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IV. Soziologische / Strukturell-funktionale Theorien
Die soziologische Wissenschaft erachtet das Verhalten von Menschen und damit
auch die Kriminalität als Produkt der Sozialstruktur. Soziologische oder strukturellfunktionale Theorien führen das Entstehen von Devianz nicht auf Ursachen in der
Einzelperson zurück, sondern auf die herrschenden makrosozialen Strukturen, d.h.
gesellschaftliche Missstände. Dazu gehören etwa anomische gesellschaftliche Zustände, kulturelle bzw. subkulturelle Problematiken sowie gewisse ökologische
Bedingungen. Hierzu werden insbesondere Gruppen- und Massenuntersuchungen
durchgeführt891, um die sozialen Bedingungen zu analysieren, unter denen Menschen straffällig werden. Für die Kriminalität der Frau bedeutet dies, dass nach dem
Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Position der Frau und ihrer Kriminalität gesucht werden muss.
1. Anomietheorie
Durkheim ging bereits 1895 davon aus, dass das Verbrechen als pathologisches
Verhalten mit den Gesamtbedingungen des Kollektivlebens eng verknüpft ist892. Für
ihn hat der Mensch eine grenzenlose Bedürfnisstruktur (anthropologische Annahme), die durch die Gesellschaft und deren Normen beschränkt werde, d.h. durch
Sozialisation und soziale Kontrolle. Dadurch werde gleichzeitig ein sogenanntes
Kollektivbewusstsein und eine Solidarität der Mitglieder der Gesellschaft ausgebildet (sozialpsychologische Annahme)893. Dieses Kollektivbewusstsein und die Solidarität seien Änderungen unterworfen, etwa durch die ständig fortschreitende Arbeitsteilung, die eine größere Individualität fördere und das Kollektivbewusstsein
verringere (universalgeschichtliche Annahme)894. Durch diesen Prozess entstehe
Anomie, die zu einer für die jeweilige Gesellschaft spezifischen Kriminalität als
Kehrseite jeder sozialen Regelung führe895. Merton hingegen ging davon aus, dass
sowohl in der Gesellschaft bestimmte Zielsetzungen „erstrebenswerter Dinge“ kulturell festgelegt seien, als auch die erlaubten Wege zum Erreichen dieser Ziele durch
die kulturelle Struktur bestimmt, reguliert und kontrolliert würden896. Abweichendes
Verhalten ist demnach „Symptom für das Auseinanderklaffen von kulturell vorgegebenen Zielen und sozial strukturierten Wegen, auf denen diese Ziele zu erreichen
891 Schwind, Kriminologie, S. 126, Rn.2.
892 Durkheim in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 3 (3); vgl. auch Volt/Bernard/
Snipes, Theoretical Criminology, S. 103 ff.
893 Bock, M., Kriminologie (2. Aufl.), S. 77.
894 Bock, M., Kriminologie (2. Aufl.), S. 77.
895 Schwind, Kriminologie, S. 133, Rn. 4; Volt/Bernard/Snipes, Theoretical Criminology,
S. 107 ff.
896 Merton in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 283 (286 f); Volt/Bernard/Snipes,
Theoretical Criminology, S. 135 ff; Hagan, Introduction to Criminology, S. 138.
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sind“897. Anomie sei der Zusammenbruch der kulturellen Struktur, der erfolge, wo
eine scharfe Diskrepanz zwischen kulturellen Normen und Zielen einerseits und den
sozial strukturierten Möglichkeiten, in Übereinstimmung hiermit zu handeln, andererseits, bestehe898. Dieser Druck liege am stärksten auf den unteren Gesellschaftsschichten, da hier ein niedrigeres Bildungsniveau und ein geringerer finanzieller
Rückhalt vorherrschten899. Wo anomischer Druck bestehe, passten sich die Mitglieder der Gesellschaft nach Merton durch Konformität, Innovation, also das Erreichen
von kulturellen Zielen mit illegitimen Mitteln900, Ritualismus, Apathie bzw. Rückzug und Rebellion an diesen an901. Weitergeführt wurde die Theorie dahingehend,
dass auch illegitime Mittel nicht für alle Menschen gleich zugänglich seien, sondern
dass es auch hier Unterschiede in der Verfügbarkeit gebe902. Kriminelles Verhalten
entstehe also dort, wo einer Person beim Anstreben ihrer Ziele Hindernisse im Weg
stehen und ihr damit legitime Wege, diese Hindernisse zu überwinden, verschlossen
seien, illegitime Mittel hingegen zur Verfügung stehen. Dabei spielt das Erlernen
von kriminellen Verhaltensweisen im Sinne des lerntheoretischen Ansatzes, das in
ärmeren Gebieten und bei Kulturkonfliktproblematik verstärkt möglich ist, eine
entscheidende Rolle903.
Wendet man die Theorie Clowards/Ohlins zur Erklärung der Frauenkriminalität
an, ergibt sich, dass nach den unterschiedlichen Rollenerwartungen an Mann und
Frau auch unterschiedliche, geschlechtsspezifische Erfolgsziele angestrebt werden.
Männer orientieren sich mehr an „status goals“ wie Macht, Prestige, Wohlstand,
wohingegen Frauen „relational goals“ anstrebten904. Von primärer Bedeutung seien
für Frauen damit die Werte und Ziele, die eng mit der traditionellen Frauenrolle
verbunden sind, wie Ehe und Familie, welche grundsätzlich einfacher zu erreichen
seien als Wohlstand und Erfolg905. Die Probleme, die ihnen beim Streben nach ihren
Zielen begegnen sowie die Art ihrer Straftaten906 seien dadurch aber auch unterschiedlich. Bei Frauen seien Probleme sogenannte „relational problems“, also dergestalt, dass sie das Mädchen daran hindern, zwischenmenschliche Beziehungen
897 Merton in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 283 (289).
898 Merton in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 283 (292); Volt/Bernard/Snipes,
Theoretical Criminology, S. 137.
899 Merton in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 283 (296).
900 Zu „Innovation, Verbrechen und Delinquenz“ s. Merton in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 283 (302 ff).
901 Merton in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 283 (293); vgl. auch Siegel, Criminology, S. 201; Hagan, Introduction to Criminology, S. 139; Volt/Bernard/Snipes, Theoretical Criminology, S. 138.
902 „Theorie der differentiellen Gelegenheit”, Cloward/Ohlin, Delinquency and Opportunity, S.
144 ff; Cloward in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 314 (320); vgl. zusammenfassend: Hagan, Introduction to Criminology, S. 141 f.
903 Cloward in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 314 (324 ff).
904 Morris in: SF 1964, S. 82 (82).
905 Franke, Frauen und Kriminalität, S. 96.
906 Grosser (unpublished), zitiert nach Morris in: SF 1964, S. 82 (82).
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aufzubauen und zu erhalten907. Solche Probleme seien insbesondere die Herkunft aus
einem zerbrochenen Elternhaus mit starken familiären Spannungen, mangelnde
physische Attraktivität und ungepflegtes Auftreten908. Ferner wird davon ausgegangen, dass Frauen weniger Zugang zu illegitimen Mitteln hätten als Männer909, was
auch auf das Fehlen einer delinquenten Subkultur oder einer gesellschaftlichen Unterstützung für Mädchen- und Frauenkriminalität zurückzuführen sei910. Aus diesem
Grund sei es wahrscheinlicher, dass ein Junge eher straffällig werde als ein Mädchen911. Ferner wurde, wie bereits im Rahmen des rational choice-Ansatzes angesprochen, festgestellt, dass abweichendes Verhalten von Mädchen in der Gesellschaft intensiver geächtet wird als das von Jungen912. Die stärkere gesellschaftliche
Missbilligung abweichenden Verhaltens und das daraus resultierende größere
Schamgefühl könnten möglicherweise ein signifikanter Grund für die geringere
Delinquenzbelastung von Frauen sein913. Ein kriminelles Verhalten im Sinne der
Innovation bedeute für Frauen also, dass sie nicht nur gegen strafrechtliche Regeln
verstoßen, sondern auch gegen ihre weibliche Geschlechterrolle. So müssten sie eine
„doppelte Hürde“ nehmen, die die Entscheidung für eine kriminelle Tat erschwere914. Ferner wird vertreten, dass die geringere weibliche Kriminalität sich weniger
mit der Reduzierung von illegitimen Mitteln erkläre, als mit deren Verschiebung zu
anderem (nicht kriminellem) abweichenden Verhalten, wie etwa Krankheit, Fehlernährung, Rauschmittelgenuss oder Medikamentenmissbrauch, d.h. zu passivem
Rückzugsverhalten915. Ein solches Verhalten wäre dann gleichzusetzen mit einem
Rückzug der Frau im Sinne der Anomietheorie Mertons. Hagemann ging davon aus,
dass spezifisch weibliche Kriminalität dort entstehe, wo die Frau sich gegen den
Männerstaat und das von Männern geschaffene Recht auflehne916. Spezifisch sei die
Kriminalität, weil sie im Widerstreit mit den von Männern erdachten Gesetzen entstehe und weil die Frau sich der Mittel bediene, die ihrer körperlich und sozial
schwächeren Lage entsprechen917.
907 Morris in: SF 1964, S. 82 (83).
908 Morris in: SF 1964, S. 82 (83); Brökling, Frauenkriminalität, S. 52.
909 Morris in: SF 1964, S. 82 (83).
910 Morris in: BritJCrim 1965, S. 249 (251).
911 Morris in: BritJCrim 1965, S. 249 (251).
912 Heidensohn in: Carlen/Worrall (Hrsg.), Gender, Crime and Justice, S. 16 (19); Morris in:
BritJCrim 1965, S. 249 (254 f).
913 Morris in: BritJCrim 1965, S. 249 (265).
914 Möller, H. in: Möller, H. (Hrsg.), Frauen legen Hand an, S. 11 (17); „double punishment“ vgl.
Heidensohn in: Carlen/Worrall (Hrsg.), Gender, Crime and Justice, S. 16 (20).
915 Brökling, Frauenkriminalität, S. 54.
916 Hagemann in: Elster/Lingemann (Hrsg.), HWK 2 1936, S.1053 f.
917 Hagemann in: Elster/Lingemann (Hrsg.), HWK 2 1936, S.1053 und S. 1057.
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2. Kulturkonflikttheorie und Subkulturtheorie
Die Kulturkonflikttheorie führt Kriminalität von Einwanderern zum einen auf einen
direkten oder unmittelbaren Konflikt der Normen des Einwanderungslandes mit den
Normen des Heimatlandes zurück. Ein Verhalten, das vorher nicht als strafbar geahndet wurde, ist im neuen Kulturkreis plötzlich Straftat. Zum anderen soll Kriminalität mittelbar durch die besonders schwierige Lage ausgelöst werden, in der sich
Fremde oft in Hinsicht auf Sprache, Orientierung, Arbeitslosigkeit und Verlust der
gewohnten Umgebung, Kultur sowie Bezugspersonen befinden. Gleiches soll für
Jugendbanden und eine eigene „Kultur der Unterschicht“ gelten918. Auch innerhalb
einer Kultur gebe es Teil- oder Subkulturen, in der von der allgemeinen Kultur abweichende Normen und Werte gelten, wodurch ein Straftaten begünstigender Konflikt entstehe919. Hierbei wird einerseits von einer gewissermaßen „spiegelbildlichen
Negation von Mittelschichtstandards“920 gesprochen. Die Ablehnung von Normen
und Werten entstehe dadurch, dass die gesamtgesellschaftlich anerkannten Ziele für
die Gruppenmitglieder unerreichbar seien, so dass sich diese in Ersatzgesellschaften
Anerkennung und Befriedigung suchen müssten921. Andererseits soll es eine eigene
kohärente kulturelle Struktur geben, die gerade nicht als die Umkehrung der Mittelschichtstandards angesehen werden kann, sondern sich an Kristallisationspunkten,
wie Härte, geistiger Wendigkeit, Spannung, Risiko und Gefahr, orientiere und eine
eigene Tradition mit einer eigenen Geschlossenheit aufweise922. Hier bestehe eine
gewachsene Unterschichtkultur, die nichts mit der Negierung von Mittelschichtnormen zu tun habe923. Da die herrschenden gesellschaftlichen Normen durch die Mitglieder der delinquenten Subkultur grundsätzlich anerkannt würden, seien so genannte „Neutralisierungstechniken“ als Rechtfertigungsstrategien notwendig, um
mit dem Normbruch fertig zu werden. Solche Rechtfertigungsstrategien bestehen
aus Ablehnung der Verantwortung, Verneinung des Unrechts, Ablehnung des Opfers, Verdammung der Verdammenden und der Berufung auf höhere Instanzen924.
Zum Teil wird davon ausgegangen, dass es keine weibliche deviante Subkultur
gebe925. Zumindest wurde bisher wenig erforscht, wie und in welchem Ausmaß die
weibliche Delinquenz subkulturelle Formen annimmt926. Es wird vertreten, dass der
Status einer Frau vom Status des Mannes abhänge, mit dem sie identifiziert werde927. Vielen Mädchen, insbesondere von niedrigem sozio-ökonomischem Herkom-
918 Miller in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 339 ff.
919 Bock, M., Kriminologie, S. 73, Rn. 154.
920 So etwa Cohen, zitiert nach Bock, M., Kriminologie, S. 74, Rn. 156.
921 Eisenberg, Kriminologie, S. 61.
922 Miller in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 339 (359), vgl. auch zusammenfassend:
Siegel, Criminology, S. 204 f.
923 Göppinger, Kriminologie, S. 149.
924 Bock, M., Kriminologie, S. 76; Göppinger, Kriminologie, S. 150.
925 Morris in: BritJCrim 1965, S. 249 (251).
926 Cohen/Short in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 372 (390).
927 Cohen/Short in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 372 (391).
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men, sei es aber unmöglich, die Aufmerksamkeit angesehener und verantwortungsbewusster Männer auf sich zu ziehen, weswegen sie auf ihren Ruf „keusch zu sein“
verzichteten und sich sexuell anböten, um männliche Gunst und Aufmerksamkeit zu
erringen. Hierdurch käme es zu einer Subkultur, die insbesondere sexuelle Vergehen
jedweder Art einschließe928. Eine weibliche Rauschgiftsüchtigen-Subkultur entstehe,
wenn Mädchen Probleme haben, tragfähige Beziehungen zu Männern aufzubauen,
bei Eintritt einer Isolierung von normaler, lockerer Mädchen-Jungen-Beziehung
sowie wenn Einsamkeit und ein Verlangen nach der Ehe mit einem beständigen
Mann bestehen929. Mädchen würden dann von anderen Mädchen oder Jungen solcher „schnellen Gemeinschaften“ an Rauschgifte herangeführt, müssten ihre Sucht
durch Prostitution finanzieren, was zu einer weiteren Isolierung von der Gesellschaft
führe, nach der sie sich eigentlich zurücksehnten930.
V. Herrschaftskritische Ansätze
Herrschaftskritische Ansätze bezweifeln die Möglichkeit, Wünschbarkeit, Zulässigkeit und Legitimität der Verwissenschaftlichung strafrechtlicher Sozialkontrolle931.
Das Augenmerk wird hier auf Mechanismen zwischen Strafe, Gesellschaft und kriminellem Abweichler sowie auf strukturelle Unterschiede und Spannungen, Interessen- und Klassengegensätze gelenkt. Als herrschaftskritische Ansätze, die sich für
die Erklärung der weiblichen Kriminalität heranziehen lassen, sind der materialistische oder neomarxistische Ansatz sowie der labeling approach zu nennen.
1. Materialistischer oder neomarxistischer Ansatz
Materialistische Kriminalitätstheorien sehen Delinquenz als Folge des Konflikts
unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen, d.h. als Folge des Privilegierungssystems
der kapitalistischen Gesellschaft932. Marx argumentierte, dass Arbeitslosigkeit zu
Demoralisierung führe und diese wiederum zu Kriminalität933. Ferner bewirke die
unterschiedliche Verteilung von Wohlstand eine unterschiedliche Verteilung von
Macht934. Marx empfand Kriminalität als Kampf des isolierten Individuums gegen
die Sozialordnung935. Konsequenz aus diesen Überlegungen war der Umsturz oder
928 Cohen, Kriminelle Jugend, S. 33.
929 Cohen/Short in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 372 (392).
930 Cohen/Short in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 372 (393).
931 Kaiser, Kriminologie, S. 272, Rn. 1.
932 So etwa Brökling, Frauenkriminalität, S. 63; vgl. zusammenfassen Kaiser, Kriminologie, S.
182 f, Rn. 26 ff; Siegel, Criminology, S. 262 ff.
933 Volt/Bernard/Snipes, Theoretical Criminology, S. 252.
934 Volt/Bernard/Snipes, Theoretical Criminology. S. 252.
935 Volt/Bernard/Snipes, Theoretical Criminology, S. 252.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.