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Rechtfertigung
Ähnlich dem deutschen Verfassungsrecht gilt auch auf europäischer Ebene, dass
eine inländische Regelung oder Maßnahme, die eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zur Folge hat, nicht zwingend einen Verstoß gegen die Art. 43, 48 EG
bedeuten muss.
Auf der Rechtfertigungsebene wird mit Art. 46 EG ein geschriebener Rechtfertigungstatbestand für Einschränkungen des Inländergleichbehandlungsgebots bereitgehalten. Darüberhinaus hat der Gerichtshof auch ungeschriebene Rechtfertigungsmöglichkeiten entwickelt.
Im Hinblick auf die Rechtfertigung von gesellschaftsrechtsakzessorischen Strafrechtsvorschriften, die über den durch das Recht des Gründungsstaates statuierten
Maßstab hinausgehen, sind zwei Anknüpfungsebenen zu unterscheiden. Zum einen
die Ebene des Gesellschaftsrechts, auf die die Strafrechtsvorschriften Bezug nehmen und zum anderen die strafrechtliche Vorschrift selbst.
Bei einem Teil der in dieser Arbeit untersuchten gesellschaftsrechtsakzessorischen Strafrechtsvorschriften ist jedoch unabhängig von der EuGH-Rechtsprechung
zur Niederlassungsfreiheit eine Sonderanknüpfung an das deutsche Gesellschaftsrecht im Falle einer englischen Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland zu verneinen. Die Anwendbarkeit der §§ 82 ff. GmbH scheitert am Verbot der strafbegründenden Analogie gem. Art. 103 II GG, § 1 StGB. Die Anwendung der englischen Rechnungs- und Bilanzierungsvorschriften im Rahmen der §§ 283, 283 b
StGB ergibt sich schon aus § 325 a HGB i.V.m. Art. 3 der Zweigniederlassungsrichtlinie.913 Ein Rückgriff auf die Vorschriften des AktG und des GmbHG i.V.m. §
266 I StGB ist mit dem strafrechtlichen Analogieverbot nicht vereinbar. Und auch
innerhalb des gesellschaftsrechtsakzessorischen Straftatbestandes der unrichtigen
Darstellung gem. § 331 HGB spricht gegen eine Anwendung der deutschen Rechnungslegungsvorschriften die Vorschrift des § 325 a HGB, wobei dies freilich zu
dem Ergebnis führt, dass § 331 HGB im Ganzen nicht zur Anwendung kommt.914
Die übrigen geprüften Straftatbestände weisen eine Gesellschaftsrechtsakzessorietät
allein durch die ergänzende Anwendung der Organ- und Vertreterhaftung gem. § 14
StGB auf und sind als einheitlicher Tatbestand am Maßstab des Gründungsrechts zu
messen.
913 Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen
errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, Abl. EG Nr. L 395 vom
30.12.1989, S. 36 ff.
914 Vgl. Untersuchungsergebnis in Kapitel „Relevante Deutsche Strafrechtsnormen“ unter C.
II., wonach § 331 HGB in den Tatbeständen Nr. 1-4 ausschließlich auf die deutschen Vorschriften der Rechnungslegung zurückgreift und damit im Ergebnis nicht zur Anwendung
gebracht werden kann.
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Im Folgenden ist mithin das Augenmerk auf die Rechtfertigung der Straftatbestände zu richten, die eine gewisse korporative Wirkung aufweisen und über den
durch das englische Recht festgelegten Maßstab hinausgehen und damit geeignet
sind, ein Gebrauchmachen von der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv erscheinen zu lassen. Eine Regelung, welche die Niederlassungsfreiheit beschränkt,
kann anhand der geschriebenen Rechtfertigungsmöglichkeit zur Gewährleistung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung gem. Art. 46 EG oder durch die im Wege der
Rechtsprechung des EuGH entwickelten zwingenden Gründe des Allgemeinwohls
gerechtfertigt sein.915 Darüber hinaus kommt eine Rechtfertigung in Betracht, wenn
die Regelung dazu dient, Missbrauch oder Betrug zu bekämpfen.916
A. Rechtfertigung gem. Art. 46 I EG
Nach Art. 46 I EG kann eine Beeinträchtigung des Rechts der freien Niederlassung durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die eine Sonderregelung für Ausländer – also offen diskriminierende Vorschriften – aus Gründen der öffentlichen
Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vorsehen, gerechtfertigt sein. Aus Art. 48 EG
ergibt sich, dass Art. 46 I EG grundsätzlich auch auf EU-Auslandsgesellschaften
Anwendung findet.917 Der klassische Anwendungsbereich des Art. 46 I EG ist dabei
im Ausländerrecht anzusiedeln, wie sich aus der Formulierung „Sonderregelung für
Ausländer“ ergibt.918 Hinsichtlich der Überlegung einer Erstreckung des Anwendungsbereichs auch außerhalb des Ausländerrechts ist zu beachten, dass es sich bei
Art. 46 I EG um eine Ausnahmevorschrift handelt, die der restriktiven Auslegung
bedarf.919 Vor dem Entstehungshintergrund, dass Art. 46 I EG dem Schutz nationaler Interessen zu dienen bestimmt ist, ist eine Ausdehnung auf Regelungen, die nicht
im Ausländerrecht wurzeln lediglich in Ausnahmefällen zu befürworten, wenn ein
vergleichbarer Sachverhalt vorliegt.920 Da die Vorschrift Sonderregelungen für Ausländer gestattet, kann zumindest eine Anwendbarkeit gegenüber allgemein offen
915 EuGHE 2003, I-10155 – Rs. C-167/01 „Inspire Art” (Rz. 107, 133).
916 EuGHE 1999, I- 459 – Rs. C-212/97 „Centros“ (Rz. 24). Diese Punkte können auch als
tatbestandsimmanente Schranken verstanden werden.
917 Vgl. G / H-Randelzhofer / Forsthoff, Art. 46 Rn. 13.
918 Vgl. EuGHE 1977, 1999 – Rs. 30/77 „Bouchereau“ (Rz. 31 ff.); Borchardt, Die rechtlichen
Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 744; G / H-Randelzhofer / Forsthoff, Art. 46 Rn.
10.
919 Stetige Rspr., vgl. EuGHE 1977, 1999 – Rs. 30/77 „Bouchereau“ (Rz. 33/35); EuGHE
2003, I-4887 – Rs. C-322/01 „DocMorris“ (Rz. 102 ff.). Vgl. bezüglich der Rechtfertigungsmöglichkeit gem. Art. 30 EG: EuGHE 1981, 1625 – Rs. 113/80 „Kommission . / . Irland“ (Rz. 7).
920 G / H-Randelzhofer / Forsthoff, Art. 46, Rn. 10 mit Verweis auf die Rechtfertigungsmöglichkeit nach Art. 46 I EG für Vorschriften, die die Ausreise zum Ziele der Durchsetzung
der Wehrpflicht beschränken; vgl. BVerwG, EuGRZ 2000, 177, 180.
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diskriminierenden Vorschriften befürwortet werden.921 Einer Anwendung gegenüber
nationalem Strafrecht, das Auslandsgesellschaften jedenfalls nicht offen diskriminiert, muss hingegen anlässlich des Wortlauts der Rechtfertigungsvorschrift und der
Judikatur des EuGH922 grundsätzlich abgelehnt werden.
Der Anwendungsbereich des Art. 46 I EG gegenüber deutschen, unterschiedslos
anwendbaren Strafrechtsvorschriften kann damit generell als gering eingeschätzt
werden,923 der Gerichtshof selbst hat sich in den Rechtssachen „Centros“, „Überseering“, „Inspire Art“ mit der Rechtfertigungsmöglichkeit gem. Art. 46 I EG, gar nicht
bzw. über den Hinweis, Rechtfertigungsgründe i.S.d. Art. 46 I EG lägen nicht vor,
hinaus nicht weiter auseinandergesetzt.924 Eine Rechtfertigungnach Art. 46 EG ist
damit nicht möglich.
B. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses
Eine Rechtfertigung einer beschränkenden Maßnahme kommt nach der Rechtsprechung des EuGH925 bei Vorliegen „zwingender Gründe des Allgemeininteresses“ in Betracht. Folgende vier Voraussetzungen müssen hierfür vorliegen: Eine (i)
nichtdiskriminierende, (ii) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gebotene, (iii) zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignete und (iv) nicht über das hierfür Erforderliche hinausgehende Maßnahme nationalen Rechts.
I. Nichtdiskriminierende Anwendung
Die zu rechtfertigenden Strafvorschriften sind nicht diskriminierend und werden
unterschiedslos auf Inlands- und Auslandsgesellschaften angewandt.Selbst im Falle
einer versteckten Diskriminierung kommt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses in Be-
921 Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, § 3
Rn. 19.
922 Vgl. EuGHE 2003, I-10155 – Rs. C-167/01 „Inspire Art“ (Rz. 131).
923 Eidenmüller / Rehm, ZGR 2004, 159, 169; Hoffmann, in: Deutsches Gesellschaftsrecht im
Wettbewerb der Rechtsordnungen, S. 259 f.
924 EuGHE 1999, I- 459 – Rs. C-212/97 „Centros“ (Rz. 34); EuGHE 2003, I-10155 – Rs. C-
167/01 „Inspire Art“ (Rz. 131).
925 EuGHE 1993, I-1663 – Rs. C-19/92 „Kraus“ (Rz. 32); EuGHE 1995, I-4165 – Rs. C-55/94
„Gebhard“ (Rz. 37); EuGHE 1999, I- 459 – Rs. C-212/97 „Centros“ (Rz. 34); EuGHE
2003, I-10155 – Rs. C-167/01 „Inspire Art” (Rz. 133); EuGHE 2004, 0000 – Rs. C-9/02
„Lasteyrie du Saillant“ (Rz. 49).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Werk befasst sich mit Fragen zur möglichen Strafbarkeit des directors einer englischen Limited nach deutschem Strafrecht und damit mit einem ebenso aktuellen wie vielschichtigen Problem, dessen praktische Relevanz und Zukunftsorientierung nicht genug betont werden kann. Anstoß der Überlegungen sind die Urteile des EuGH in den Rechtssachen „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“, in denen die Bedeutung der Niederlassungsfreiheit insbesondere in Bezug auf die inländische Anerkennung von sog. Scheinauslandsgesellschaften behandelt werden. Die Autorin analysiert die Auswirkungen dieser viel beachteten Rechtsprechung auf das deutsche Strafrecht. Im Zuge dessen werden ausgewählte deutsche Strafnormen auf ihre Relevanz im Lichte der EuGH-Rechtsprechung näher untersucht. Ferner gibt sie einen Überblick über die Haftungsmöglichkeiten eines directors einer Limited nach englischem Gesellschaftsrecht und untersucht intensiv verschiedene Haftungsvorschriften nach englischem Strafrecht. Schließlich geht das Buch auf die Reform des GmbH-Gesetzes ein und schließt mit einer Stellungnahme zu den relevanten geplanten Änderungen.