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ablehnung zur Akzeptierung von Gewalt und Tötung, da diese einer Untersuchung
weitgehend entzogen sind, kaum nachvollzogen und ergründet werden548.
Ferner sind die besonderen Umstände des Kriegszustandes zu berücksichtigen549.
So wurden etwa die in den Lagern Arbeitenden angehalten, „kriegsmäßig“ zu denken, die Verbrechen in den Vernichtungslagern in soldatische Pflichterfüllung uminterpretiert, der Feindbegriff ausgeweitet und die Ermordeten als Kriegsopfer betrachtet550. Die „Kriegsnotwendigkeit“ führte zu einer Freigabe des Tötens, die sich
beliebig auf Juden, „Zigeuner“, „Geisteskranke“, Polen, politische Gegner ausweiten
ließ551. Wie oben festgestellt, entsteht im Krieg eine polarisierte Welt, in der der
Feind leicht aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen werden kann552. Dies
führte zu einer Distanzierung von den Opfern, die das Töten erleichterte und außerdem die Rechtfertigung des eigenen Handelns erlaubte553. Auch nach Lorenz, dessen
Ergebnisse Jäger auf die nationalsozialistischen Verbrechen überträgt, bewirkte die
künstliche Erzeugung von Verteidigungsreflexen, wie sie insbesondere in einer
Kriegssituation verstärkt vorliegen554, einen Hemmungsabbau bei den Tätern. Ferner
wird die zwischenmenschliche Gewaltanwendung durch Kriege staatlicherseits
gerechtfertigt und damit eine Gewaltrechtfertigung ausgelöst555.
C. Fazit
Im Nationalsozialismus waren bei den Taten zumeist Gruppensituationen mit abgeschlossenem Charakter gegeben, so dass einer der stärksten Einflussfaktoren, die die
Gewalttaten charakterisierten, die Gruppendynamik war. Gruppeneinflüsse wie der
Wunsch, sich konform gegenüber den in der Gruppe herrschenden Werten und
Normen zu verhalten, nicht ausgeschlossen zu werden, die Kameraden nicht im
Stich zu lassen, nicht als „Feigling“ oder „Drückeberger“ dazustehen, hatten einen
entscheidenden Einfluss auf das Verhalten des Einzelnen. Die soziale Distanz zu den
außerhalb dieser Gruppe stehenden Opfern wurde vergrößert. Hierdurch kam es zu
Handlungen, die ohne den Einfluss der Gruppe nicht vollzogen worden wären. Es
wurde beobachtet, dass die Täter später keinen Zugang mehr zu ihrem eigenen früheren Handeln finden und dieses nicht mehr begreifen konnten556. Die meisten waren im Alltag keine Mörder oder Sadisten, so dass die Tat auch den Tätern selbst
persönlichkeitsfremd erschien, da die Handlungsweise innerhalb der Gruppe nicht
zu ihrer individuellen Persönlichkeit außerhalb der Gruppe passte. Ferner waren die
548 Jäger, Makrokriminalität, S. 107.
549 Vgl. auch Möller, C., Völkerstrafrecht und Internationaler Strafgerichtshof, S. 268.
550 Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 373 f.
551 Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 372.
552 Browning, Ganz normale Männer, S. 211.
553 Dower, War without Mercy, S. 11.
554 Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 311.
555 Möller, C., Völkerstrafrecht und Internationaler Strafgerichtshof, S. 269.
556 Schumacher in: NJW 1980, S.1880 (1882).
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Handlungen vom Regime angeordnet, so dass die nationalsozialistischen Straftaten
der Täter in einem Milieu entstanden, das ihre Handlungen deckte, förderte und
forderte. Es herrschte innerhalb der Tätergruppen eine Art Übereinkommen, dass die
Gewaltanwendung unumgänglich ist, so dass durch kollektive Erklärungsstrategien
das eigene Verhalten gerechtfertigt werden konnte. Ein weiterer wichtiger Faktor bei
der Entstehung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war die Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Durch die Einfügung in das hierarchische System des
Nationalsozialismus ordneten sich die Täter der jeweils leitenden Autorität unter,
wodurch wiederum innere Hemmungsfaktoren abgeschwächt und die Kontrolle und
Verantwortung an die Autorität abgetreten wurden. Neutralisierungstechniken als
Rechtfertigung der begangenen Taten boten die rassischen Traditionen und die nationalsozialistische Propaganda, die die Juden und andere Regimegegner längst entmenschlicht hatten. Durch das arbeitsteilige Vorgehen und die Eingebundenheit in
einen bürokratischen Apparat konnten sich die Täter damit entschuldigen, dass sie
nur „kleine, unbedeutende Rädchen im Getriebe“ waren, die die Tötungsmaschinerie
nicht hätten aufhalten können. Dies wirkte als Bestärkung und Rechtfertigung vor
und nach den Taten. Waren die ersten Hemmungen überwunden, spielten Faktoren
wie Karrierestreben und vor allem die Gewöhnung an die Handlungen eine Rolle.
War der Referenzrahmen erst einmal so verschoben, dass die Tötungen und Misshandlungen normal erschienen, wurden sie schnell zu Routine und zu erledigender
Arbeit.
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References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.