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IV. Erforderlichkeit
Eine besondere Herausforderung auf der Rechtfertigungsebene stellt das Erforderlichkeitskriterium dar.957 Diese Stufe, die aus einer Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung im deutschen Sinne besteht, enthält immer auch eine Abwägungsentscheidung zwischen der Niederlassungsfreiheit und dem konkreten Schutzzweck des inländischen Rechtsinstituts.958 Aufgrund der für eine Niederlassung
i.S.v. Art. 43, 48 EG charakteristischen Langfristigkeit ist die Rechtfertigungshürde
niedriger zu hängen als beispielsweise bei einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, die in der Regel eher eine punktuelle Berührung der Interessen des Zielstaates bedeutet.959
Eine abstrakte Betrachtung bei der Erforderlichkeitsprüfung würde dazu führen,
dass eine Erforderlichkeit einer Sonderanknüpfung an das Recht des Aufnahmestaates nur dann zu bejahen wäre, wenn das Gründungsrecht der Gesellschaft in seiner
Gesamtheit einen offensichtlich unzureichenden Gläubigerschutz vermittelte.960 Dabei dürfte die Bestimmung der Schwelle, ab der das das zwingende Allgemeininteresse umgebende Schutzband dermaßen lückenhaft ist, dass eine Anhebung des
Schutzniveaus durch deutsches Strafrecht offensichtlich erforderlich ist, naturgemäß
Schwierigkeiten bereiten. Gegen eine solche abstrakte Generalbetrachtung spricht
aber vor allem, dass auch der EuGH keine allgemeine Bewertung der Gläubigerschutzvorschriften des Rechts des Gründungsstaates vornimmt.961 Vielmehr stellt
der EuGH darauf ab, dass die Niederlassungsfreiheit eine Anwendung der Regelungen des Aufnahmestaates auf EU-Auslandsgesellschaften nicht erlaube und dass der
potentielle Gläubiger selbst erkennen könne, dass eine solche hinsichtlich ihres Gesellschaftstatuts anderen Rechtsregeln unterliege als heimische Gesellschaften.962
Diese Überlegungen sprechen allesamt gegen eine abstrakte Prüfung der Erforderlichkeit und für eine Einzelbetrachtung. Für eine solche spricht insbesondere das
Bestreben des Rechts nach Gerechtigkeit auch im Einzelfall, das mit einer Einzelfallanalyse gegenüber einer Allgemeinbetrachtung besser gewährleistet werden
kann.963
957 Drygala, ZEuP 2004, 337, 346; Fleischer, in: Lutter, Europäische Auslandsgesellschaften
in Deutschland, S. 103; Von Hase, in: Triebel / von Hase / Melerski, Die Limited in
Deutschland, Rn. 316.
958 Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 3
Rn. 30, 65; G / H-Randelzhofer / Forsthoff, Vor Art. 39, Rn. 158 m.w.N.
959 EuGHE 1991, I-4221 – Rs. C-76/90 „Säger“ (Rz. 13); Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 3 Rn. 31; Kienle, in: Süß / Wachter,
Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, § 3 Rn. 65.
960 Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 4
Rn. 11, 26.
961 Von Hase, in: Triebel / von Hase / Melerski, Die Limited in Deutschland, Rn. 318.
962 EuGHE 1999, I- 459 – Rs. C-212/97 „Centros“ (Rz. 36).
963 Von Hase, in: Triebel / von Hase / Melerski, Die Limited in Deutschland, Rn. 317.
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Im Rahmen des Erforderlichkeitskriteriums räumt der Gerichtshof den Mitgliedstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum ein, der umso größer ist, je mehr die
Regelung über den Wirtschaftsbereich hinausgeht und sensible Bereiche wie etwa
solche der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betrifft.964 So bedeutet der Umstand,
dass ein Mitgliedstaat weniger strenge Vorschriften erlässt als ein anderer Mitgliedstaat nicht, dass dessen Vorschriften unverhältnismässig und folglich mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind.965 Allein die Tatsache, dass das englische Recht
ein Verhalten, das von den die Niederlassungsfreiheit beschränkenden deutschen
Strafrechtsvorschriften erfasst wird, nicht bzw. nicht in einem solchen Maße unter
Strafe stellt, bedeutet demnach noch nicht, dass diese inländischen Strafvorschriften
zur Erreichung ihres Ziels nicht erforderlich sind. Auf der anderen Seite ließ es der
Gerichtshof in den Rechtssachen „Centros“ und „Inspire Art“ für die Ablehnung der
Erforderlichkeit bereits genügen, dass die Gläubigerinteressen durch das Auftreten
der Gesellschaft als Auslandsgesellschaft in irgendeiner Form geschützt wurden.966
Danach dürfen die nationalen Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist.
1. Straftatbestände
Die Insolvenzstraftaten des Bankrotts gem. §§ 283 I Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr. 1-4,
8, § 283 V, i.V.m. § 14 StGB, die Verletzung der Buchführungspflicht gem. § 283 b
II i.V.m. § 14 StGB, die Gläubigerbegünstigung gem. § 283 c i.V.m. § 14 StGB sowie die Vereitelung der Zwangsvollstreckung gem. § 288 i.V.m. § 14 StGB stellen
eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar und sind zur Verwirklichung des
einschlägigen zwingenden Interesses geeignet. In einem nächsten Schritt sind die
genannten Vorschriften auf ihre Erforderlichkeit hin zu untersuchen.
Der vom Gerichtshof in den Rechtssachen „Centros“ und „Inspire Art“ propagierte Gedanke des Selbstschutzes der Gläubiger engt den Bereich des Erforderlichkeitskriteriums ein. Dieser Ansatz besagt, dass potentielle Gläubiger ausreichend
geschützt seien, als die Auslandsgesellschaft auf der Grundlage der Firmierungspflichten als Gesellschaft englischen Rechts auftritt.967 Sie könnten daraus ableiten,
dass auf diese – im Gegensatz zu einer innerstaatlichen Gesellschaft – nicht sämtliche nationalen Vorschriften des Gläubigerschutzes Anwendung fänden. Eine Über-
964 Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 3
Rn. 32 m.w.N.
965 EuGHE 1982, 4575 – Rs. 286/81 „Oosthoek’s Uitgeversmaatschappij“ (Rz. 20); EuGHE
1995, I-1141 – Rs. C-384/93 „Alpine Investments“ (Rz. 51); vgl. auch GA Jacobs,
Schlussanträge zu „Alpine Investments“ (Rz. 88); EuGHE 1996, I-6511 – Rs. C-3/95 „Reisebüro Broede“ (Rz. 42); EuGHE 1999, I-7289, Rs. C-67/98 „Zenatti“ (Rz. 34).
966 Vgl. EuGHE 1999, I- 459 – Rs. C-212/97 „Centros“ (Rz. 36); EuGHE 2003, I-10155 – Rs.
C-167/01 „Inspire Art“ (Rz. 135).
967 EuGHE 1999, I- 459 – Rs. C-212/97 „Centros“ (Rz. 36); EuGHE 2003, I-10155 – Rs. C-
167/01 „Inspire Art“ (Rz. 135).
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tragung dieses Selbstschutzgedankens auf das zu prüfende Strafrecht erscheint insofern vertretbar, soweit es sich bei den §§ 283 I Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr. 1-4, 8, V,
283 b II, 283 c, 288 StGB um Delikte handelt, die im Rahmen einer Schuldner-
Gläubiger-Beziehung ansetzen. Auch in diesen Fällen könnte insofern der Selbstschutzgedanke des EuGH greifen. So ist den genannten Delikten gemein, dass sie
allesamt eine Krise der Gesellschaft bzw. unbefriedigte Verbindlichkeiten erfordern.
Insofern könnte sich ein potentieller Gläubiger selbst schützen, indem er sich über
die finanzielle Verfassung der Limited erkundigt, bevor er mit der Limited Geschäfte
macht.
Dieser Gedanke des Schutzes durch Information hat jedoch gleich drei Schwachstellen: Zum einen ist schon fraglich, inwieweit es als realistisch gelten kann, dass
potentielle Gläubiger einer Limited sich zunächst einmal ausführlich über die Finanzverfassung der Gesellschaft informieren und sodann auch eine entsprechende
Ausweichmöglichkeit haben. So mag es Gläubiger geben, die sich vor Beginn der
vertraglichen Beziehung vorab über die finanzielle Tragkraft der Gesellschaft informieren können und sich möglicherweise auch Sicherheiten einräumen lassen. Für
andere Gläubiger – und das wird der Normalfall sein – werden sich diese Informations- und damit einhergenehende Ausweichmöglichkeiten nicht stellen.
Als zweite Schwachstelle ist zu beachten, dass gerade die durch die in §§ 283 I
Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr. 1-4, 8, V, 283 b II, 283 c, 288 StGB unter Strafe gestellten
Handlungen zeigen, dass das Einholen von Informationen über die Gesellschaft
nicht notwendigerweise als adäquater Selbstschutz betrachtet werden kann, wenn
sich die Gesellschaft nicht an die „Spielregeln“ hält. Das Argument des hinreichenden Schutzes durch Publizität läuft hier also weitgehend leer, da der Selbstschutzgedanke in der zu Grunde liegenden Konstellation offensichtlich nicht trägt.
Ferner ist fraglich, inwieweit ein Gläubiger nicht darauf vertraut, dass das Strafrecht als ultima ratio968 – anders als etwa Normen des Gesellschaftsrechts – unterschiedslos bezogen auf in- und ausländische Gesellschaftsformen gilt. Das Argument des Selbstschutzes allein kann bezüglich der zu prüfenden Strafvorschriften
eine Erforderlichkeit der Anwendung der Strafvorschriften damit nicht ausschließen.
Für den hier interessierenden Bereich der Rechtfertigung von nationalen Strafvorschriften mit korporativer Anknüpfung kann der ultima-ratio-Charakter des Strafrechts jedoch auch für eine Argumentation gegen eine Erforderlichkeit verwendet
werden. Daraus könnte man argumentieren, dass im Rahmen der vom EuGH entwickelten Kriterien der Verhältnismäßigkeit die Anwendung lediglich dann gerechtfertigt werden kann, wenn beispielsweise anstatt der materiellen Strafvorschrift auch
keine zivilrechtliche Regelung als mildere Maßnahme denkbar wäre.969 Auch ist
nicht ausgeschlossen, dass eine persönliche Haftung des Geschäftsleiters nach Zivilrecht eine größere Abschreckungswirkung bereithalten kann als eine drohende straf-
968 Roxin, StR AT/I, § 2 Rn. 97 ff.
969 Nach GA Alber, Schlussanträge zu EuGHE 2003, I-10155 – Rs. C-167/01 „Inspire Art“
(Rz. 135) ist eine größere Abschreckungswirkung durch persönliche Haftung denkbar.
219
rechtliche Verantwortlichkeit.970 Eine solche Annahme ist jedoch in Relation mit der
drohenden strafrechtlichen Sanktion zu sehen und kann keinen generell geltenden
Grundsatz darstellen. So bezog sich eine dahingehende Aussage von GA Alber auf
eine niederländische Zivilrechtsvorschrift, die bei Nichteintragung in das Handelsregister eine persönliche Haftung des Geschäftsleiters bezüglich etwaiger Ansprüche
gegen die Gesellschaft vorsah. Es wurde angenommen, dass eine dem Schuldvorwurf entsprechende strafrechtliche Sanktion im Vergleich zu dem möglichen Ausmaß einer persönlichen Haftung weniger abschreckend wäre.
Sobald es sich jedoch wie vorliegend um strafrechtliche Vorschriften handelt, deren Strafrahmen mehrjährige Freiheitsstrafen in Aussicht stellen, wird eine abschreckendere Wirkung durch zivilrechtliche Vorschriften nicht anzunehmen sein. Anders
als das durch das Bundesverfassungsgericht entwickelte deutsche Rechtsverständnis
prüft der EuGH im Rahmen der Erforderlichkeit nicht, ob ein gleich wirksames Mittel möglicherweise weniger tief in ein Recht eingreift. Vielmehr lassen die Luxemburger Richter es bereits ausreichen, wenn das mit dem Eingriff in die Niederlassungsfreiheit verfolgte Ziel – etwa Gläubigerschutz – überhaupt, wenn auch nicht im
gleichen Umfang, erreicht wird.971 Gegen eine rigide Anwendung des Erforderlichkeitsmaßstabs spricht jedoch das Argument, dass der EuGH im Rahmen der Erforderlichkeit den Mitgliedstaaten umso mehr Freiraum zugesteht, je weniger der
betreffende Bereich durch gemeinschaftsrechtliches Sekundärrecht harmonisiert ist
oder die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen darin divergieren.972 Die Vorschriften
der §§ 283 I Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr. 1-4, 8, V, 283 b II, 283 c, 288 StGB beruhen
nicht auf sekundärem Gemeinschaftsrecht. Wie ausgeführt, ist zudem zu beachten,
dass es sich bei nationalen Strafrechtsregelungen dem Grundsatz nach um einen sensiblen Bereich handelt, der die Souveränität und den soziokulturellen Hintergrund
des jeweiligen Mitgliedstaates mehr als andere Rechtsbereiche widerspiegelt und
insoweit dem strafrechtsspezifischen Schonungsgebot unterliegt.973
Auch spricht für ein Zugeständnis eines etwas weiteren Regelungsspielraums an
die Mitgliedstaaten und damit der Bejahung des Erforderlichkeitskriteriums die Tatsache, dass Mitgliedstaaten wie etwa England und Deutschland im Strafrecht insbe-
970 Vgl. GA Alber, Schlussanträge zu EuGHE 2003, I-10155 – Rs. C-167/01 „Inspire Art“ (Rz.
135).
971 Eidenmüller / Rehm, ZGR 2004, 159, 173.
972 Vgl. EuGHE 1987, 2293 – Rs. 16/78 „Croquet“ (Rz. 7); EuGHE 1981, 3305 – Rs. 279/80
„Webb“ (Rz. 18); EuGHE 1997, I-2471 – Rs. C-250/95 „Futura“ (Rz. 33); vgl. Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 3 Rn. 59
m.w.N.
973 Vgl. Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 166 ff., 498. Dafür spricht auch die
Tatsache, dass das Strafrecht aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/123/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen des
Binnenmarktes (Dienstleistungsrichtlinie), Abl. L 376, S. 36 ff. vom 27.12.2006, Erwägungsgrund 6, 12 und Art. 1 V, herausgestrichen wurde. Gem. Art. 1 V der RL ist lediglich
die Anwendung von nationalen Strafrechtsvorschriften verboten, die die Aufnahme oder
Ausübung einer Dienstleisungstätigkeit gezielt [sic!] regeln oder beeinflussen.
220
sondere dem Territorialitätsprinzip folgen, und insofern strafrechtliche Schutzlücken
nicht ausgeschlossen werden können.
Insbesondere im Hinblick auf den hier einschlägigen sensiblen Bereich des Strafrechts ist damit die Frage der Erforderlichkeit im weiteren Sinne der Vorschriften
der §§ 283 I Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr. 1-4, 8, V, 283 b II, 283 c, 288 StGB zum
Schutz der Gläubiger zu bejahen.
Der EuGH prüft innerhalb des Erforderlichkeitskriteriums implizit auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, indem er zwischen dem geschützten zwingenden
Allgemeininteresse und der Beeinträchtigung der einschlägigen Grundfreiheit eine
Abwägung vornimmt.974Angesichts der den Mitgliedstaaten in dem sensiblen Bereich des Strafrechts zuzugestehenden Einschätzungsprärogative und der mit der
Grundfreiheit der Niederlassungsfreiheit verbundenen Dauerhaftigkeit des Kontakts
der Auslandsgesellschaft mit dem Zuzugsstaat lässt sich auch hier gut argumentieren, dass die mit den Vorschriften der §§ 283 I Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr. 1-4, 8, V,
283 b II, 283 c, 288 StGB einhergehende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
im Verhältnis des damit erzielten Gläubigerschutzes angemessen ist.
Zu überlegen wäre, ob nicht zu den Strafvorschriften ein milderes, wenn auch
nicht unbedingt gleich geeignetes Alternativinstrument in Betracht kommt, das dem
verfolgten Gläubigerschutz ebenfalls Rechnung tragen würde. Da es bei den §§ 283
I Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr. 1-4, 8, V, 283 b II, 283 c, 288 StGB in erster Linie um
den Schutz des Gläubigerinteresses an einer weitestgehenden Befriedigung eigener
geldwerter Ansprüche gegen den Schuldner geht, könnte als Alternativinstrument an
eine unter Umständen gesetzlich angeordnete Pflichtversicherung gedacht werden,
die in den durch die Vorschriften der §§ 283 I Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr. 1-4, 8, V,
283 b II, 283 c, 288 StGB beschriebenen Sachverhalte greift und die Gläubiger
schadlos stellt.975
Aber auch hier ist letztendlich vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Schonungsgebotes dem Sitzstaat ein größerer Handlungsspielraum zuzugestehen, als dies
bei anderen Rechtsbereichen der Fall wäre. Dieser Punkt muss ebenso wie die mit
der Niederlassungsfreiheit verbundene Dauerhaftigkeit der Verknüpfungspunkte
zum Zuzugsstaat in die Abwägungsentscheidung miteinbezogen werden.
Aufgrund dieser Überlegungen ist letztlich davon auszugehen, dass die zu prüfenden Strafvorschriften zur Verwirklichung des Schutzes des Gläubigerinteresses
im Verhältnis zur niederlassungsfreiheitsbehindernden Wirkungseignung verhältnismäßig ist. Eine insgesamte Erforderlichkeit der §§ 283 I Nr. 1-4, 8, II i.V.m. I Nr.
1-4, 8, V, 283 b II, 283 c, 288 StGB ist damit zu bejahen.
974 Vgl. EuGHE 1999, I-1459 – Rs. C-212/87 „Centros“ (Rz. 37).
975 Vgl. Beispiel bzgl. Deliktsgläubigern bei Eidenmüller, in: Eidenmüller: Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 3 Rn. 68.
221
2. Strafzumessungsregeln
Der Erforderlichkeitsmaßstab ist jedoch nicht notwendigerweise gegenüber allen
hier einschlägigen Strafrechtsvorschriften gewahrt. So ist fraglich, ob auch Strafzumessungsregeln, die die Niederlassungsfreiheit einschränken, erforderlich sind.
Die Vorschrift des § 283 a StGB stellt ebenso wie § 263 III StGB, auf den § 266
II StGB verweist, und § 266 a IV StGB eine Strafzumessungsregel dar. Die Vorschriften sehen allesamt für das Vorliegen eines „besonders schweren“ Falles einen
erhöhten Strafrahmen vor. Wie bereits festgestellt, sind alle drei Regelbeispiele geeignet, dem als zwingenden Grund des Allgemeinwohls anerkannten Gläubigerschutz (§ 283 a StGB, §§ 266 II i.V.m. 263 III StGB) bzw. dem Schutz der Versicherten als Solidargemeinschaft (§ 266 a IV StGB) zu dienen. In einem weiteren
Schritt ist nun zu untersuchen, ob diese Strafzumessungsregeln zur Erreichung des
Schutzgutes auch im engeren Sinn erforderlich und verhältnismäßig sind.
Die aufgezählten Regelbeispiele zeigen an, wann „in der Regel“ ein besonders
schwerer Fall vorliegt. Das bedeutet, dass der Richter trotz Vorliegens eines Regelbeispiels die Annahme eines besonders schweren Falles ablehnen bzw., ohne dass
ein Regelbeispiel gegeben wäre, einen besonders schweren Fall annehmen kann. Der
Gesetzgeber enthält sich einer genauen Festlegung der Voraussetzungen für die
Strafrahmenverschiebung und räumt dem Richter einen nicht näher konkretisierten
Beurteilungsspielraum ein.
Das Hauptargument, das der EuGH bislang gegen das Vorliegen einer Erforderlichkeit im engeren Sinne entwickelte, der Selbstschutz durch Information, greift
ebenso wie bei den bereits geprüften Straftatbeständen auch bei den Strafzumessungsregeln nicht. So ist auch hier die Praxistauglichkeit dieses Arguments – wie
wahrscheinlich ist es, dass sich die Parteien vor Eingehung von vertraglichen Beziehungen über die Finanzverfassung des Gegenübers informieren und sodann bei Bedarf auch eine Ausweichmöglichkeit zur Verfügung steht. Zudem ist auch hier
höchst fraglich, ob eine Einholung von Informationen vor Vermögensverlust schützen kann, wenn sich der Gegenüber schlicht nicht an die „Spielregeln“ hält. Im Falle
des § 266 a IV StGB kann ein Schutz durch vorherige Informationseinholung wohl
von vornherein ausgeschlossen werden, da nicht erkennbar ist, wie die Solidargemeinschaft der Versicherten durch eine Information über die Finanzverfassung der
Limited konkret geschützt werden soll.
Ebenfalls für eine Erforderlichkeit spricht hier wie auch schon bei Prüfung der
Erforderlichkeit der Straftatbestände, dass dem einzelnen Mitgliedstaat angesichts
des strafrechtlichen Schonungsgebots ein gewisser Ermessenspielraum hinsichtlich
seiner strafrechtlichen Regelungen zuzugestehen ist.
Auf der anderen Seite kann nicht unbeachtet bleiben, dass bei Vorliegen eines
Regelbeispiels zwar die gesetzliche Vermutung für einen erhöhten Unrechts- und
Schuldgehalt spricht, dass aber das Gericht nicht wie bei echten Qualifikationen gezwungen ist, ausnahmslos vom höheren Strafrahmen auszugehen. Dagegen kann
auch ohne Vorliegen eines Regelbeispiels ein besonders schwerer Fall gegeben sein.
222
Problematisch vor dem Hintergrund des Erforderlichkeitskriteriums ist insoweit,
dass durch die Unverbindlichkeit der Regelbeispiele der Rechtssicherheitsgedanke,
der durch die Strafzumessungsregeln generell verfolgt wird, zu einem großen Teil
neutralisiert wird.976 Entscheidend ist hier insbesondere, wie sich die zu untersuchenden Strafrahmen zueinander verhalten und wie gewichtig sich eine Strafrahmenverschiebung auf das Ergebnis auswirkt. Bei dem besonders schweren Fall des
Bankrotts gem. § 283 a StGB beträgt die Strafrahmenuntergrenze sechs Monate, die
Strafrahmenobergrenze zehn Jahre. Bei Anwendung des Normalstrafrahmens
kommt ein Strafrahmen von einer Geldstrafe bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe in Betracht. Das gleiche Verhältnis ist auch bei §§ 266 II i.V.m. 263 III StGB und bei §
266 a IV StGB zum jeweiligen Normalstrafrahmen zu finden. Der Unterschied zwischen dem Normalstrafrahmen und dem Strafrahmen der Regelbeispiele ist somit
beträchtlich und bedarf angesichts der vom EuGH postulierten Rigidität des Erforderlichkeitskriteriums besonderer Gründe für eine Bejahung der Erforderlichkeit.
Es ist auch nicht erkennbar, dass die Gläubigerinteressen ohne die Strafzumessungsregeln nicht geschützt wären im Hinblick auf die Abschreckungswirkung der
betreffenden Straftatbestände. Da die Anwendung der Strafzumessungsregeln letztlich im Ermessen des Richters liegt und dies für den Täter vorher nicht erkennbar
ist, gehen die Strafzumessungsregeln insofern über das, was zur Erreichung des
Ziels des Schutzes des Gläubigerinteresses erforderlich ist, hinaus. So fordert der
EuGH bei der Frage nach der Erforderlichkeit beim Vorliegen eines alternativen
Schutzinstrumentes auch keine Gleichgeeignetheit gegenüber der zur Diskussion
stehenden Regelung oder Maßnahme. Ob durch die Regelbeispiele damit im konkreten Fall eine größere Abschreckungswirkung verbunden ist, die zu einem besseren
Schutz der zwingenden Gründe des Allgemeinwohls führt, ist für die Frage der Erforderlichkeit letztlich nicht ausschlaggebend. So lässt sich der durch die Vorschriften der §§ 283 a, 266 II i.V.m. 263 III, 266 a IV StGB verfolgte Schutzzweck durch
den vom Grundtatbestand zur Verfügung gestellten Normalstrafrahmen jedenfalls
ebenfalls erreichen.
Trägt man für eine Abwägungsentscheidung die gesammelten Argumente nochmals zusammen, so gilt Folgendes: Das vom Gerichtshof entwickelte Schutzkonzept
durch Information977 besitzt lediglich eine begrenzte Reichweite. Es ist auf der Annahme gestützt, dass ein informierter Gläubiger, der in Geschäftsbeziehungen zu einer Auslandsgesellschaft tritt, sich selbst schützen kann, einer Anwendung des Inlandsrechts zu Schutzzwecken bedarf es danach nicht. Abgesehen von Bedenken der
Realitätsnähe, die diesem Schutzkonzept entgegengebracht werden, trägt dieses Modell jedenfalls nicht in strafrechtlichen Konstellationen, die keine bestehende Geschäftsbeziehung aufweisen. Die Solidargemeinschaft der Versicherten, die durch
den director einer englischen Limited geschädigt werden, hat sich diesen eben nicht
selbst ausgesucht. Das Informationsmodell des EuGH greift damit jedenfalls bei der
Strafzumessungsregel des § 266 a IV StGB zu kurz. Ebenfalls für eine Bejahung der
976 Roxin, StR AT I, § 10 Rn. 134 m.w.N.; Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 157 ff.
977 EuGHE 1999, I-1459 – Rs. C-212/97 „Centros“ (Rz. 36).
223
Erforderlichkeit spricht, dass vorliegend der sensible Bereich des Strafrechts betroffen ist.
Als gravierender Einwand gegen eine Erforderlichkeit ist zu werten, dass dem
Mitgliedstaat zwar ein gewisser Ermessensspielraum bezüglich des relevanten
Schutzniveaus zukommen soll, der EuGH bisher jedoch keinen Wert auf ein aus
dem deutschen öffentlichen Recht bekannte Erfordernis eines relativ gleich effektiven Mittels wert legt. So legt der Gerichtshof bei der Prüfung von Alternativinstrumenten in erster Linie Wert auf mildere Maßnahmen die getroffen werden könnten
und nicht so sehr darauf, ob das alternative Schutzinstrument zu dem bislang angewendeten gleich geeignet ist. Übertragen auf den Fall der hier interessierenden Regelbeispiele bedeutet dies, dass der Normalstrafrahmen der jeweiligen Grundtatbestände als milderes Mittel zur Erreichung des verfolgten Schutzzweckes angesehen
werden muss. Ob durch die mittels der Regelbeispiele zur Verfügung stehenden höheren Strafandrohungen den Schutzzweck im Einzelfall effektiver verfolgen, ist
nach dem Gerichtshof jedenfalls nicht ausschlaggebend. Insbesondere angesichts der
durch Anwendung der betreffenden Regelbeispiele im Raume stehenden im Vergleich zum Normalstrafrahmen der jeweiligen Grundstraftatbestände verbundenen
Erheblichkeit der Strafrahmenverschiebung, kann im Ergebnis eine Erforderlichkeit
und Verhältnismäßigkeit der mit den §§ 283 a, 266 II i.V.m. 263 III, 266 a IV StGB
einhergehenden Schwere der Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit zu den
verfolgten Schutzzwecken nicht bejaht werden.
Eine Anwendung der genannten Strafzumessungsregeln auf einen director einer
in Deutschland domizilierenden Limited stellt damit eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, die einer Rechtfertigung nicht zugänglich ist.
C. Missbrauch und Betrug
Eine Sonderanknüpfung an das Recht des Zuzugsstaates eröffnet das Vorliegen
von missbräuchlichem oder betrügerischem Gebrauchmachen von der Niederlassungsfreiheit.978 Dogmatisch wird diese Ebene teils als tatbestandliche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, teils als Rechtfertigung qualifiziert.979 Bedeutsam
ist jedoch vielmehr, unter welchen Voraussetzungen ein missbräuchliches oder betrügerisches Berufen auf die Niederlassungsfreiheit angenommen werden kann. Bislang gibt die Rechtsprechung des EuGH über die Begriffe „Missbrauch und Betrug“
lediglich Aufschluss anhand einer negativen Abgrenzung.
So hat der EuGH klargestellt, dass auch eine bewusste Umgehung des strengeren
inländischen Gesellschaftsrechts durch die Wahl eines laxeren Gesellschaftsstatuts
978 Vgl. EuGHE 1999, I- 459 – Rs. C-212/97 „Centros“ (Rz. 24) m.w.N.
979 Spindler / Berner, RIW 2004, 7, 8; Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 3 Rn. 75.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Werk befasst sich mit Fragen zur möglichen Strafbarkeit des directors einer englischen Limited nach deutschem Strafrecht und damit mit einem ebenso aktuellen wie vielschichtigen Problem, dessen praktische Relevanz und Zukunftsorientierung nicht genug betont werden kann. Anstoß der Überlegungen sind die Urteile des EuGH in den Rechtssachen „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“, in denen die Bedeutung der Niederlassungsfreiheit insbesondere in Bezug auf die inländische Anerkennung von sog. Scheinauslandsgesellschaften behandelt werden. Die Autorin analysiert die Auswirkungen dieser viel beachteten Rechtsprechung auf das deutsche Strafrecht. Im Zuge dessen werden ausgewählte deutsche Strafnormen auf ihre Relevanz im Lichte der EuGH-Rechtsprechung näher untersucht. Ferner gibt sie einen Überblick über die Haftungsmöglichkeiten eines directors einer Limited nach englischem Gesellschaftsrecht und untersucht intensiv verschiedene Haftungsvorschriften nach englischem Strafrecht. Schließlich geht das Buch auf die Reform des GmbH-Gesetzes ein und schließt mit einer Stellungnahme zu den relevanten geplanten Änderungen.