16
Rolle im Krieg eigentlich herausgehalten werden sollten5, beteiligten sie sich aktiv
am Völkermord an der jüdischen Mitbevölkerung und anderen „Volksfeinden“.
A. Erläuterung des Forschungsziels
Kernfrage dieser Arbeit ist, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen
zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen. Was bringt Frauen
dazu, in bestimmten Situationen aktiv an solchen Völkermorden teilzunehmen? Wie
kann eine Frau, die niemals wegen Gewaltkriminalität auffällig geworden ist, Menschen verschleppen, versklaven, misshandeln und ermorden? Ist eine Differenzierung zwischen männlicher und weiblicher Täterschaft notwendig für die Abschätzung von Stabilität, Krisenprävention, Friedensallianzen und Interventionsmöglichkeiten in aktuellen und zukünftigen Krisensituationen6?
B. Forschungsstand und methodische Vorgehensweise
Um das Phänomen des Wandels vom „ganz normalen“7 Bürger zum Verbrecher an
der Menschlichkeit zu erklären, sind in der Wissenschaft bereits Versuche unternommen worden, soziologische, sozialpsychologische und kriminologische Ursachen zu finden8. Einige Soziologen, Politologen, Holocaustforscher, Kriminologen,
Philosophen und Sozialpsychologen wie Daniel Jonah Goldhagen9, Raul Hilberg10,
Stanley Milgram11, Philip Zimbardo12, Alexander und Margarete Mitscherlich13,
5 Hitler in einer Rede an die NS-Frauenschaft über die Rolle der Frau: „Solange wir ein gesundes männliches Geschlecht besitzen (...) wird in Deutschland keine weibliche Handgranatenwerferinnen-Abteilung gebildet und kein weibliches Scharfschützenkorps. Denn das ist nicht
Gleichberechtigung, sondern Minderberechtigung der Frau. Eine unermessliche Weite von
Arbeitsmöglichkeiten ist für die Frau da. (...) Ich will ihr in weitestem Ausmaß die Möglichkeit verschaffen, eine eigene Familie mitgründen und Kinder bekommen zu können, weil sie
dann unserem Volke am allermeisten nutzt!“, vgl. Mosse, Der nationalsozialistische Alltag,
S. 64.
6 So Zdunnek in: Harders/Roß (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse in Krieg und Frieden, S. 143
(144).
7 In Anlehnung an Browning, Ganz normale Männer.
8 Vgl. zusammenfassend und sehr übersichtlich Bönisch / Leick / Wiegrefe in: Der Spiegel Nr.
11, 10.3.2008, S. 42 ff.
9 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker.
10 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden (Bd.1-3). Die Gesamtgeschichte des Holocaust.
11 Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität.
12 Zimbardo, The Lucifer Effect: Understanding How Good People Turn Evil.
13 Mitscherlich, A. und M., Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens.
17
Christopher Browning14, Herbert Jäger15 und Harald Welzer16 haben dazu eine
Debatte angeregt. Sie beschreiben und untersuchen die Einflüsse, denen die Täter
bei den Verbrechen in der NS-Zeit ausgesetzt waren. Die Forschung konzentriert
sich dabei jedoch ausschließlich auf die Erklärung der Handlungsbedingungen und
Motive von männlichen Tätern in solchen Situationen17. Warum auch und ausgerechnet Frauen aktiv an dem nationalsozialistischen Völkermord teilnahmen, wird
hierbei völlig ausgeblendet. Der Beantwortung dieser Frage soll die vorliegende
Arbeit dienen.
Die Arbeit gliedert sich in vier Teile: In Kapitel 1 erfolgt zunächst eine ausführliche Untersuchung der Frage, ob Frauen in qualitativ gleichem Maße an den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes beteiligt waren wie Männer. Die Frage,
auf welche bereits entwickelten Erklärungsansätze zurückgegriffen werden kann, um
eine Täterschaft der Frau kriminologisch zu erklären, wird in Kapitel 2 aufgegriffen.
Hier werden die in der Vergangenheit entwickelten Ansätze der Wissenschaft zur
Erklärung der verschiedenen Faktoren der NS-Täterschaft dargestellt. Die dazu
vorhandenen Ergebnisse beziehen sich aber fast ausschließlich auf männliche Täter,
während die Versuchsreihen und Untersuchungen auf die gegebenenfalls existierenden Besonderheiten der Täterschaft von Frauen nicht eingehen. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, ob die Erklärungsansätze ohne weiteres auf die
weibliche Täterschaft übertragen werden können oder ob nicht gewisse Unterschiede
zwischen der weiblichen und männlichen Kriminalität berücksichtigt werden müssen. Diese Unterschiede werden durch die allgemeinen kriminologischen Theorien
zur Frauenkriminalität thematisiert. Daher werden in Kapitel 3 zunächst die qualitativen und quantitativen Besonderheiten der allgemeinen Frauenkriminalität heute
und in der Zeit von 1933 – 1945 beschrieben. Des Weiteren wird in diesem Kapitel
auf die Lebenssituation der Frau in der nationalsozialistischen Zeit und die Entwicklung der weiblichen Rolle in der Weimarer Zeit eingegangen. Sodann werden die
kriminologischen Theorien dargestellt, die versuchen, die Kriminalität der Frau
grundsätzlich zu erklären. Insbesondere wird von diesen Theorien auf die Unterschiede zwischen Mann und Frau eingegangen, um die unterschiedliche quantitative
Verteilung der Kriminalität zwischen den Geschlechtern zu erklären. Auf der Basis
dieser Erkenntnisse widmet sich Kapitel 4 der abschließenden Fragestellung dieser
Arbeit, ob Frauen aus denselben Gründen zu Täterinnen wurden, die die männlichen
Täter zu Vollstreckern des nationalsozialistischen Regimes machten und ob daher
die für die männliche Täterschaft entwickelten Theorien auf die weiblichen Täter
übertragen werden können.
14 Browning, Ganz normale Männer.
15 Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft.
16 Welzer, Täter.
17 Vgl. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker; Browning, Ganz normale Männer; Hilberg, Die
Vernichtung der europäischen Juden; Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.