249
bekräftigt die Stimmigkeitskontrolle den zuvor gewonnenen Eindruck der Verfassungswidrigkeit des ATDG in Teilen.
II. Die Abwägung kollektiver Sicherheitsinteressen mit dem objektiv-rechtlichen
Gehalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
Auf der zweiten Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist den im Rahmen der
Terrorismusbekämpfung berührten kollektiven Sicherheitsinteressen der objektivrechtliche Gehalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gegenüberzustellen.961 Insoweit können Sicherheitsbedürfnisse der Allgemeinheit über den fundamentalen Staatszweck und die Staatsaufgabe Sicherheit als objektiv-rechtliche
Rechtspositionen in die Abwägung eingestellt werden. Demgegenüber sind die
Auswirkungen der mit der Antiterrordatei einhergehenden Eingriffe auf die Allgemeinheit unter Vergegenwärtigung der Rechtslage im Bereich der inneren Sicherheit
im Übrigen zu berücksichtigen.
Danach bestehen an der Verhältnismäßigkeit der Antiterrordatei ebenfalls erhebliche Zweifel. Zwar ist zuzugestehen, dass die informationelle Vernetzung und verstärkte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zum Schutz der kollektiven Sicherheit gegenüber terroristischen Bedrohungslagen, denen mit den herkömmlichen
Mitteln der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nur noch eingeschränkt beizukommen ist, essentiell ist. Insoweit kann die Einrichtung einer Verbunddatei der
Sicherheitsbehörden und deren Ausgestaltung als Verdachtsgewinnungsdatei als
notwendiges Mittel zur Befriedigung kollektiver Sicherheitsbedürfnisse und des
allgemeinen Gefühls der Unsicherheit angesehen werden.
Allerdings können von der Antiterrordatei aufgrund der großen Streubreite des
Eingriffs mit 13.000 in der Datei erfassten Personen gravierende Einschüchterungseffekte ausgehen. Indem nämlich die einschlägigen Bestimmungen des ATDG - dies
sind insbesondere, wie zuvor erörtert, der Einbezug von Personen, die den Terror
unterstützende Gruppierungen wiederum lediglich unterstützen gemäß § 2 Satz 1 Nr.
1 b) 2. Alt. ATDG, die Erfassung von „Gesinnungstätern“ nach § 2 Satz 1 Nr. 2 Alt.
4 ATDG, die Aufnahme von Kontaktpersonen nach § 2 Satz 1 Nr. 3 ATDG und der
nicht hinreichend beschränkte Zugriff auf die Daten nach § 5 Abs. 1 Satz 1, 3 und 4
ATDG - die Speicherung und den Zugriff auf Daten Unverdächtiger und gänzlich
Unbeteiligter ermöglichen, ist die Antiterrordatei in besonderem Maße geeignet,
Druck zur Verhaltensanpassung auf die Bevölkerung auszuüben. Denn da die vorerwähnten Personengruppen keinen (so im Fall der Kontaktpersonen) bzw. ganz
geringen (so im Fall der Unterstützer und Befürworter) Anlass für ihre Aufnahme in
die Antiterrordatei gegeben haben, und die beteiligten Polizeibehörden unabhängig
vom Vorliegen konkreter gefahr- oder verdachtsbegründender Tatsachen auf Daten
betreffend legale Verhaltensweisen zugreifen können, ist nicht auszuschließen, dass
961 Vgl. 7. Kap., A., IV.
250
durch die Antiterrordatei in ihrer derzeitigen Ausgestaltung in der Bevölkerung ein
Gefühl des Überwachtwerdens und der Eindruck einer allumfassenden staatlichen
Registrierung, der sich kaum einer entziehen kann, hervorgerufen werden. Hierin
liegt die Gefahr begründet, dass sich die einzelnen Grundrechtsträger in verstärktem
Maße veranlasst sehen, durch entsprechende Anpassung ihres Verhaltens und unter
Verzicht auf ihre Grundrechtsausübung möglichst wenig aufzufallen.
Dies gilt in besonderem Maße für Personen, die dem Islam zugehören oder aus
vorrangig islamisch geprägten Ländern kommen und angesichts der Erscheinungsform des gegenwärtigen internationalen Terrorismus als vornehmlich islamistisch
motivierter Terrorismus schon allein deswegen mit einer erhöhten Aufmerksamkeit
und einem verstärkten Interesse der Behörden an ihren Aktivitäten rechnen müssen.
Die Antiterrordatei zielt mit ihrem Zweck, einen Beitrag zur Aufklärung und Bekämpfung des jüngsten internationalen Terrorismus zu leisten, und ausweislich der
in § 3 Abs. 1 Nr. 1 b) hh) ATDG normierten Erfassung der Religionszugehörigkeit
vorrangig auf die Erfassung islamistisch motivierter Personen ab.962 Indem insofern
das ATDG als Auswahl- und Beurteilungskriterium hinsichtlich des von einer Person ausgehenden Gefährdungspotentials die Religionszugehörigkeit heranzieht,
begründet sie in besonders nachhaltiger Weise die Gefahr der Reproduktion von
Vorurteilen gegen die islamische Religionsgemeinschaft und Bevölkerungsgruppe in
der Gesellschaft und die insofern bestehende Gefahr der Stigmatisierung und Diskriminierung963 eines Teil der Bevölkerung, der bereits Zielsubjekt vielfältiger staatlicher Maßnahmen ist.964 Sie kann damit insgesamt zu einer Ausgrenzung einer
Personengruppe beitragen, die mit einem auf Integration und Gleichheit ausgerichteten Gemeinwesen im elementaren Widerspruch steht.
Die Datei vermag folglich in einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung
Missbrauchsgefahren hervorzurufen, die die Grundrechtsausübung beeinflussen
können. Dies ist mit dem objektiven Gehalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht zu vereinbaren. Denn Selbstbestimmung ist eine „elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens“ und besteht auch im Interesse des Gemeinwohls.965 Der Verzicht auf die Ausübung grundgesetzlich
verbürgter Rechte aus Angst vor staatlicher Kenntnisnahme und behördlicher Registrierung ist mit einer Wertordnung, die die Würde und Freiheit des Einzelnen als
oberste Verfassungswerte ansieht, nicht zu vereinbaren. Insofern stehen insbesondere § 2 Satz 1 Nr. 1 b) 2. Alt. ATDG, § 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 4 ATDG, § 2 Satz 1 Nr. 3
ATDG, § 5 Abs. 1 Satz 1, 3 und 4 ATDG und § 3 Abs. 1 Nr. 1 b) hh) ATDG auch
im Hinblick auf den objektiv-rechtlichen Gehalt des Rechts auf informationelle
962 S. hierzu auch die amtliche Begründung zum GDG, BT-Dr. 16/2950, S. 15, 16, 18.
963 Vgl. zum Diskriminierungspotential der Heranziehung der Religionszugehörigkeit als Auswahlkriterium etwa BVerfG NJW 2006, 1939 (1944).
964 Zur gleichheitswidrigen informationellen Behandlung von Ausländern s. Weichert, Grundrechte-Report 2002, 36; Hirsch, Grundrechte-Report 2002, 15 (21).
965 BVerfGE 65, 1 (43).
251
Selbstbestimmung trotz Berücksichtigung der herausragenden Bedeutung der Gewährleistung kollektiver Sicherheit als Staatszweck und Staatsaufgabe nicht im
Einklang mit der Verfassung.
J. Hinweis auf Reformbedarf
Die wesentlichen Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des ATDG beziehen sich auf die materielle und formelle Ausgestaltung der Eingriffsschwellen. So
müssen die Voraussetzungen der Speicherung und des Zugriffs deutlich enger gefasst werden. Die Erfassung der Daten nach § 2 Satz 1 ATDG und die Zugriffsrechte
des § 5 Abs. 1 Satz 1, 3 und 4 ATDG müssen an das Vorliegen konkreter gefahroder verdachtsbegründender Tatsachen gebunden werden. Die Normierung der
strengen Speicherungspflicht des § 2 Satz 1 ATDG sollte um eine Ausnahmeregelung für Fälle, in denen Belange des Grundrechtsschutzes den Verzicht auf die Speicherung zwingend gebieten, ergänzt werden. Des Weiteren ist durch einen Rechtmäßigkeitsvorbehalt in § 2 ATDG sicherzustellen, dass keine Daten in die Datei
gestellt werden, die unter Verstoß gegen die Menschenwürde oder unter schwerwiegendem, planmäßigem oder willkürlichem Verstoß gegen die Ermächtigungsgrundlage erhoben wurden. Die Alternative des Unterstützens des Unterstützens in § 2
Satz 1 Nr. 1 b) Alt. 2 ATDG sowie die Variante des Befürwortens in
§ 2 Satz 1 Nr. 2 ATDG sind zu streichen. Der Begriff der Kontaktperson nach § 2
Satz 1 Nr. 3 ATDG ist im Hinblick auf die Art der von ihr zu erwartenden Hinweise
weiter zu konkretisieren. Da erweiterte Grunddaten von Kontaktpersonen nicht erfasst werden dürfen, ist die Variante der Kontaktpersonen aus § 3 Abs. 1 Nr. 1 b)
ATDG zu streichen. Die Zugriffsregelung im Eilfall, § 5 Abs. 2 ATDG, ist enger zu
fassen. Zum einen ist schon im Gesetzestext dafür Sorge zu tragen, dass nicht bereits
die Gefahr einer einfachen Körperverletzung, einer einfachen Nötigung oder eines
unbedeutenden Sachschadens zum Direktabruf der erweiterten Daten berechtigt.
Zum anderen ist sicherzustellen, dass den beteiligten Behörden nicht ohne nähere
Prüfung ihrer Berechtigung Zugriff auf Daten, die aufgrund besonderer Eingriffsbefugnisse gewonnen wurden, im Volltext gewährt wird. Die weitere Verwendung der
in der Antiterrordatei erfassten Daten zur allgemeinen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 ATDG verstößt gegen den Grundsatz der Zweckbindung und ist ebenfalls zu streichen. Auch auf die Aufnahme der Religionszugehörigkeit ist zu verzichten.
Die verfahrensrechtlichen und organisatorischen Vorkehrungen sind auszubauen.
Die Regelung des § 2 ATDG sollte mit einen Behörden- oder Dienststellenleitervorbehalt versehen werden. Die Regelung der datenschutzrechtlichen Verantwortung
nach § 8 Abs. 1 Satz 3 ATDG hat für Daten, die aufgrund besonderer Eingriffsbefugnisse gewonnen wurden, eine Rechtmäßigkeitsprüfung auch durch die übermittelnde Stelle vorzusehen. In § 9 Abs. 1 Satz 3 ATDG ist ein Prüfungsvorbehalt dahingehend, ob die Protokolldaten im Rahmen einer gerichtlichen Nachprüfung der
Informationsakte noch von Bedeutung sein können, zu normieren. Die undurchsich-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Gemeinsame Verbunddateien der Sicherheitsbehörden auf dem Prüfstand: Kurz nach Inkrafttreten des in Politik und Rechtswissenschaft stark umstrittenen Antiterrordateigesetzes (ATDG) liefert das Werk eine wissenschaftlich fundierte Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der informationellen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im Allgemeinen und der Antiterrordatei im Besonderen. Am Beispiel der Antiterrordatei zeigt die Arbeit die verfassungsrechtlichen Grenzen auf, die das Trennungsgebot und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemeinsamen Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten setzen. Eingebettet werden die Erkenntnisse in die verfassungsrechtliche Diskussion um die Grenzen staatlicher Sicherheitsgewährleistung. Mit ihren Ausführungen zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit bezieht die Arbeit Position zur jüngsten Antiterrorgesetzgebung insgesamt.