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Thematische Einführung
Die vorliegende kriminologische Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle der Frau als
Täterin im makrokriminellen Gefüge des Nationalsozialismus1, das als extremste
Form der gesellschaftlich legitimierten, absoluten Gewalt bezeichnet werden kann.
In der aktuellen öffentlichen Wahrnehmung trägt das Bild des Zweiten Weltkrieges und der Verbrechen der Nationalsozialisten nahezu ausschließlich ein männliches Gesicht. Die Beteiligung der weiblichen Bevölkerung an Morden, Verschleppung, Ausbeutung und Vernichtung wird nur mit Erstaunen und Unglauben wahrgenommen. Sowohl der Krieg als auch die nationalsozialistische Herrschaft mit all
ihren Folgen wird als von Männern angeordnet und von Männern durchgeführt empfunden. Ursache dafür ist zum einen, dass die Verbindung von Weiblichkeit und
Gewalt elementaren Merkmalen der tradierten Geschlechtsrollen widerspricht2, zum
anderen, dass Frauen auch heute noch selten aktiv in den Kampf eingebunden sind
und Männer als Soldaten, Kombattanten und sonstige Mitglieder von Streitkräften
als Urheber kriegerischer Gewalt medial präsenter sind3. Der Tendenz entsprechend,
die Beteiligung von Frauen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verdrängen,
fand eine verstärkte Auseinandersetzung hinsichtlich der weiblichen Schuld am
Völkermord in der NS-Zeit erst in den späten 70er und den 80er Jahren statt. Während Anfang der 70er Jahre insbesondere die Rolle der Frau als Opfer oder Widerstandskämpferin untersucht wurde, widmete sich die Forschung in den 80er Jahren
der Bedeutung der Mittäterschaft der Frau im Rahmen der Unterstützung der männlichen Täter. Erst in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren wurde hinterfragt, in
welchen gesellschaftlichen Bereichen und in welchen Berufen Frauen im Nationalsozialismus selbst als Täterinnen aktiv wurden. Dabei gelangte man zu dem Ergebnis, dass Frauen in erheblichem Maße in die Vernichtungsmaschinerie Hitlers eingebunden waren und in diesem Rahmen vielfältige Funktionen innehatten4. Sie
wurden als Aufseherinnen in Frauenkonzentrationslagern und sogenannten „Jugendschutzlagern“, als Transportbegleiterinnen und „Fürsorgerinnen“ bei der Erfassung
und Beurteilung von Personengruppen eingesetzt, sie denunzierten Mitbürger bei
den Behörden und waren als Ärztinnen und Krankenschwestern im Tötungsprogramm oder als Verwaltungskräfte in den Vernichtungsanstalten tätig. In einer Zeit,
in der der Rückzug der Frau aus dem Berufsleben und die Stärkung der traditionellen Rolle als Ehefrau und Mutter gefordert wurde und die Frauen aus einer aktiven
1 Im Folgenden „NS-Regime“, Zeitraum von Hitlers „Machtergreifung“ am 30.01.1933 bis
zum Ende des 2. Weltkrieges am 08.05.1945.
2 Bock, M. in: BIS 2003, S. 25 (27).
3 „der kämpfende Mann und die hegende Frau“, vgl. Wasmuth in: Haders/Roß (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse in Krieg und Frieden, S. 87 (93).
4 Vgl. Kretzer, in: Harders/Roß (Hrsg.), Geschlechtsverhältnisse in Krieg und Frieden, S. 123
(123 ff).
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Rolle im Krieg eigentlich herausgehalten werden sollten5, beteiligten sie sich aktiv
am Völkermord an der jüdischen Mitbevölkerung und anderen „Volksfeinden“.
A. Erläuterung des Forschungsziels
Kernfrage dieser Arbeit ist, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen
zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen. Was bringt Frauen
dazu, in bestimmten Situationen aktiv an solchen Völkermorden teilzunehmen? Wie
kann eine Frau, die niemals wegen Gewaltkriminalität auffällig geworden ist, Menschen verschleppen, versklaven, misshandeln und ermorden? Ist eine Differenzierung zwischen männlicher und weiblicher Täterschaft notwendig für die Abschätzung von Stabilität, Krisenprävention, Friedensallianzen und Interventionsmöglichkeiten in aktuellen und zukünftigen Krisensituationen6?
B. Forschungsstand und methodische Vorgehensweise
Um das Phänomen des Wandels vom „ganz normalen“7 Bürger zum Verbrecher an
der Menschlichkeit zu erklären, sind in der Wissenschaft bereits Versuche unternommen worden, soziologische, sozialpsychologische und kriminologische Ursachen zu finden8. Einige Soziologen, Politologen, Holocaustforscher, Kriminologen,
Philosophen und Sozialpsychologen wie Daniel Jonah Goldhagen9, Raul Hilberg10,
Stanley Milgram11, Philip Zimbardo12, Alexander und Margarete Mitscherlich13,
5 Hitler in einer Rede an die NS-Frauenschaft über die Rolle der Frau: „Solange wir ein gesundes männliches Geschlecht besitzen (...) wird in Deutschland keine weibliche Handgranatenwerferinnen-Abteilung gebildet und kein weibliches Scharfschützenkorps. Denn das ist nicht
Gleichberechtigung, sondern Minderberechtigung der Frau. Eine unermessliche Weite von
Arbeitsmöglichkeiten ist für die Frau da. (...) Ich will ihr in weitestem Ausmaß die Möglichkeit verschaffen, eine eigene Familie mitgründen und Kinder bekommen zu können, weil sie
dann unserem Volke am allermeisten nutzt!“, vgl. Mosse, Der nationalsozialistische Alltag,
S. 64.
6 So Zdunnek in: Harders/Roß (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse in Krieg und Frieden, S. 143
(144).
7 In Anlehnung an Browning, Ganz normale Männer.
8 Vgl. zusammenfassend und sehr übersichtlich Bönisch / Leick / Wiegrefe in: Der Spiegel Nr.
11, 10.3.2008, S. 42 ff.
9 Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker.
10 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden (Bd.1-3). Die Gesamtgeschichte des Holocaust.
11 Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität.
12 Zimbardo, The Lucifer Effect: Understanding How Good People Turn Evil.
13 Mitscherlich, A. und M., Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens.
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References
Zusammenfassung
Bisher wurde der Rolle der Frau als Täterin im makrokriminellen Gefüge des Dritten Reichs und den Ursachen für ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, Genozid und anderen Gewalttaten in der Kriminologie und der Geschichtswissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Theorien beziehen sich bei ihren Erklärungsversuchen nahezu ausschließlich auf Männer als Täter.
Das Werk schließt diese Forschungslücke, indem es aus kriminologischer Perspektive der Frage nachgeht, warum sozial völlig unauffällige und angepasste Frauen zu Täterinnen von unmenschlichen, unmoralischen und ethisch verwerflichen Handlungen werden können, wie sie im „Dritten Reich“ geschahen.