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Tötens erzeugt worden. Hinzu komme viertens die beständige situative Dynamisierung durch intendierte Handlungen und nicht-intendierte Handlungsfolgen. Fünftens
sei aufgrund des praktischen Konzepts, dass Töten eine Arbeit sei, diese Arbeit als
solche ständig verbesserungsfähig. Als letztes führte Welzer an, dass Gewalt an sich
nicht nur destruktiv sei, sondern für diejenigen die sie ausüben eine ganze Reihe
konstruktiver Funktionen habe353. Diese konstruktiven Funktionen seien etwa die
Schaffung von Kategorien (Opfer und Täter), aber auch von emotionalen Bindungen
und sozialen Handlungsräumen zwischen den Tätern selbst. Insbesondere hob Welzer als Auslöser für die nationalsozialistischen Taten und auch sonstige kollektive
Verbrechen das Bedürfnis nach kollektivem Aufgehobensein in der Gruppe und
Verantwortungslosigkeit heraus, die „das größte Potential zur Unmenschlichkeit“
haben354. Aus diesen Bedürfnissen resultiere die Attraktivität einer klaren Aufteilung
der Welt in Gut und Böse, Freund und Feind, zugehörig und nicht-zugehörig. In
Ermangelung von Autonomie führe diese Konstellation zum Anfang der Eskalation
der Vernichtungsgewalt355.
IX. Fazit
Die Untersuchungen zur männlichen Täterschaft haben unterschiedliche Ergebnisse
hervorgebracht, da sie sich auf unterschiedliche Schwerpunkte im zeitlichen Verlauf
des Täterdiskurses konzentrierten356.
Christopher Browning sieht die Erklärung für die Täterschaft im NS-System in
mehreren, kumulativ wirkenden Faktoren: Durch den Ausbruch des Krieges und
bereits vorherrschende Rasseklischees sei eine Distanzierung von den Opfern geschaffen worden, welche durch Propaganda, Routine und Brutalisierung noch verstärkt worden sei. Hinzu gekommen seien – bei den Tätern in unterschiedlichem
Maße ausgeprägt – Karrierestreben, Autoritätshörigkeit und die Auswirkungen arbeitsteiligen Vorgehens. Insbesondere betont Browning aber den Einfluss von Gruppendruck, die Anpassung an andere Mitglieder der Tätergruppe und kollektive Mechanismen. Daniel Jonah Goldhagen vertritt hingegen eine monokausale Erklärung
für den Holocaust. Nach seiner Auffassung ist einzig der in Deutschland des „Dritten Reiches“ herrschende eliminatorische Antisemitismus und damit der Glaube
daran, dass die Judenvernichtung an sich richtig sei, als Antrieb der ausführenden
Täter zu werten. Stanley Milgram weist in seinen Experimenten ein großes Ausmaß
an Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten nach. Demnach handelten Menschen gegenüber Autoritäten als Vollstrecker derer Wünsche und empfänden keine
Verantwortlichkeit für die eigenen Handlungen mehr. Verstärkt worden sei dieser
353 Welzer in: Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 237 (248); vgl. auch Orth in: Paul (Hrsg.),
Die Täter der Shoah, S. 93 (96).
354 Welzer, Täter, S. 268.
355 Welzer, Täter, S. 268.
356 Paul in: Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 13 ff.
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Zustand im „Dritten Reich“ durch den Wiederholungscharakter der Handlung, die
von den Tätern nicht mehr abgebrochen werden konnte, ohne dass sie ihr vorheriges
Handeln als falsch hätten definieren müssen. Für Zimbardo war die entscheidende
Ursache, die aus „normalen“ Menschen Täter machte, die Situation. Faktoren, wie
das Erfüllen-Wollen einer erwarteten Rolle, das Vorhandensein von Autorität, die
Bildung von Gruppen, eine Dehumanisierung der Mitglieder anderer Gruppen und
das Aufstellen von Regeln, die befolgt werden mussten, hätten das grausame Verhalten von Menschen bewirkt, das ohne diese Situation nicht zustande gekommen
wäre. Die Eheleute Mitscherlich erklären die Verbrechen im Holocaust mit Hilfe des
psychoanalytischen Konzepts und konstatieren, dass Hitler vom deutschen Volk als
Objekt an Stelle des Ichs bzw. des Ich-Ideals gesetzt worden sei. Die Einsprüche des
alten Über-Ichs und des Ichs seien nicht mehr gehört oder beachtet worden, weswegen die Täter bereit gewesen seien, für den Führer zu sterben oder zu töten. Ähnlich
wie Browning nimmt Herbert Jäger an, dass Gruppeneinflüsse wie Gruppenkonformität, Gruppendruck und Gehorsam einen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten des Einzelnen gehabt hätten. Die Integration in die Gruppe habe die soziale
Distanz zu den außerhalb der Gruppe stehenden Opfern erhöht. Insbesondere betont
Jäger die Ausbildung einer eigenen internen Normen- und Wertewelt, nach der sich
die Gruppenmitglieder verhalten hätten. Raul Hilberg hingegen unterstreicht, dass
die Besonderheiten der Bürokratisierung des Massenmordes und des arbeitsteiligen
Vorgehens ein Freisprechen von der eigenen Verantwortung bewirkt hätten und so
das Unrechtsbewusstsein eliminiert worden sei. Nach Welzer musste für die ersten
Tötungen die normative Hintergrundannahme vorgelegen haben, dass die Opfer
getötet werden sollten bzw. deren Tötung wünschenswert sei. Im Laufe der Zeit und
nach mehreren Tötungen habe sich dann ein neuer, alternativloser und totaler Referenzrahmen entwickelt. Hierfür seien die sozialen Bindungen, insbesondere das
Bedürfnis nach kollektivem Aufgehobensein in der Gruppe und Verantwortungslosigkeit sowie das praktische Konzept, dass Töten eine Arbeit wie jede andere und als
solche ständig verbesserungsfähig sei, entscheidend gewesen.
B. Ermittelte Faktoren der Täterschaft des Mannes im NS-System
In einer Gesamtschau dieser Ansichten kann man sagen, dass die Faktoren, die nach
den Veröffentlichungen dieser Wissenschaftler entscheidenden Einfluss auf das
Unrechtsbewusstsein der Täter im NS-System hatten, Gruppendruck und Autoritätshörigkeit, rassische Traditionen, Indoktrinierung durch Propaganda, Karrierestreben,
die besonderen Umstände des arbeitsteiligen Vorgehens, die Brutalisierung durch
Krieg und Gewöhnung an die Taten und Hemmungsabbau waren.
Diese Faktoren werden im Folgenden genauer auf ihren Einfluss auf die Täterschaft im NS-System untersucht.
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Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.