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2. Ergebnis
Hilberg vertritt die Auffassung, dass der Judenmord „kein im Voraus geplanter, von
einem Amt zentral organisierter Vernichtungsvorgang (war). Es hat keine Pläne und
kein Budget für diese Vernichtungsmaßnahmen gegeben. Sie erfolgten Schritt für
Schritt, einer nach dem anderen. Dies ist daher nicht etwa durch die Ausführung
eines Planes geschehen, sondern durch ein unglaubliches Zusammentreffen der
Absichten, ein übereinstimmendes Gedankenlesen einer weit ausgreifenden Bürokratie"323.
Durch diese Erklärung des Holocaust betonte Hilberg die besondere Bedeutung
der Bürokratie und des arbeitsteiligen Vorgehens. Hinter der höchst effizienten Maschinerie der Deportationen und Tötungen in Vernichtungslagern habe sich ein ganzes Heer von Bürokraten verborgen, deren funktionale Hingabe den Genozid erst
möglich gemacht habe und in Gang hielt. Ihre Befehle seien von subalternen Vorgesetzten gekommen, die den „Führerwillen“ gewissenhaft vollstreckten. Der Massenmord sei von einem hochgradig arbeitsteiligen und bürokratisch organisierten
Apparat in die Wege geleitet und verwirklicht worden324. Den Tätern sei es hierdurch ermöglicht worden, sich selbst von einer persönlichen Verantwortung freizusprechen325.
VIII. Harald Welzer
Der deutsche Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in
Essen und Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke. Anders als die anderen Holocaust-Forscher lehnt er die „lange lähmende Debatte“ zwischen Intentionalisten und Funktionalisten ab, da nach seiner
Auffassung soziale Prozesse Handlungsergebnisse hervorbringen könnten, die von
keinem der beteiligten Akteure antizipiert oder geplant worden seien und die sich
rasch dynamisierten326. Funktionalismus und Intentionalismus beeinflussten sich
dabei gegenseitig. Unter dem Titel Täter – Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden veröffentlichte Welzer 2005 eine Studie zu der Frage, wie psychisch unauffällige, also „normale“, Menschen zu Tätern eines Massenmordes werden konnten. Hierbei steht im Mittelpunkt seiner Untersuchung weniger die Täterpersönlichkeit, als vielmehr der Ablauf des Massenmordes selbst sowie der Rahmen
der gesellschaftlichen und individuellen Kontexte, in dem sich die Taten abspielten327.
323 Zitiert nach De Wan in: Newsday vom 23.2.1983.
324 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden Bd.1, S. 66.
325 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden Bd.3, S. 1098.
326 Welzer, Täter, S. 87.
327 Welzer, Täter, S. 81.
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1. Welzers Studie
Welzer analysierte und interpretierte in seiner Studie zu den sozialen und situativen
Rahmenbedingungen von Taten im Holocaust und anderen Genoziden328 die Aussageprotokolle von beschuldigten Männern und Zeugen in Ermittlungsverfahren zu
den Gewaltverbrechen. Ferner wurden neben den Vernehmungsprotokollen die
jeweiligen Anklage- und Urteilsschriften herangezogen. Für den nationalsozialistischen Kontext zog Welzer hauptsächlich das Polizeiregiment Süd heran329, das während des Überfalls auf die Sowjetunion die so genannten „Einsatzgruppen“ unterstützte und unter anderem die Juden von Kiew in der Schlucht von Babi Jar ermordete. Das Polizeiregiment bestand aus dem Reserve-Polizeibataillon 45 und den
Polizeibataillonen 303 und 314.
Welzer ging zu Beginn seiner Untersuchung von einigen Voraussetzungen aus330:
Zum einen müsse beachtet werden, dass die Vernichtung kein statischer Sachverhalt
bzw. keine statische Handlungs- und Entscheidungssituation sei, sondern ein sich
selbst perfektionierender und dynamisierender Prozess. Was die Frage nach dem
Richtig oder Falsch von Handlungen aufwerfe, müsse beachtet werden, dass die
Akteure Teil eines Interaktionsgefüges gewesen seien, welches eine Abhängigkeit
zu den anderen Gruppenmitgliedern bewirkt habe. Daraus resultiert laut Welzer eine
höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Richtigkeit der Handlungen durch Wiederholung bestätigt werde, anstatt dass die Täter innehalten und die Handlung korrigieren.
Verstärkend komme hinzu, dass – insbesondere zutreffend für die im Ausland operierenden Polizeibataillone – das soziale Umfeld die Einheit und nicht mehr Beruf,
Familie und Freunde gewesen sei. Hierdurch sei der Referenzrahmen für Überlegungen, Entscheidungen und Orientierungen entscheidend beeinflusst worden. Die
soziale (und korrigierende) Heterogenität des Alltags habe gefehlt331. Welzer führte
hier also die Geschehnisse in den Tatsituationen auf subkulturelle Ursachen zurück.
Diesen Überlegungen ähnlich, stellten Sykes und Matza für die sogenannte konfliktorientierte Subkultur folgende Merkmale heraus, die zum Großteil auf die von Welzer beschriebenen Tatsituationen anwendbar sind332: Zum einen seien die Banden
relativ groß, sie hätten eine komplexe Organisation mit Hierarchien, Sinn für Korpsgeist und ihren Ruf. Der Status der Bande werde bestimmt durch Härte. Kämpfe mit
Nichtangehörigen der Gruppe seien nicht an Fairness gebunden, teilweise fürchteten
sich die Mitglieder vor den Kämpfen, allerdings erfordere die Ethik der Gruppe die
Unterdrückung von Empfindsamkeit und die Demonstration von Härte.
Welzer unterteilte den Ablauf des Genozids und die damit verbundene Entwicklung der Täter in eine Initiationssituation und in eine Durchführungsphase333. In der
328 Vietnam, Ruanda und Jugoslawien.
329 Welzer, Täter, S. 91 ff.
330 Vgl. im Folgenden Welzer, Täter, S. 87 ff.
331 Welzer, Täter, S. 216.
332 Cohen/Short in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 360 (378 f).
333 Welzer, Täter, S. 90.
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Initiationssituation bereitete die nationalsozialistische Moral nach Welzer bei den
Tätern zunächst den Boden für die Auffassung, dass mit denen, die „zu ihrem Universum der allgemeinen Verbindlichkeiten definitiv nicht zählen“, so verfahren
werden könne, „wie es für das deutsche Volk opportun erschien“334. Die rassistische
und vor allem antijüdische Moral habe es den Akteuren erlaubt, die Juden als Problem zu begreifen, das gelöst werden müsse.
„Es geht in dieser Perspektive um die Rekonstruktion eines sozialen Prozesses, in den die Akteure mit spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern eintreten und dessen Interpretation sie zu Handlungen veranlasst, die ihnen als sinnhaft erscheinen.“335
Die Rassendoktrin sei in dieser Zeit das Fundament dafür gewesen, dass dauerhaft
eine Wirklichkeit etabliert wurde, in der aufgrund einer heute nicht mehr nachzuvollziehenden subjektiven und partikularen Rationalität gehandelt wurde336. Gekoppelt war diese Ansicht mit einem „herrenmenschlichen“ Hintergrundgefühl, das die
eigenen Taten gerechtfertigt erscheinen ließ337. Entscheidend sei ferner die Sozialpsychologie der Intergruppenbeziehung gewesen: Durch das vorhandene Wir- und
Sie-Gruppen-Schema sei eine Interdependenz mit den Handlungen der anderen
entstanden, durch die die Wir-Gruppe Loyalität fordere, während die Sie-Gruppe
bedrohlich und minderwertig erscheine. Die sozialen Folgen beim Austreten aus der
Gruppe oder bei nicht-gruppenkonformen Verhalten seien – gerade in der besonderen Situation, in der sich das von Welzer untersuchte Polizei-Bataillon befand –
beträchtlich338. Aus diesem Grund sei bei kollektiven Entwicklungen der Drang, sich
gruppenkonform zu verhalten, extrem groß gewesen339. Sei eine Tötungsbereitschaft
auf diese Weise erst einmal erzeugt worden, haben sich die Aktionen in der Durchführungsphase schnell zur reinen Tötungs-„Arbeit“ gewandelt340. Welzer konstatierte anhand von Feldpostbriefen in die Heimat, die die begangenen Grausamkeiten
wie selbstverständlich schilderten, ein Verschieben des Referenzrahmens, das den
Tätern selbst nicht bewusst gewesen sei341. Obwohl die Gewalttaten oft als „Hölle“
oder „Inferno“ beschrieben wurden, sei der Ablauf zumeist äußerst geordnet gewesen. Es wurde aus Sicht der Täter getan, was getan werden musste, eventuell auftretende Schwierigkeiten wurden bewältigt342. Es sei eine innere Regelhaftigkeit des
Vorgangs entstanden, mit einem professionellen und immer weiter professionalisiertem Ablauf- und Tötungsprogramm343. Beim Vollzug der Taten seien Gemeinsam-
334 Welzer, Täter, S. 98.
335 Welzer in: Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 237 (239).
336 Welzer in: Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 237 (239 f).
337 Welzer, Täter, S. 104.
338 Welzer, Täter, S. 116; ähnlich Duster in: Steinert (Hrsg.), Symbolische Interaktion, S. 76
(78).
339 So auch Frank, Menschen töten, S. 267.
340 Vgl. Welzer, Täter, S. 132.
341 Welzer, Täter, S. 103.
342 Welzer, Täter, S. 147.
343 Welzer, Täter, S. 152 und S. 154.
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keit gestiftet worden344. Es habe keine Intervention von außen gegeben, Zuschauer
hätten im Gegenteil durch ihre bloße Präsenz und Nichteingreifen bestätigt, dass der
Referenzrahmen, in dem die Akteure sich bewegten, gültig sei und nicht in Frage
stehe345. Es sei ein normativer Rahmen entstanden, in dem den Männern der verbrecherische Inhalt ihres Tuns nicht mehr signalisiert wurde346. Die Täter hätten innerhalb eines Referenzrahmens gehandelt, der keinerlei Zweifel an der Notwendigkeit
und Richtigkeit der Handlungen aufkommen ließ347. Welzer beobachtete einen Verlust moralischer Urteilsfähigkeit und eine Verschiebung des sozialen Handlungsrahmens, der keinerlei Korrektiv von außen mehr erfahren habe. Im Gegenteil sei in
einem Mikrokosmos gehandelt worden, in dem Einigkeit über die Notwendigkeit
der Aktionen geherrscht habe348. Dies habe zu einer Verfestigung des mörderischen
Handlungsgefüges geführt. Durch diesen Prozess des sich sukzessive professionalisierenden Handelns und durch die strukturbildende Kraft praktizierter Gewalt349
habe das Töten den Charakter von „Arbeit“ angenommen, die Ähnlichkeit mit anderen arbeitsteiligen Vollzügen hatte350. Tötungsarbeit sei zur Normalität geworden.
Dies war ein weiterer hemmungsabbauender Faktor.
2. Ergebnis
Nach Welzer müssen zum Auslösen einer Tötungsbereitschaft „nur die situativen,
sozialen und handlungsdynamischen Bedingungen dafür vorliegen, dass sich Potentialität auch in Handeln übersetzt“351. Gewisse Parameter in einer Situation müssen
demnach vorliegen, welche die Wahrnehmungen, Interpretationen und Schlussfolgerungen der Täter bestimmen352: Zum einen habe bei den nationalsozialistischen
Tätern die normative Hintergrundannahme vorgelegen, dass eine Lösung des Judenproblems sinnvoll und wünschenswert sei. Zweitens sei eine Verschiebung des normativen Referenzrahmens in einer totalen Situation gegeben gewesen. Die Täter
seien kaum Einflüssen von außen ausgesetzt gewesen, sondern hätten in Ermangelung von korrigierenden Einflüssen von außen ihren eigenen, alternativlosen und
totalen Referenzrahmen gebildet. Drittens nannte Welzer die Heterogenität und die
sozialen Bindungen durch eine interne soziale Differenzierung der Wir-Gruppe.
Kohärenz und innere Zusammengehörigkeit sei durch die gemeinsame Aufgabe des
344 So auch Orth in Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 93 (96).
345 Welzer, Täter, S. 148; vgl. zu ähnlichen Mechanismen in der Wirtschaftkriminalität: Schneider, H. in: NStZ 07, 555 (561).
346 Welzer, Täter, S. 187.
347 Welzer, Täter, S. 216.
348 Welzer, Täter, S. 187.
349 Welzer, Täter, S. 212.
350 Welzer, Täter, S. 202.
351 Welzer in: Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 237 (238).
352 Vgl. im Folgenden: Welzer, Täter, S. 263 ff; auch: Welzer in: Paul (Hrsg.), Die Täter der
Shoah, S. 237 (239).
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Tötens erzeugt worden. Hinzu komme viertens die beständige situative Dynamisierung durch intendierte Handlungen und nicht-intendierte Handlungsfolgen. Fünftens
sei aufgrund des praktischen Konzepts, dass Töten eine Arbeit sei, diese Arbeit als
solche ständig verbesserungsfähig. Als letztes führte Welzer an, dass Gewalt an sich
nicht nur destruktiv sei, sondern für diejenigen die sie ausüben eine ganze Reihe
konstruktiver Funktionen habe353. Diese konstruktiven Funktionen seien etwa die
Schaffung von Kategorien (Opfer und Täter), aber auch von emotionalen Bindungen
und sozialen Handlungsräumen zwischen den Tätern selbst. Insbesondere hob Welzer als Auslöser für die nationalsozialistischen Taten und auch sonstige kollektive
Verbrechen das Bedürfnis nach kollektivem Aufgehobensein in der Gruppe und
Verantwortungslosigkeit heraus, die „das größte Potential zur Unmenschlichkeit“
haben354. Aus diesen Bedürfnissen resultiere die Attraktivität einer klaren Aufteilung
der Welt in Gut und Böse, Freund und Feind, zugehörig und nicht-zugehörig. In
Ermangelung von Autonomie führe diese Konstellation zum Anfang der Eskalation
der Vernichtungsgewalt355.
IX. Fazit
Die Untersuchungen zur männlichen Täterschaft haben unterschiedliche Ergebnisse
hervorgebracht, da sie sich auf unterschiedliche Schwerpunkte im zeitlichen Verlauf
des Täterdiskurses konzentrierten356.
Christopher Browning sieht die Erklärung für die Täterschaft im NS-System in
mehreren, kumulativ wirkenden Faktoren: Durch den Ausbruch des Krieges und
bereits vorherrschende Rasseklischees sei eine Distanzierung von den Opfern geschaffen worden, welche durch Propaganda, Routine und Brutalisierung noch verstärkt worden sei. Hinzu gekommen seien – bei den Tätern in unterschiedlichem
Maße ausgeprägt – Karrierestreben, Autoritätshörigkeit und die Auswirkungen arbeitsteiligen Vorgehens. Insbesondere betont Browning aber den Einfluss von Gruppendruck, die Anpassung an andere Mitglieder der Tätergruppe und kollektive Mechanismen. Daniel Jonah Goldhagen vertritt hingegen eine monokausale Erklärung
für den Holocaust. Nach seiner Auffassung ist einzig der in Deutschland des „Dritten Reiches“ herrschende eliminatorische Antisemitismus und damit der Glaube
daran, dass die Judenvernichtung an sich richtig sei, als Antrieb der ausführenden
Täter zu werten. Stanley Milgram weist in seinen Experimenten ein großes Ausmaß
an Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten nach. Demnach handelten Menschen gegenüber Autoritäten als Vollstrecker derer Wünsche und empfänden keine
Verantwortlichkeit für die eigenen Handlungen mehr. Verstärkt worden sei dieser
353 Welzer in: Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 237 (248); vgl. auch Orth in: Paul (Hrsg.),
Die Täter der Shoah, S. 93 (96).
354 Welzer, Täter, S. 268.
355 Welzer, Täter, S. 268.
356 Paul in: Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah, S. 13 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.