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ein striktes Festhalten an diesem Rechtsprinzip aber ein Hintanstellen der materiellen Gerechtigkeit bedeuten würde, das gerade bei der strafrechtlichen Verfolgung
der nationalsozialistischen Verbrechen unerträglich wäre, kann das Rückwirkungsverbot als Rechtsprinzip nicht als absolut betrachtet werden214. Eine Begrenzung des
Gesetzlichkeitsprinzips ist bei der Verarbeitung von Staatskriminalität und Taten
allerschwerster Verwerflichkeit angezeigt und gerechtfertigt215. Angesichts des
Ausmaßes der NS-Verbrechen muss das Interesse an der Durchführung eines Gerichtsverfahrens zu ihrer Ahndung als überwiegend betrachtet werden.
C. Fazit
Es ist belegt, dass Frauen in unterschiedlicher Intensität und verschiedenen Funktionen an der Ausführung der NS-Gewaltverbrechen beteiligt waren. Sie arbeiteten als
Ärztinnen und Krankenschwestern im Euthanasieprogramm, wo sie für die Tötung
von „lebensunwertem Leben“ verantwortlich waren. In den Lagern waren sie für
Menschenversuche und Selektionen der zu Tötenden zuständig. Aufseherinnen
misshandelten Häftlinge und halfen, sie in Gaskammern zu töten. Frauen in der
Verwaltung waren dafür verantwortlich, dass das System der planvollen Tötung von
Menschen funktionieren konnte. Selbst Frauen, die nicht im Dienst des nationalsozialistischen Systems standen, halfen durch Denunziation der späteren Opfer mit,
diese dem Regime bekannt zu machen und auszuliefern. Zum Teil begingen die
Frauen die Taten selbst, so dass die Kriterien der unmittelbaren Täterschaft im Sinne
des heutigen § 25 I StGB erfüllt waren, oder gemeinschaftlich mit anderen als Mittäterinnen gem. § 25 II StGB. Ferner waren in einer großen Zahl der Fälle die Voraussetzungen der Beihilfe gem. § 27 I StGB erfüllt.
vec, Bedeutung und Entwicklung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im völkerrechtlichen Strafrecht, S. 57.
214 So auch Krivec, Bedeutung und Entwicklung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im
völkerrechtlichen Strafrecht, S. 62; Neubacher, Kriminologische Grundlagen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, S. 437.
215 So auch: BGH St 41, S. 101 (107); Werle in ZStW 109 (1997), S. 808 (826); Lampe in: ZstW
106 (1994), S. 683 (711); Neubacher, Kriminologische Grundlagen einer internationalen
Strafgerichtsbarkeit, S. 438; Krivec, Bedeutung und Entwicklung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im völkerrechtlichen Strafrecht, S. 62.
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References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.