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Zustand im „Dritten Reich“ durch den Wiederholungscharakter der Handlung, die
von den Tätern nicht mehr abgebrochen werden konnte, ohne dass sie ihr vorheriges
Handeln als falsch hätten definieren müssen. Für Zimbardo war die entscheidende
Ursache, die aus „normalen“ Menschen Täter machte, die Situation. Faktoren, wie
das Erfüllen-Wollen einer erwarteten Rolle, das Vorhandensein von Autorität, die
Bildung von Gruppen, eine Dehumanisierung der Mitglieder anderer Gruppen und
das Aufstellen von Regeln, die befolgt werden mussten, hätten das grausame Verhalten von Menschen bewirkt, das ohne diese Situation nicht zustande gekommen
wäre. Die Eheleute Mitscherlich erklären die Verbrechen im Holocaust mit Hilfe des
psychoanalytischen Konzepts und konstatieren, dass Hitler vom deutschen Volk als
Objekt an Stelle des Ichs bzw. des Ich-Ideals gesetzt worden sei. Die Einsprüche des
alten Über-Ichs und des Ichs seien nicht mehr gehört oder beachtet worden, weswegen die Täter bereit gewesen seien, für den Führer zu sterben oder zu töten. Ähnlich
wie Browning nimmt Herbert Jäger an, dass Gruppeneinflüsse wie Gruppenkonformität, Gruppendruck und Gehorsam einen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten des Einzelnen gehabt hätten. Die Integration in die Gruppe habe die soziale
Distanz zu den außerhalb der Gruppe stehenden Opfern erhöht. Insbesondere betont
Jäger die Ausbildung einer eigenen internen Normen- und Wertewelt, nach der sich
die Gruppenmitglieder verhalten hätten. Raul Hilberg hingegen unterstreicht, dass
die Besonderheiten der Bürokratisierung des Massenmordes und des arbeitsteiligen
Vorgehens ein Freisprechen von der eigenen Verantwortung bewirkt hätten und so
das Unrechtsbewusstsein eliminiert worden sei. Nach Welzer musste für die ersten
Tötungen die normative Hintergrundannahme vorgelegen haben, dass die Opfer
getötet werden sollten bzw. deren Tötung wünschenswert sei. Im Laufe der Zeit und
nach mehreren Tötungen habe sich dann ein neuer, alternativloser und totaler Referenzrahmen entwickelt. Hierfür seien die sozialen Bindungen, insbesondere das
Bedürfnis nach kollektivem Aufgehobensein in der Gruppe und Verantwortungslosigkeit sowie das praktische Konzept, dass Töten eine Arbeit wie jede andere und als
solche ständig verbesserungsfähig sei, entscheidend gewesen.
B. Ermittelte Faktoren der Täterschaft des Mannes im NS-System
In einer Gesamtschau dieser Ansichten kann man sagen, dass die Faktoren, die nach
den Veröffentlichungen dieser Wissenschaftler entscheidenden Einfluss auf das
Unrechtsbewusstsein der Täter im NS-System hatten, Gruppendruck und Autoritätshörigkeit, rassische Traditionen, Indoktrinierung durch Propaganda, Karrierestreben,
die besonderen Umstände des arbeitsteiligen Vorgehens, die Brutalisierung durch
Krieg und Gewöhnung an die Taten und Hemmungsabbau waren.
Diese Faktoren werden im Folgenden genauer auf ihren Einfluss auf die Täterschaft im NS-System untersucht.
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I. Einfluss des Kollektivs und von Gruppendruck
Fast alle Taten, aber zumindest jene, bei denen sich die Täter ihren Opfern direkt
gegenüber sahen, wurden in Situationen begangen, in denen die Täter zusammen mit
anderen Angehörigen derselben „Gruppe“, das heißt mit anderen KZ-Aufsehern,
Ärzten, und sonstigen Tätern handelten. Die nationalsozialistischen Täter waren
eingebunden in ein Täterkollektiv, das ebenso handelte wie sie oder zumindest
„gleichgesinnt“ war und dieselben gruppenbezogenen nationalsozialistischen Ziele
verfolgte. Es liegt daher nahe, dass massenpsychologische und gruppendynamische
Mechanismen wirksam wurden und die Täter bei ihrem Handeln von kollektiven
Kräften beeinflusst wurden.
Bereits im 19. Jahrhundert gab es Untersuchungen zu psychologischen Veränderungen des Individuums in der aktivierten Masse357. Gefragt wurde vor allem nach
den Gründen dafür, warum sich Menschen in der Masse anders verhalten, als sie
sich als Individuum verhalten würden und Taten begehen, die in Widerspruch zu
ihrer Persönlichkeit zu stehen scheinen358. Beachtung fand diese Problematik in der
Zeit des fin de siècle des 19. Jahrhunderts vor allem durch die Aufarbeitung der
französischen Revolution und der hier entstandenen Massenbewegungen359. Sighele
und Le Bon360 (der viele Gedanken Sigheles aufgriff361, trotzdem aber als „Schöpfer
der Massenpsychologie“362 bezeichnet wird) zufolge erscheint es schwierig, Menschen, die in einem Kollektiv handeln, als verbrecherisch zu qualifizieren363. Le Bon
betonte die schädlichen und kriminogenen Wirkungen der Masse364. Nach seiner
Interpretation schwindet bei dem Anschluss an eine Masse die individuelle Persönlichkeit zugunsten einer nach eigenen Gesetzen (dem so genannten „Loi de l’unité
mentale des foules“) handelnden Kollektivseele365. Dabei werde die Intelligenz und
Moral des Menschen bei gleichzeitiger Steigerung der Affektivität reduziert bzw.
kollektiv gehemmt. Er definierte die allgemeinen Merkmale krimineller Massen mit
Suggestibilität, Leichtgläubigkeit, Wandelbarkeit, Übertreibung der guten und
schlechten Gefühle und Äußerung gewisser Sittlichkeitsformen366. Le Bon stellte in
diesem Zusammenhang vor allem auf den Einfluss der Suggestion als Auslöser ab,
357 Jäger, Makrokriminalität, S. 136.
358 Le Bon, Psychologie der Massen, S. 15; Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 12.
359 Etwa die Aufarbeitung der Ermordung des Gouverneurs der Bastille, de Launay, vgl. Le Bon,
Psychologie der Massen, S. 117.
360 Le Bon beeinflusste im Übrigen maßgeblich die NS-Propagandadoktrin, weil er das Aufgehen
des Einzelnen in der Masse und seine bis zur Suggestion steigerbare Manipulierbarkeit betonte; vgl. Longerich in: Bracher/Funke/Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933 – 1945, S. 291
(293).
361 Vgl. Reiwald, Vom Geist der Massen, S. 117 f.
362 Vgl. Jäger, Makrokriminalität, S. 137.
363 Le Bon, Psychologie der Massen, S. 117.
364 Mannheim, Vergleichende Kriminologie, S. 776.
365 Vgl. Le Bon, Psychologie der Massen, S. 10; zusammenfassend Mannheim, Vergleichende
Kriminologie, S. 775 ff.
366 Le Bon, Psychologie der Massen, S. 118.
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d.h. auf die geistig-seelische Beeinflussung des Einzelnen, die bewirke, dass die an
den Verbrechen Beteiligten davon überzeugt seien, dass sie in Erfüllung einer –
etwa patriotischen – Pflicht gehandelt367 und sogar eine verdienstvolle Tat begangen
zu haben368. Dabei gehe dem Einzelnen das Gefühl von Verantwortlichkeit verloren369. Die Suggestion, die Le Bon mit dem Zustand bei Hypnose verglich, sei ein
entscheidender Faktor, der den Kollektivverbrecher, der demzufolge auch nicht als
solcher bezeichnet werden könne, von einem gewöhnlichen Verbrecher unterscheide. Die Tat könne aus diesem Grund zwar juristisch „aber nicht psychologisch als
Verbrechen qualifiziert werden“370. Auch Freud beschäftigte sich 1921 mit der Massenpsychologie und veröffentlichte seine Erkenntnisse in Massenpsychologie und
Ich-Analyse. Er folgte hierbei, im Gegensatz zu anderen Psychologen und Soziologen des frühen 20. Jahrhunderts, weitgehend Le Bons Annahmen. Freud ging ebenso
wie dieser davon aus, dass ein „Einzelner innerhalb einer Masse durch Einfluss
derselben eine oft tiefgreifende Veränderung seiner seelischen Tätigkeit erfahre“371.
Diese Veränderung vollziehe sich zugunsten einer affektiven und intellektuellen
Angleichung an die anderen Massenindividuen, was durch die Aufhebung der
Triebhemmung und Verzicht auf die Neigungen des Massenindividuums erreicht
werde372. Er bezeichnete die Masse als „impulsiv, wandelbar und reizbar“373, wobei
der Einzelne nur noch vom Unbewussten, also dem Es geleitet werde. Freud vertrat
ebenso wie Le Bon, dass in einer Gruppe der Einzelne ein Gefühl unbeschränkter
Macht erlange, durch das er Dinge tue oder gutheiße, die er ansonsten ablehnen
würde. Die Bildung einer Masse unterteilte er in zwei Elemente, zum einen in die
Identifizierung mit den anderen Massenmitgliedern und zum anderen in eine Identifizierung mit einer Führerperson374. Hierbei betonte er vor allem den Zusammenhalt
der Gruppe durch libidinöse Bindungen, bei denen das Objekt, d.h. ein Führer, dazu
diene, den Wunsch nach Vollkommenheit, die man hinsichtlich des eigenen Ichs
angestrebt habe, zu befriedigen375. Nach Freud ist die Masse „eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ich-Ideals gesetzt und sich
infolgedessen miteinander identifiziert haben“376. Das Ich-Ideal verkörpere jenes
seelische Selbstbildnis, das von den Phantasien über die eigene Bedeutung, Vollkommenheit, Überlegenheit und die natürlichen Hoffnungen, wie man sein oder
367 Le Bon, Psychologie der Massen, S. 117.
368 Le Bon, Psychologie der Massen, S. 118.
369 Vgl. Le Bon, Psychologie der Massen, S. 31; zusammenfassend Mannheim, Vergleichende
Kriminologie, S. 775 ff.
370 Le Bon, Psychologie der Massen, S. 118.
371 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 37.
372 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 37.
373 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 15.
374 Vgl. Reiwald, Vom Geist der Massen, S. 192 ff und S. 196 ff.
375 Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 81.
376 Freud, Massenpsychologie und Ich Analyse, S. 87.
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werden möchte, geprägt sei377. Indem einem Führer gefolgt werde, der diese Phantasien verkörpere, verwirkliche sich diese für das Individuum.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wandte sich die Forschung erneut der
Thematik der Massenpsychologie und den damit verbundenen nationalsozialistischen Massenphänomenen zu, wobei diese Forschung jedoch „torsohaft“ blieb378.
Der Begriff der „Masse“ wurde nicht auf seltene Ausnahmezustände, wie etwa kollektive Panik, beschränkt, sondern nahezu ubiquitär auf alle Kollektivbildungen
übertragen379, obwohl es Menschen gibt, die anfälliger für den Druck der Masse sind
und solche, die fast völlig immun dagegen erscheinen380. Methodologisch fehlt den
massenpsychologischen Theorien eine empirische Basis381, die allerdings mangels
Durchführbarkeit und Planbarkeit von Untersuchungen auch nicht geschaffen werden kann. Aus diesen Gründen konzentriert sich die Forschung mittlerweile anstatt
auf die Massenpsychologie auf Kleingruppenforschung. Nach diesem „Perspektivenwechsel in der Sozialpsychologie“382 steht nun die Frage im Mittelpunkt, „weshalb sich Täter in der Situation gemeinsamen Handelns von kollektiven Kräften und
Impulsen leiten lassen und welcher Art die auf sie einwirkenden gruppendynamischen Kräfte sind“383. Bekannt ist, dass Gruppen individuelle Urteile, Einstellungen
und Verhaltensweisen im Sinne der Konformität anregen und gestalten, wobei die
innerhalb einer Gruppe herrschenden Gruppenzwänge und die einsetzende Gruppendynamik besondere Bedeutung entfalten384. So treten bei Gruppen im Vergleich
zum allein handelnden Täter Kräfte verschiedener und neuer Art auf385, die aus der
Dynamik der Gruppe entstehen. Sie können das Verhalten des Einzelnen erheblich
beeinflussen, sind aber nicht aus der Willensentschließung Einzelner oder dem Zusammentreten von Willensentschließungen Einzelner herleitbar. Sie wirken auf
Denken, Fühlen und Wahrnehmen der Gruppenmitglieder386. Unter Umständen kann
dabei das Verhalten des durch das gruppendynamische Handlungsfeld Beeinflussten
„persönlichkeitsfremd“387 wirken und die Freisetzung „gewissermaßer fremdgesetzlicher, der Persönlichkeit nicht innewohnender Kräfte“388 ist möglich. In der Aggressionsforschung wird konstatiert, dass an Kriegen und anderen Formen politischer Gewalt „auch solche Menschen beteiligt (sind), die sich ansonsten durch ge-
377 Mitscherlich, A. und M., Die Unfähigkeit zu trauern, S.71 f.
378 Jäger, Makrokriminalität, S. 138.
379 Hofstätter, Gruppendynamik, S. 25.
380 Mannheim, Vergleichende Kriminologie, S.777 f.
381 Mannheim, Vergleichende Kriminologie, S. 778: „halbwissenschaftliche Aussagen“; weitere
kritische Anmerkungen: Jäger, Makrokriminalität, S. 140.
382 Jäger, Makrokriminalität, S. 146; zur Entwicklung der Gruppensoziologie vgl. Schäfers in:
Schäfers, Einführung in die Gruppensoziologie, S. 19 ff.
383 Jäger, Makrokriminalität, S. 148.
384 Kaiser, Kriminologie, S. 515.
385 Schumacher bezeichnet diese Kräfte als „aliud“, da sie nicht aus der Täterpersönlichkeit
herrühren, vgl. Schumacher in NJW 1980, S. 1880 (1880).
386 Schumacher in: NJW 1980, S. 1880 (1880).
387 Vgl. Jäger, Makrokriminalität, S. 152.
388 Schumacher in: NJW 1980, S 1880 (1880).
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ringe persönliche Aggressivität auszeichnen. (...) Es reicht (eine) stark situationsabhängige Gewaltbereitschaft“389 aus. Gruppenkräfte wirkten dabei in drei Richtungen390. Zum einen entstehe ein großer Konformitätsdruck, durch den Stimmungen,
Emotionen, Wahrnehmungen und das Denken der koordinierenden Kraft der Gruppe
unterliegen und gleichgeschaltet würden. Hierdurch entstünden Motivationsstrukturen, die in gleichartiges Verhalten nach außen umgesetzt würden. Dieser Drang zum
Aktionismus werde durch das emotionale Potential in der Gruppe verstärkt, so dass
die Hemmschwelle gegenüber kriminellem Handeln sinke. Durch Anwesenheit der
Gruppe werde die Angst vor Risiko gesenkt, da die Verantwortlichkeit bei der
Gruppe liege. Jäger unterscheidet fünf verschiedene gruppendynamische Einflussfaktoren bzw. Wirkungselemente391: Gruppenabhängigkeit durch emotionale Bedürfnisse, Bindungen an Normen und Rollen392, Gruppendruck und Gehorsam, Mechanismen des Hemmungsabbaus und affektive Koordination und Verstärkung. Zur
Gruppenabhängigkeit durch emotionale Bedürfnisse ergänzt Mills, dass jeder Interaktion das Streben nach unmittelbarer Befriedigung individueller Bedürfnisse
zugrunde liege393. Es werde die gegenseitige Verpflichtung eingegangen, die Bedürfnisse der anderen Beteiligten zu befriedigen, um dafür selbst Bedürfnisbefriedigung zu erhalten394. Sobald dieser Austausch geschehen sei, werde von den Gruppenmitgliedern versucht, mit Hilfe dieser Personen weitere Befriedigung zu erfahren395. Der Einzelne reagiere auf den Wunsch nach Geborgenheit, Halt, Aufnahme
in die Gemeinschaft und Integration mit Loyalität und Solidarität396. Die Attraktivität der Gruppe entstehe durch das Bedürfnis nach kollektivem Aufgehobensein und
nach Verantwortungslosigkeit und durch eine damit verbundene klare Aufteilung
der Welt397. Vor allem seien emotionale Defizite und Insuffizienzgefühle sowie das
Bedürfnis, aufgenommen und anerkannt zu werden, starke Triebkräfte, die zur Anpassung an die Gruppe anspornen398. Diese Aufwertungs-, Erfolgs- und Anerkennungsbedürfnisse stellten das eigentliche Tatmotiv dar, hinter dem die Beziehung zu
den Zielen und Wirkungen des eigenen Handelns zurückträten399. Herrsche in der
Gruppe eine besondere Wertschätzung von Brutalität und Gewalttätigkeit, bestehe
die Anpassungs- und Bewährungsleistung in Gewalthandlungen, die sich durch
gegenseitiges Imponiergehabe und andere wechselseitigen Stimulationen aufschaukeln400 und sich zu kollektiven Macht- und Überlegenheitsräuschen steigern könn-
389 Nolting, Lernfall Aggression, S. 159 und S. 175.
390 Vgl. im Folgenden: Schumacher in NJW 1980, S.1880 (1881).
391 Jäger, Makrokriminalität, S. 151 ff.
392 Vgl. hierzu auch: Zimbardo, The Lucifer Effect, S. 213.
393 Mills, Soziologie der Gruppe, S. 154.
394 Mills, Soziologie der Gruppe, S. 161: „commitment“.
395 Mills, Soziologie der Gruppe, S. 155.
396 Jäger, Makrokriminalität, S. 154; Zimbardo, The Lucifer Effect, S. 221; vgl. grundlegend zur
Gruppensolidarität Feger in: Graumann, Handbuch der Psychologie, S. 1594.
397 Welzer, Täter, S. 268.
398 So auch Kaiser, Kriminologie, S. 516; Jäger, Makrokriminalität, S. 154.
399 Jäger, Makrokriminalität, S. 154 f.
400 Cabanis in: StrafV 1982, S. 315 (317).
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ten401. Selbständigkeit und Eigenverantwortung blieben dabei zurück402. Die Gruppenmitglieder seien mit der Zeit an gewisse Normen und Rollenerwartungen gebunden, die von denen der Außenwelt als abweichend eingestuft werden könnten. Ein
innerer Konflikt entstehe aber nicht durch den Verstoß gegen die Normen der Au-
ßenwelt, sondern durch Verstöße gegen und Verletzungen der Anpassungsforderungen der Gruppe403. Gruppendruck kann nach Jäger aber auch weniger subtil sein,
etwa wenn Sanktionen und Nachteile angedroht würden oder wenn ein Autoritätsdruck hinzukomme404. Durch das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe fühle sich der
Einzelne weniger verantwortlich, so dass es zu einer Schwächung von Hemmungen
und Kontrolle komme405. Hierbei würden psychische Kontroll- und Steuerungsinstanzen externalisiert, d.h. es komme zu einer Abtretung der eigenen Gewissensinstanz an Außenpersonen oder Organisationen406. Verstärkt werde dieses Phänomen
insbesondere, wenn eine Autoritätsperson die Verantwortung für das Tun des Einzelnen übernehme407. Mangelndes Unrechtsbewusstsein und fehlendes Verantwortungsgefühl für das eigene Handeln seien die Folge408. Die oben beschriebene
Angst409 vor Versagung oder Verlust der Integration in die Gemeinschaft410 führe
dazu, dass sich der Einzelne stärker den Gruppennormen und weniger stark den
Normen der Allgemeinheit verpflichtet fühle411. Ein in der Gruppe geschlossenes
Denk- und Glaubenssystem ermögliche dem Individuum eine ständige Bestätigung
des eigenen Denkens und vermittele ihm das Gefühl von Konformität mit der Gruppe, wodurch eine Entlastung in Bezug auf entstehende Unrechtsgefühle auftrete412.
Den Hemmungsabbau fördere insbesondere zusätzlich die (räumliche und soziale)
Entfernung zum Opfer, wobei die soziale Distanz gerade durch den inneren Zusammenhalt und die Außenseiterstellung anderer Menschen, wie etwa ethnische oder
religiöse Minderheiten, Berufsgruppen, Verbände oder Gruppierungen, entstehe413.
Die affektive Koordination und Verstärkung komme vor allem bei kurzlebigen
kleinsten Gruppen zum Tragen und bewirke beispielsweise, dass aus geringem Anlass eine unverhältnismäßig schwere Tat begangen werde414.
401 Jäger, Makrokriminalität, S. 155.
402 Sader, Psychologie der Gruppe, S. 106.
403 Jäger, Makrokriminalität, S. 158.
404 Jäger, Makrokriminalität, S. 164.
405 Kaiser, Kriminologie, S. 516; ebenso Cabanis in: StrafV 1982, S. 315 (317); Jäger, Makrokriminalität, S. 166.
406 Schumacher in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften
für das Strafrecht, S. 175.
407 Vgl. Sader, Psychologie der Gruppe, S. 182.
408 Cabanis in: StrafV 1982, S. 315 (317).
409 Oder nach Freud „die soziale Angst als Kern des Gewissens“, vgl. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 10.
410 Jäger, Makrokriminalität, S. 156.
411 Jäger, Makrokriminalität, S. 167; Jäger in: KJ 1983, S. 131 (137).
412 Stachorowsky, Massenmedien und Kriminalität der Mächtigen, S. 50.
413 Jäger, Makrokriminalität, S. 168.
414 Vgl. Cabanis in: StrafV 1982, S.315 (317).
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Zentrales Merkmal der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war, dass die
Taten meist in abgeschlossenen und isolierten Einheiten begangen wurden. Das gilt
insbesondere für die Umgebung der Konzentrationslager, die sich mehrheitlich im
Ausland befanden und die über ein starkes soziales Netz unter dem Personal verfügten415 sowie für die am Euthanasieprogramm beteiligten Krankenhäuser und Pflegeanstalten. Die Tätergruppe war zumeist permanent von der Allgemeinheit abgeschirmt und bei Begehung der Taten nur von Gleichgesinnten umgeben. Dadurch
gab es unzählige kleinere und größere Gruppen von Tätern. Durch Quellen konnte
belegt werden, dass die Auswirkungen der Gruppendynamik bei den Verbrechen des
Nationalsozialismus eine entscheidende Rolle spielten416. Es ist kaum denkbar, dass
die Gräueltaten auch begangen worden wären, wenn es keine dermaßen starken
Gruppenbindungen gegeben hätte. Die Angst vor einer Ausgrenzung innerhalb der
sozial isolierten Gruppe war im Hinblick auf die Lebensumstände, gerade im Ausland inmitten feindlicher Bevölkerung, groß. Die Gruppenmitglieder waren aufeinander angewiesen und die Gruppe bot die einzige Möglichkeit sozialer Kontakte.
Demnach war der Druck, sich ihren moralischen Wertmaßstäben, etwa dem Streben
nach „Härte“, „Laut-Sein“, „Streng-Sein“, „Schneidig-Sein“, „Scharf-Sein“417 anzupassen, enorm. So standen in den Tatsituationen die Anforderungen des eigenen
Gewissens mit den Normen der Gruppe in Konflikt418, wobei die meisten dem
Gruppendruck nachgaben. Aus dem Gruppenbewusstsein, das sich an den politischen Zielen und Grundsätzen der Bewegung orientierte, entstand eine eigenständige, nationalsozialistische Normwelt419. Dies galt vor allem für Gemeinschaften wie
die SS, aber auch für den übrigen nationalsozialistischen Ausführungsapparat420.
Gerade die Geschehnisse in der abgeschirmten Welt der Konzentrations- und Vernichtungslager, aber auch in den am Euthanasieprogramm beteiligten Krankenhäusern und Pflegeanstalten zeigen, dass „selbst extremste kollektive Ausnahmezustände ihre eigenen abweichenden Normalitäten“ produzieren421. Die Täter sozialisierten
sich in eine „abweichende Konformität“422. In einem totalitären System wie der
nationalsozialistischen Diktatur wurden Destruktivität oder Unmenschlichkeit zur
„routinierten Selbstverständlichkeit“423. Dabei blieben die Normen der Gesamtkultur
im Bewusstsein verankert, so dass in den Augen der Täter die Geschehnisse nicht
den herrschenden Wertvorstellungen entsprachen. Allerdings wurde trotzdem nach
den Prinzipien gehandelt, an die die Täter aufgrund ihrer Treue- und Gehorsams-
415 Orth in Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 93 (104).
416 Vgl. Browning, Ganz normale Männer, S. 229.
417 Schumacher in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften
für das Strafrecht, S. 175.
418 Vgl. Browning, Ganz normale Männer, S. 242.
419 Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 196.
420 Jäger, Makrokriminalität, S. 158.
421 Jäger, Makrokriminalität, S. 158.
422 Jäger in: KJ 1983, S. 131 (133).
423 Jäger, Makrokriminalität, S. 158.
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pflichten gebunden waren424. Durch die durch die nationalsozialistische Ideologie
vorgenommene strenge Abgrenzung der Gruppe „Arier“ bzw. „Freund“ von den
Gruppen „Jude“, „Untermenschen“, „Lebensunwerte“, bzw. „Feind“ fand ein weiterer Schritt in dem für Kollektive typischen Hemmungsabbau statt. Die Opfer der
Gewalt wurden aus dem Bezugskreis der menschlichen und moralischen Solidarität
gedrängt, wodurch ein normales Reagieren gegenüber den Opfern unterbunden wurde425. Mit der Abtretung der Gewissens- und Kontrollinstanz an das nationalsozialistische System verlor der Einzelne sein Verantwortungsgefühl und fühlte sich selbst
für seine Handlungen nicht mehr individuell ursächlich426.
II. Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität
Eine weitere Erklärung für die Taten im NS-System stützt sich auf die Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Milgram, der seine Experimente aus Anlass und
zur Erklärung der nationalsozialistischen Gewalttaten durchführte, argumentierte,
dass Gehorsam gegenüber Autorität eine starke evolutionsbedingte und anerzogene
bzw. erlernte Anlage im Menschen sei427. Durch diese füge er sich in ein hierarchisches System ein und ordne sich einer koordinierenden und leitenden Autorität unter428. Durch die Einordnung in ein hierarchisches System komme es zum Abbau
innerer Hemmungsfaktoren und zum Abtreten der Kontrolle an eine Autorität. Es
komme zu einem „abgetretenen Unrechtsbewusstsein“429, wodurch die Gehorsamsbereitschaft erhöht werde430. Breche der Täter seine Taten ab, müsse er sich eingestehen, dass sein voriges Handeln Unrecht gewesen sei. Hinzu komme die situationsbedingte Verpflichtung gegenüber der Gruppe bzw. die „Pflicht“, eine Handlung
auszuführen431. Ein Ausbrechen aus solchen Verpflichtungen wirke für das Individuum dann verwerflicher als die Ausführung bzw. Fortführung der grausamen
Handlung432. Milgram folgerte aus seinem Experiment, dass nicht nur grausame,
sondern auch „nette“ und „normale“ Menschen sich den Forderungen der Autorität
beugten und gefühllos und hart handelten und grausame Taten begingen433. Nach
424 Jäger, Makrokriminalität, S. 167; Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 201 ff.
425 Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 306.
426 Schumacher in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften
für das Strafrecht, S. 169 (175).
427 Kempf, Aggression, Gewalt und Gewaltfreiheit, S. 63.
428 Kempf, Aggression, Gewalt und Gewaltfreiheit, S. 65.
429 Schumacher in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften
für das Strafrecht, S. 169 (188).
430 Milgram, Das Milgram-Experiment, S. 172.
431 Milgram, Das Milgram-Experiment, S. 174.
432 Kempf, Aggression, Gewalt und Gewaltfreiheit, S. 66.
433 Milgram, Das Milgram-Experiment, S. 145.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.