 4; Cohen/Felson in: ASR 1979, S. 588
(588); zusammenfassend: Volt/Bernard/Snipes, Theoretical Criminology, S. 206; Siegel, Criminology, S. 135; Hagan, Introduction to Criminology, S. 145.
981 Vgl. hierzu Bock, M., Kriminologie, S. 135; Schwind, Kriminologie, S. 148 f; Eisenberg,
Kriminologie, S. 241 f.
982 Cohen/Felson in: ASR 1979, S. 588 (608); Felson/Clarke, Opportunity Makes the Thief, S.
16; Volt/Bernard/Snipes, Theoretical Criminology, S. 206.
983 Dölling/Hermann in: Heidelberger Jahrbücher, S.168.
144
2. Die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung984
Bei der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung wurden für eine Häftlingsstichprobe 200 männliche Strafgefangene zwischen 20 und 30 Jahren ausgewählt, die in
der Vollzugsanstalt Rottenburg mit einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten einsaßen985. Es wurde ferner eine Vergleichgruppe aus 200 nicht inhaftierten
Männern derselben Altersgruppe gebildet. Die Besonderheit bei der Untersuchung
war, dass die Vergleichsgruppe nicht aus nicht straffälligen Männern bestand, sondern dass diese Männer einen zufälligen Querschnitt der Bevölkerung desselben
Raumes darstellten986. Unter ihnen war ein Prozentsatz von 23,5 % vorbestraft987.
Bei der Untersuchung lag der Schwerpunkt der Erhebung auf der Erfassung der
verschiedenen Bereiche der Probanden und deren sozialen Umfelds, ohne dass die
Erhebungsbereiche in einem vorher ausgearbeiteten Erhebungsbogen genau festgelegt waren988. Die Erhebungsmethoden umfassten Befragungen, Drittbefragungen,
Ortsuntersuchungen, Aktenanalysen, psychiatrische Explorationen, psychologische
Tests und medizinische Untersuchungen989. So entstanden 400 komplette Einzelfalldarstellungen. Bei deren Auswertung wurde zum einen durch die Ordnung der
Merkmalsausprägung eine Häufigkeitsverteilung der Merkmale von Häftlings-
Probanden und der Vergleichsgruppe erstellt990. Zum anderen orientierte man sich
an dem methodischen Vorgehen der Geistes- und Kulturwissenschaften und bildete
relationale Kriterien und Idealtypen, die die Unterschiede des Lebensstils und Sozialverhaltens der Häftlings-Probanden im Gegensatz zur Vergleichsgruppe herausstellten991. Eine Besonderheit der Ergebnisse war, dass bezüglich der Person des
Täters kaum Unterschiede zwischen den beiden Gruppen festgestellt werden konnten. Anders war dies jedoch im gesamten Sozialbereich, d.h. bei der Beurteilung der
Herkunftsfamilie, des Aufenthalts-, Leistungs-, Freizeit- und Kontaktbereiches. Hier
984 Zur Rezeption der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung: Schneider, H., Grundlagen
der Kriminalprognose, S. 104 ff; zur Kritik: Schneider, H., Grundlagen der Kriminalprognose, S. 116 ff.
985 Vgl. zur Anlage der Untersuchung Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen, S. 4 ff;
Bock, M., Kriminologie, S. 148 ff; Göppinger, Kriminologie, S. 257 ff; Bock, M. Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 106 ff.
986 Zu der spezifischen „Andersartigkeit“ der Untersuchung und des Prognoseverfahrens Göppingers: Schneider, H. , Grundlagen der Kriminalprognose, S. 80 ff.
987 Göppinger, Kriminologie, S.257 f.
988 Göppinger, Kriminologie, S. 257 f.
989 Zur Durchführung der Untersuchungen und Erhebungen im Einzelnen, vgl. Göppinger, Der
Täter in seinen sozialen Bezügen, S. 13 ff; Göppinger, Kriminologie, S. 257 f.
990 Schneider, H., Grundlagen der Kriminalprognose, S. 83 ff; Bock, M., Kriminologie, S. 149;
zur Auswertung der Erhebungen im Einzelnen, vgl. Göppinger, Der Täter in seinen sozialen
Bezügen, S. 18 ff.
991 Bock, M., Kriminologie, S. 149; zur idealtypischen Begriffsbildung, vgl. Göppinger, Der
Täter in seinen sozialen Bezügen, S. 181 ff; Schneider, H., Grundlagen der Kriminalprognose, S. 87 ff.
145
unterschieden sich die Häftlings-Probanden von der Vergleichsgruppe992. Aus der
Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung wurde die Methode der idealtypisch
vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) entwickelt993, die auf Basis dieser Erkenntnisse so genannte Idealtypen erstellte994. Durch die Einteilung in Idealtypen
wurden Bilder von Lebensverläufen im Ganzen erstellt, die als Grenzfälle der Erwartbarkeit von Straffälligkeit konstruiert wurden995. Sie zeigen die Stellung der Tat
im Lebenslängsschnitt. Die Typologie wird nicht als abschließend verstanden, vielmehr können die Kategorien ineinander übergehen oder nacheinander auftreten, so
dass „im Idealtypus (...) die wesentlichen Züge des Geschehens gewissermaßen zur
reinen, idealen Form gesteigert (sind und) er in der Wirklichkeit allenfalls als Grenzfall vorkommt“996. Die Einteilung wurde vorgenommen in die Grundformen der
„Kontinuierlichen Hinentwicklung zur Kriminalität mit Beginn in der frühen Jugend“, der „Hinentwicklung zur Kriminalität im Heranwachsenden- bzw. Erwachsenenalter“, der „Kriminalität bei sonstiger sozialer Unauffälligkeit“ und des „Kriminellen Übersprungs“997. Mit Hilfe der Erkenntnisse der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung können durch die Auswertung der kriminologischen
Exploration des Probanden und der Auswertung der Akten und Erhebungen im sozialen Umfeld zunächst eine umfassende Beurteilung des Verhaltens des Täters vorgenommen werden998. Anschließend findet eine Analyse dieser Erhebungen statt, bei
der besonderes Augenmerk auf die oben genannten Bereiche der Herkunftsfamilie,
Aufenthalt, Leistung, Freizeit und Kontakt gerichtet wird. Dies geschieht im Lebenslängsschnitt, also von der Kindheit bis zum Zeitpunkt der Erhebung999. Das
konkrete Verhalten des Probanden wird verglichen mit den oben genannten Idealtypen. Der Lebensquerschnitt, d.h. der kurze Zeitpunkt vor der letzten Straftat, wird
auf das Vorliegen besonderer kriminovalenter und kriminoresistenter Merkmale
untersucht1000. Einbezogen werden ferner die Relevanzbezüge und die Wertorientierung des Probanden1001. Relevanzbezüge sind diejenigen personellen, sachlichen und
örtlichen Beziehungen, die für einen bestimmten Menschen im alltäglichen Leben
besonders bedeutsam sind, die er am meisten pflegt, die er als letztes vernachlässigt
992 Vgl. hierzu im Detail insbesondere Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen, S. 29
ff; Göppinger, Kriminologie, S. 259 ff; Bock, M., Kriminologie, S. 150 ff; Bock, M., Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 107.
993 Zur Umsetzung der Erkenntnis der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung zu einem in
der Praxis handhabbaren Prognoseverfahren: Schneider, H., Grundlagen der Kriminalprognose, S. 96.
994 Zu Missverständnissen in der Rezeption dieser Untersuchung, vgl. Bock, M. in: FS Göppinger, S. 15 (15 ff).
995 Bock, M., Kriminologie, S. 163.
996 Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen, S. 183.
997 Vgl. Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen, S. 225 ff; Göppinger, Kriminologie,
S. 300; Bock, M., Kriminologie, S. 163 ff.
998 Bock, M., Kriminologie, S. 185.
999 Schneider, H., Grundlagen der Kriminalprognose, S. 92.
1000 Vgl. Schneider, H., Grundlagen der Kriminalprognose, S. 91.
1001 Bock, M., Kriminologie, S. 185.
146
und die er sich unter allen Umständen zu erhalten oder zu verschaffen versucht1002.
Die Wertorientierung bildet das Fundament oder zumindest den bestimmenden Hintergrund für die selbstverständlichen täglichen Entscheidungen und unterbewussten
Verhaltensweisen eines Menschen1003. In einem zweiten Schritt wird die Straftat des
Täters in Bezug gesetzt zu seinem sonstigen Sozialverhalten1004. Dadurch kann eine
Aussage darüber gewonnen werden, in welchem Zusammenhang die konkrete Tat
mit dem sonstigen Sozialverhalten des Täters steht1005. Die Methode wird angewandt, um die kriminologisch relevanten Stärken und Schwächen eines Täters – egal
ob männlich oder weiblich1006 – zu erkennen und etwa vollzugliche Maßnahmen auf
diese abzustimmen1007. Ferner wird hierdurch eine erfahrungswissenschaftlich abgesicherte und differenzierte Prognose künftigen Legalverhaltens ermöglicht1008.
D. Bedeutung der Theorien zur Frauenkriminalität für die Täterschaft der Frau im
nationalsozialistischen System
Nachdem die kriminologischen Theorien, die versuchen, die Ursachen für die Unterschiede zwischen Frauen- und Männerkriminalität zu finden, dargestellt wurden,
stellt sich die Frage, inwieweit diese Theorien für die Erklärung der weiblichen
Täterschaft im NS-System bedeutsam sind. Zu untersuchen ist also, ob die Erklärungsversuche zur Kriminalität der Frau im Allgemeinen für die Taten von Frauen
im „Dritten Reich“ Erklärungspotential haben.
I. Kontrolltheorien (Halt- und Bindungstheorien)
Nach diesen Theorien geht man davon aus, dass Menschen kriminell werden, wenn
die familiären und andere soziale Bindungen nicht intakt sind. Fehlen diese Bindungen, würde kein günstiges Selbstbild und innerer Halt, d.h. Selbstkontrolle entwickelt, die Abwehrkraft gegenüber Kriminalität bedeute. Hinzu komme der äußere
Halt, der sich durch soziale Einbettung entwickele. Vertreter der Kontrolltheorien
erklären die Unterschiede in der Kriminalität mit der stärkeren weiblichen Selbstkontrolle, die durch strengere Beaufsichtigung durch die Eltern, die Schule und
andere Institutionen entstehe. Nach Tittle neigen Personen mit Kontrollüberschuss,
also einem hohen Maß an Kontrollfähigkeit bei Fehlen von Kontrollunterworfenheit,
dazu, die als selbstverständlich erlebte Machtfülle auszunutzen. Hiernach erleben
1002 Göppinger, Kriminologie, S. 294.
1003 Göppinger, Kriminologie, S. 297.
1004 Bock, M., Kriminologie, S. 185.
1005 Bock, M., Kriminologie, S. 185.
1006 Bock, M., Kriminologie, S. 229.
1007 Vgl. Bock, M., http://www.mivea.de/set-profil.htm
1008 Bock, M., http://www.mivea.de/set-profil.htm
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.