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denkbar.76 Strafvorschriften dürfen danach „[...] weder zu einer Diskriminierung von
Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken.“77
Der angesprochene Grundsatz „Der Staat darf auf alle Handlungen, die auf seinem Territorium begangen werden, seine Strafgesetze anwenden [...]“78 ist insofern
dahingehend zu modifizieren, als eine Anwendbarkeit der deutschen Strafgesetze
unter der Prämisse der Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht steht. Dabei ist
festzuhalten, dass grundsätzlich auch auf jedermann anzuwendende Strafvorschriften einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht in Form eines Eingriffs in eine Grundfreiheit darstellen können.
Die Entwicklung zeigt, dass der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die nationale Gestaltung und Anwendung des Rechts und die nationale Rechtsprechung mitunter wesentlich sein kann. Die Grenzen, wann der europarechtliche Einfluss beginnt und endet sind fließend. Eine denkbare weitere Entwicklungsstufe in Richtung
Rechtsvereinheitlichung stellt die Entstehung eines für alle EU-Mitgliedstaaten geltenden, supranationalen Kriminalstrafrechts dar. In diesem Zusammenhang stellt
sich die spannende Frage, ob die Gemeinschaft ein eigenes, gleichsam supranationes
Kriminalstrafrecht entwickeln kann, oder ob ein solches in Ansätzen bereits existent
ist:79
II. Exkurs: supranationales Strafrecht
Wie bereits festgestellt, ist auch der Bereich des Strafrechts, das der Souveränität
des Staates in großem Maße Ausdruck verleiht, wie auch die übrigen Rechtsbereiche
der Mitgliedstaaten keine gemeinschaftsrechtsfreie Materie. Eine Kompetenz der
Europäischen Gemeinschaft, „supranationales Strafrecht“ zu entwickeln, erfordert
nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 EG konkrete
Kompetenzvorschriften, auf die europäisches Strafrecht im materiellen Sinne gestützt werden könnte.80 Zwar gibt es im EG-Vertrag Vorschriften81, die aufgrund ih-
76 Vgl. EuGHE 1989, 195 – Rs. 186/87 „Cowan“ (Rz. 19); EuGHE 1998, I-7637 – Rs. C-
274/96 „Bickel“ (Rz. 17); EuGHE 1999, I-11 – Rs. C-348/96 „Calfa“ (Rz. 17); EuGH Rs.
338/04 u.a. „Placanica“ (Rz. 68) (noch nicht in der Entscheidungssammlung veröffentlicht).
77 EuGHE 1989, 195 – Rs. 186/87 „Cowan“ (Rz.19).
78 Oehler, Internationales Strafrecht, Rn. 152.
79 Diese sehr komplexe Thematik kann und soll hier lediglich angerissen werden. Für eine
ausführliche Darstellung der Problematik vgl. Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts,
S. 57 ff; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7; Ambos, Internationales
Strafrecht, § 11; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 83, 90 ff.
80 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 92; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 24 ff., 30; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 1 Rn, 35, § 4 Rn. 54,
72 ff..
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rer weiten Fassung den Gedanken aufwerfen, ob nicht darin eine Ermächtigung
i.S.d. Art. 5 EG für den Erlass von Kriminalstrafrecht der Europäischen Gemeinschaft gesehen werden kann. Gegen eine derart weite Auslegung der betreffenden
EG-Vorschriften sprechen jedoch bei einer Vielzahl von Argumenten insbesondere
die folgenden:
Es besteht der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten eine umfassende Gesetzgebungskompetenz besitzen. Als Ausnahmeregelung greift hier das in Art. 5 EG normierte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach ausschließlich bei ausdrücklicher Ermächtigung der Europäischen Gemeinschaft durch die Mitgliedstaaten
der Europäischen Gemeinschaft eine Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich eines
bestimmten Bereiches entsteht. Um diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis gerecht zu
werden, sind vage formulierte Rechtsvorschriften im EG-Vertrag im Zweifel restriktiv und nicht weit auszulegen.
Weiterhin gegen eine extensive Auslegung spricht die vorliegend betreffende
Rechtsmaterie. Im Strafrecht ist wie in kaum einem anderen Rechtsgebiet die Souveränität des Staates, die sich insbesondere in der Inhaberschaft des Strafmonopols
zeigt, verwoben. Eine Übertragung dieses Monopols erfordert konsequenterweise
eine ausdrückliche Regelung.82
Als historisches Argument gegen eine Rechtsetzungskompetenz der Europäischen
Gemeinschaft im Bereich des Kriminalstrafrechts spricht schließlich die weitgehende Überführung der „dritten Säule“ durch den Vertrag von Amsterdam in das Gemeinschaftsrecht, von der jedoch das Strafrecht ausdrücklich ausgenommen und
somit eben nicht in das Gemeinschaftsrecht inkorporiert wurde.83 Dadurch wurde
auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung der intergouvernementalen Kooperation der Vorzug gegenüber einer EG-Rechtsetzungskompetenz gegeben.84
Damit fehlt der Gemeinschaft selbst die Kompetenz zur Schaffung supranationaler Kriminalstraftatbestände85, jedoch kann daraus nicht der Schluss einer gemeinschaftsrechtsfreien Materie gezogen werden.86 Das Strafrecht fällt zwar ebenso wie
81 Beispiele: Art. 308 EG, Art. 83 II lit. a EG, Art. 71 I lit.d EG, vgl. Satzger, Internationales
und Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 24 m.w.N; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn.
91 f.
82 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 135 m.w.N.; Ambos, Internationales Strafrecht, § 11 Rn. 10; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 26 m.w.N.
83 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 138 ff; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 29.
84 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 94, 99.
85 Tiedemann, NJW 1993, 23, 24, 26, 27, 31 m.w.N.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 143; Spindler/Berner, RIW 2004, 7, 15; Ambos, Internationales Strafrecht, § 11
Rn. 4; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 88 m.w.N.; Satzger, Internationales und
Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 2, 22 ff.;.
86 EuGHE 1981, 2595 – Rs. 203/80 „Casati“ (Rz. 27); EuGHE 1998, I-3711- Rs. C-226/97
„Lemmens“ (Rz. 19); EuGHE 1999, I-11 – Rs. C-348/96 „Calfa“ (Rz. 17); EuGHE 2005, I-
7879 – Rs. C-176/03 „Kommission . / . Rat“ (Rz. 47); EuGH Rs. 338/04 u.a. „Placanica“
(Rz. 68) (noch nicht in der Entscheidungssammlung veröffentlicht); Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 152 ff.; Spindler / Berner, RIW 2004, 7, 15 m.w.N.
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das Strafprozessrecht grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft, jedoch bedeutet dies nicht, dass der Gemeinschaft der Erlass strafrechtlicher Maßnahmen verwehrt ist, soweit diese sektorbezogen und nachweislich notwendig sind,
um schwere Defizite bei der Umsetzung der Ziele der Gemeinschaft zu beseitigen.87
Danach steht der Gemeinschaft im Strafrecht für Maßnahmen, die erforderlich sind,
um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts in einem Politikbereich sicherzustellen, eine Annexkompetenz zu, jedoch keine für sich genommen unabhängige
Rechtsetzungskompetenz.
III. Exkurs: Heranziehung auch ausländischen Strafrechts
In Anbetracht der aufgrund der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften möglicherweise drohenden Strafbarkeitslücken, verursacht durch eine Nichtanwendbarkeit bestimmter deutscher Strafrechtsvorschriften
auf Geschäftsleiter einer Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland,88 drängt sich
die Frage auf, ob deutsche Gerichte zur Schließung dieser Lücken auf die Anwendung materiellen ausländischen Strafrechts zurückgreifen können. In anderen
Rechtsgebieten wie zum Beispiel dem Erb- oder Familienrecht wird diese Frage positiv durch das Internationale Privatrecht geregelt.89 Ob auch im materiellen Strafrecht das Heimatrecht quasi mitgebracht werden kann, obgleich die Tat in Deutschland begangen wurde, ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Auch wenn es die
gebräuchliche Bezeichnung der §§ 3 ff. StGB als „Internationales Strafrecht“ nahe
legt, so handelt es sich dennoch nicht um einen mit dem Internationalen Privatrecht
vergleichbaren Regelungsinhalt.90 Die §§ 3 ff. StGB regeln in erster Linie die
Reichweite der innerstaatlichen Strafgewalt und stellen insoweit den Gebietsgrundsatz, auch Territorialitätsprinzip genannt, an die Spitze. Es handelt sich bei den genannten Vorschriften mithin nicht um Kollisionsnormen, sondern um einseitiges
Strafanwendungsrecht.91 Sie verkörpern nach dem „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ den
Grundsatz, dass deutsche Strafgerichte ausschließlich deutsches Strafrecht anwenden.92
87 EuGHE 2005, I-7879 – Rs. C-176/03 „Kommission . / . Rat“ (Rz. 47 ff) betreffend den Bereich des Umweltstrafrechts.
88 Siehe dazu die Ausführungen in den Kapiteln „Relevante Deutsche Strafnormen“ und
„Gründungsrecht als Maßstab“.
89 Vgl. Art. 3 I EGBGB.
90 Statt vieler: MüKo-Ambos, Vor §§ 3-7, Rn. 1.
91 Liebelt, Zum deutschen internationalen Strafrecht, S. 32 ff.; Satzger, Internationales und
Europäisches Strafrecht, § 3 Rn. 4; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, §
5; Ambos, Internationales Strafrecht, § 1 Rn. 2, 5; S / S-Eser,Vor §§3-7 Rn. 1, 60.
92 Staudinger-Großfeld, IntGesR, Rn. 388; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 71; LK-Gribbohm, Vor § 3, Rn. 3; Weller, IPRax 2003, 207, 208 f.; Rönnau
ZGR 2005, 832, 840, 847 m.w.N; MüKo-Kindler, IntGesR, Rn. 534; Schlösser, wistra
2006, 81, 88.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Werk befasst sich mit Fragen zur möglichen Strafbarkeit des directors einer englischen Limited nach deutschem Strafrecht und damit mit einem ebenso aktuellen wie vielschichtigen Problem, dessen praktische Relevanz und Zukunftsorientierung nicht genug betont werden kann. Anstoß der Überlegungen sind die Urteile des EuGH in den Rechtssachen „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“, in denen die Bedeutung der Niederlassungsfreiheit insbesondere in Bezug auf die inländische Anerkennung von sog. Scheinauslandsgesellschaften behandelt werden. Die Autorin analysiert die Auswirkungen dieser viel beachteten Rechtsprechung auf das deutsche Strafrecht. Im Zuge dessen werden ausgewählte deutsche Strafnormen auf ihre Relevanz im Lichte der EuGH-Rechtsprechung näher untersucht. Ferner gibt sie einen Überblick über die Haftungsmöglichkeiten eines directors einer Limited nach englischem Gesellschaftsrecht und untersucht intensiv verschiedene Haftungsvorschriften nach englischem Strafrecht. Schließlich geht das Buch auf die Reform des GmbH-Gesetzes ein und schließt mit einer Stellungnahme zu den relevanten geplanten Änderungen.