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Stimmigkeitskontrolle zu, im Rahmen derer der mit der staatlichen Maßnahme verbundene Eingriff noch einmal hinsichtlich der von ihm ausgehenden Wirkungen in
seiner Gesamtheit einer abschließenden Angemessenheitskontrolle zu unterwerfen
ist. Maßgebliche Kriterien sind hierfür bei Verbunddateien neben ihrer Kumulierung
der Informationseingriffe vor allem die Anzahl und Art der verarbeiteten Daten,
insbesondere der Grad ihrer Sensibilität, der Umstand ihrer nicht anonymisierten
Erfassung, die Verarbeitung von qualifizierten Identitätsmerkmalen und von Angaben aus dem Mentalbereich sowie die Validität weicher Daten. Ferner kommt der
Anzahl und der Art der konkret mit den Daten befassten staatlichen Stellen und der
Art und Weise des Informationseingriffs, insbesondere der automatischen Datenverarbeitung sowie der Heimlichkeit der Datenerhebung und Verarbeitung Bedeutung
bei der Beurteilung der Schwere der mit der Verbunddatei einhergehenden Grundrechtseingriffe zu. Darüber hinaus sind die Zahl der von der Maßnahme betroffenen
Grundrechtsträger und die von der Verbunddatei ausgehenden oder zu befürchtenden Wirkungen und Folgen, insbesondere die gegebenenfalls für den Betroffenen
bestehende Gefahr, Gegenstand staatlicher Ermittlungsmaßnahmen zu werden, eine
eventuelle stigmatisierende Wirkung der Verbunddatei, die Vertiefung und Verfestigung der Datenerhebungseingriffe durch die Datenverarbeitung, die Erweiterung des
Kenntnis von den Informationen erlangenden Behörden- und Personenkreises, der
qualitative Wandel der Daten durch Informationsverdichtung, der Transparenzverlust durch Zweckänderungen sowie die Gefahr der Erstellung von Persönlichkeitsbildern von Relevanz. Als für den Grundrechtsschutz positiver Effekt von Verbunddateien ist die Verhinderung additiver Grundrechtseingriffe anzuführen. Auf der
zweiten Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind die Auswirkungen des Grundrechtseingriffs auf die Allgemeinheit, insbesondere zu erwartende Einschüchterungseffekte zu vergegenwärtigen. Schließlich vermag die Gestaltung der Eingriffsschwellen die Angemessenheit der Informationseingriffe zu beeinflussen (7. Kap.,
B.).
B. Thesen zum ATDG
Die Ausgestaltung der Antiterrordatei als erste gemeinsame Verbunddatei von Polizei und Nachrichtendiensten im ATDG genügt nur teilweise den für Verbunddateien
herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die wesentlichen Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des ATDG beziehen sich auf die materielle und formelle Ausgestaltung der Eingriffsschwellen.
I. So genügt das ATDG dem Trennungsgebot zwar im Hinblick auf die organisatorische Ausgestaltung der Antiterrordatei, da ausweislich der hierfür maßgeblichen §§ 2 Satz 1, 4 Abs. 1 Satz 2, 8 und 11 ATDG eine organisatorische Vereinigung der beteiligten Behörden nicht zu befürchten ist. Auch ist durch den spezifischen Zweck der Antiterrordatei gemäß § 1 Abs. 1 ATDG, die beteiligten
Sicherheitsbehörden bei der Erfüllung ihrer „jeweiligen gesetzlichen Aufgaben“ zur
Aufklärung und Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bun-
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desrepublik Deutschland zu unterstützen, und den in der Regelung zur Datenspeicherung in § 2 Satz 1 ATDG enthaltenen Verweis auf die geltenden Rechtsvorschriften zur Datenerhebung sichergestellt, dass weder neue Aufgaben für die beteiligten
Behörden noch zusätzliche Rechtsgrundlagen für die Datenerhebung mit dem
ATDG geschaffen werden Doch verstößt die Fassung der Zugriffsrechte in § 5 Abs.
1 Satz 1, 3 und 4 ATDG gegen das Trennungsgebot, soweit nach § 2 ATDG auch
Informationen bezüglich legaler Verhaltensweisen in die Antiterrordatei eingespeichert werden, und die Zugriffsrechte des § 5 Abs. 1 Satz 1, 3 und 4 ATDG nicht in
der verfassungsrechtlich gebotenen Weise an das Vorliegen konkreter gefahr- oder
verdachtsbegründender Tatsachen gebunden sind (8. Kap., A.).
II. In das Recht auf informationelle Selbstbestimmung greift das ATDG in
vielfältiger Weise ein. Die einzelnen durch das ATDG legitimierten Informationseingriffe sind die Speicherung und die Zusammenführung der Daten einschließlich
der dadurch bewirkten Informationsverdichtung (§ 2 Satz 1 ATDG), die Recherche
(§ 5 Abs. 1 Satz 1 ATDG), die Trefferanzeige (§ 5 Abs. 1 Satz 2 ATDG), der Direktabruf (§ 5 Abs. 2 ATDG), der Trefferabgleich (§ 6 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. ATDG),
das Stellen eines Übermittlungsersuchens (§ 6 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. ATDG), die
Weitergabe der Daten in Form der automatischen Freischaltung (§ 5 Abs. 1 Satz 3, 4
ATDG) und der konventionellen Übermittlung (§ 6 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. i.V.m. § 7
ATDG), die weitere Verwendung und die Zweckänderung der Daten (§ 6 Abs. 1
Satz 2, Abs. 2 ATDG) (4. Kap., B., II).
III. In den unantastbaren Kernbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung greift die Antiterrordatei allerdings weder in ihrer Ausgestaltung als zweistufige Datei gemäß §§ 3 Abs. 1 Nr. 1 a), 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a) ATDG noch in
ihrer Ausgestaltung als Volltextdatei nach §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 5 Abs. 2 ATDG ein.
Aufgrund der Art und Anzahl der gespeicherten Daten (§ 3 Abs. 1 ATDG), der Anzahl der an der Datei beteiligten Behörden (§ 1 ATDG), des Zwecks der Datei zur
Ersteinschätzung der vom Betroffenen ausgehenden Gefährlichkeit auf dem Gebiet
des internationalen Terrorismus (§ 1 Abs. 1 ATDG), der hiervon ausgehenden Stigmatisierungswirkung und der etwaigen belastenden Folgemaßnahmen sowie der
Heimlichkeit der Informationseingriffe kann die Antiterrordatei zwar als Schritt zum
„gläsernen“ Menschen angesehen werden, sie erlaubt aber insgesamt keine so gravierenden Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Betroffenen in ihrer Komplexität,
als dass von einer Denaturierung zu einem bloßen Datenobjekt gesprochen werden
könnte (8. Kap., B.). Dennoch sind sämtliche aufgrund der Antiterrordatei erfolgende Informationsakte aufgrund der vorbezeichneten Kriterien für den Betroffenen in
hohem Maße belastend und im Stande, den Einzelnen in seiner Grundrechtsaus-
übung besonders nachhaltig zu verunsichern. Daher sind an die Normenklarheit,
insbesondere an die Festlegung der Verwendungszwecke, und die Verhältnismäßigkeit sehr hohe Anforderungen zu stellen (8. Kap., C.).
IV. Die spezifischen Zwecke der durch das ATDG legitimierten Informationseingriffe sind im ATDG insgesamt ausreichend präzise festgelegt; hinsichtlich des
Zwecks des Direktabrufs der erweiterten Grunddaten im Eilfall nach § 5 Abs. 2
ATDG ist eine noch deutlichere Fassung des Verwendungszwecks durch den Ge-
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setzgeber zwar wünschenswert, verfassungsrechtlich jedoch nicht zwingend. Auch
die in § 12 ATDG enthaltene Errichtungsanordnung genügt den im Hinblick auf das
Gebot der Normenklarheit zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen (8.
Kap., D., I., II.).
V. Die Zugriffsrechte des § 5 Abs. 1 Satz 1, 3 und 4 ATDG sind dagegen mit
dem Gebot der Zweckbindung nicht vereinbar, soweit der Polizei gefahren- und
verdachtsunabhängig der Zugriff auf nachrichtendienstliche Daten betreffend legale
Verhaltensweisen gewährt wird. Gleiches gilt für das Direktabrufrecht nach § 5 Abs.
1 Satz 2 und Abs. 2 ATDG, soweit es den beteiligten Behörden ohne nähere Prüfung
ihrer Berechtigung Zugriff auf Daten, die aufgrund besonderer Eingriffsbefugnisse
gewonnen wurden, im Volltext gewährt. Unter diesem Aspekt ist auch die Regelung
der datenschutzrechtlichen Verantwortung nach § 8 Abs. 1 Satz 3 ATDG mangelhaft. Ferner verstößt die weitere Verwendung der in der Antiterrordatei erfassten
Daten zur allgemeinen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nach § 6 Abs. 1 Satz 2
ATDG gegen den Grundsatz der Zweckbindung (8. Kap., D., III).
VI. Die Aufnahme der unter dem besonderen Schutz der Art. 140 GG i.V.m.
Art. 136 Abs. 3 WRV stehenden Religionszugehörigkeit gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 b)
hh) ATDG als besonders sensibles, die Gefahr der Diskriminierung begründendes
Datum verstößt trotz eines entsprechenden Erforderlichkeitsvorbehalts aufgrund der
zweifelhaften Eignung dieser Information zur Aufklärung und Bekämpfung des
internationalen Terrorismus angesichts seiner gegenwärtigen Erscheinungsform in
Gestalt des islamistisch motivierten Terrorismus gegen das Gebot der Datensparsamkeit. Dem gegenüber genügt das Freitextfeld nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 b) rr) ATDG
den hierfür geltenden, aus dem Gebot der Datensparsamkeit fließenden Anforderungen (8. Kap., E.).
VII. Die im ATDG enthaltenen verfahrensrechtlichen und organisatorischen Vorkehrungen genügen nicht dem aufgrund der Eingriffsintensität der Antiterrordatei zu
forderndem Maß und sind auszubauen. Die Regelung des § 2 ATDG ist mit einem
Behörden- oder Dienststellenleitervorbehalt zu versehen. Die Regelung der datenschutzrechtlichen Verantwortung nach § 8 Abs. 1 Satz 3 ATDG hat für Daten, die
aufgrund besonderer Eingriffsbefugnisse gewonnen wurden, eine Rechtmäßigkeitsprüfung auch durch die übermittelnde Stelle vorzusehen. In § 9 Abs. 1 Satz 3 ATDG
ist ein Prüfungsvorbehalt dahingehend, ob die Protokolldaten im Rahmen einer
gerichtlichen Nachprüfung der Informationsakte noch von Bedeutung sein können,
zu normieren. Die undurchsichtigen Regelungen der Speicher-, Lösch- und Prüfpflichten nach § 11 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 ATDG bedürfen einer Überarbeitung.
Auf die Regelung in § 11 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 ATDG, die die Verwendung
gesperrter Daten zum Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter zulässt, ist gänzlich zu verzichten (8. Kap., F.).
VIII. Die strikte Speicherverpflichtung des § 2 ATDG ist aufgrund des Fehlens
eines Rechtmäßigkeitsvorbehalts dergestalt, dass keine Daten in die Datei gestellt
werden, die unter Verstoß gegen die Menschenwürde oder unter schwerwiegendem,
planmäßigem oder willkürlichem Verstoß gegen die Ermächtigungsgrundlage erhoben wurden, verfassungswidrig (8. Kap., G.).
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IX. Als Mittel der Gefahrenvorsorge und Verdachtsgewinnung genügt das
ATDG nur teilweise den in diesem Zusammenhang entwickelten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Eingreifschwelle des § 2 Satz 1 ATDG wird in der vom
Gesetzgeber befürworteten Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „tatsächlichen
Anhaltspunkte“, nach der letztlich schon auf kriminalistischen Erfahrungen beruhende Vermutungen die Speicherungspflicht begründen können, dem Erfordernis
einer konkreten Gefahr nicht gerecht (8. Kap., H., I.). Die Alternative des Unterstützens des Unterstützens in § 2 Satz 1 Nr. 1 b) Alt. 2 ATDG sowie die Variante des
Befürwortens in § 2 Satz 1 Nr. 2 ATDG sind aufgrund ihrer tatbestandlichen Weite
verfassungswidrig. Gleiches gilt für die Regelung der Kontaktpersonen nach § 2
Satz 1 Nr. 3 ATDG, gegebenenfalls i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 b) ATDG (8. Kap., H.,
II.).
X. Die im Rahmen der Verhältnismäßigkeit des ATDG im Übrigen anzustellende Stimmigkeitskontrolle bestätigt den gewonnenen Eindruck der Verfassungswidrigkeit des ATDG in Teilen. Insbesondere ist die bedingungslose Pflicht zur
Speicherung nach § 2 Satz 1 ATDG ohne die Möglichkeit, dass die einspeichernde
Stelle im Einzelfall von der Speicherung absehen darf, wenn dies Gründe des
Grundrechtsschutzes zwingend gebieten, unverhältnismäßig. Dies gilt vor allem für
die erweiterten Grunddaten mit hoher persönlichkeitsrechtlicher Relevanz und in
Bezug auf die Kontaktpersonen. Darüber hinaus ist die Weite der Zugriffsregelung
im Eilfall, § 5 Abs. 2 ATDG, nach dessen Wortlaut bereits die Gefahr einer einfachen Körperverletzung, einer einfachen Nötigung oder eines unbedeutenden Sachschadens den von den herkömmlichen Übermittlungsregelungen losgelösten Direktzugriff auf die erweiterten Grunddaten als eingriffsintensivste Maßnahme rechtfertigen soll, unangemessen, da hiernach die Gefahr besteht, dass die Bindungen, die das
ATDG i.V.m. den fachgesetzlichen Übermittlungsregelungen für den Zugriff auf die
erweiterten Grunddaten im Übrigen bereithält, umgangen werden, und der Einzelne
der eingriffsintensiven Maßnahme schon bei einem lediglich geringen Schadensausmaß ausgesetzt wird (8. Kap., I.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Gemeinsame Verbunddateien der Sicherheitsbehörden auf dem Prüfstand: Kurz nach Inkrafttreten des in Politik und Rechtswissenschaft stark umstrittenen Antiterrordateigesetzes (ATDG) liefert das Werk eine wissenschaftlich fundierte Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der informationellen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im Allgemeinen und der Antiterrordatei im Besonderen. Am Beispiel der Antiterrordatei zeigt die Arbeit die verfassungsrechtlichen Grenzen auf, die das Trennungsgebot und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemeinsamen Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten setzen. Eingebettet werden die Erkenntnisse in die verfassungsrechtliche Diskussion um die Grenzen staatlicher Sicherheitsgewährleistung. Mit ihren Ausführungen zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit bezieht die Arbeit Position zur jüngsten Antiterrorgesetzgebung insgesamt.