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legitimes Anliegen des Gesetzgebers, das er bei seiner Entscheidung über die Einschränkung von Grundrechten als abwägungsrelevanten Belang berücksichtigen
darf.
Um aber die Freiheitsrechte nicht in ihrem subjektiv-rechtlichen Gehalt auszuhöhlen, ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung, daher auf zwei Ebenen durchzuführen.
Auf der ersten Ebene hat sich der Gesetzgeber um eine konkrete Abwägung der
betroffenen, im Einzelnen zu benennenden Individual- und Gemeinschaftsrechtsgüter unter genauer Bezeichnung der den Rechtsgütern drohenden Gefahren zu bemühen. Spekulativen Annahmen von diffusen, nicht näher bestimmbaren Risiken hat
sich der Gesetzgeber dabei zu enthalten. Kann auf dieser Abwägungsebene die freiheitsbeschränkende Maßnahme gerechtfertigt werden, etwa weil der Eingriff in die
Freiheit des Einzelnen angesichts der zu schützenden Rechtsgüter und der ihnen
drohenden Gefahren nicht so schwer wiegt, so sind auf einer zweiten Ebene die
berührten objektiv-rechtlichen Belange gegeneinander abzuwägen. Hier ist den
kollektiven Sicherheitsinteressen der objektiv-rechtliche Gehalt des betroffenen
Grundrechts gegenüberzustellen und nach den Auswirkungen der Eingriffsmaßnahme auf die Allgemeinheit zu fragen. Im Rahmen dieser Prüfung können auch die
bereits bestehenden Sicherheitsgesetze kritisch einbezogen und die gesamte Rechtslage auf dem Gebiet der inneren Sicherheit gewürdigt werden.814 Offenbart sich
dabei die Tendenz einer Verrechtlichung im Bereich der inneren Sicherheit, die den
Einzelnen zwar im Hinblick auf die einzelnen Maßnahmen allein noch nicht übermäßig einschränkt, in ihrer Gesamtheit aber ein Klima der Überwachung erzeugt,
kann gemäß dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Freiheitsrechte sich das zu beurteilende Gesetzesvorhaben als unverhältnismäßig erweisen. Nur und erst bei verbleibenden, nicht näher aufzuklärenden Zweifeln etwa hinsichtlich des tatsächlichen
Zugewinns an Sicherheit (allerdings unter Zugestehung eines gewissen Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers) oder der Auswirkungen der Eingriffsmaßnahme
auf die Allgemeinheit, ist im vorher erörterten Sinne815 den Freiheitsrechten im
Hinblick auf „das unbedingte Bekenntnis des Grundgesetzes zu den Menschen- und
Bürgerrechten als Ausdruck der geschichtlichen Verantwortung“816 der Vorzug zu
geben. Der Gefahr eines schleichenden Umbaus des Rechtsstaats in den Präventionsstaat kann so im Einzelfall differenziert, insgesamt aber wirksam begegnet werden.
B. Die Verhältnismäßigkeit von Verbunddateien
Viele der im 5. und 6. Kapitel herausgearbeiteten Grenzen von Verbunddateien
fließen aus dem Gebot der Erforderlichkeit und der Angemessenheit der Datenerhe-
814 So auch die Forderung Waechters, JZ 2002, 854 (859f.), ohne allerdings die Gesamtbetrachtung systematisch zu verorten.
815 Vgl. A., II., 2., b., cc.
816 Limbach, Kollektive Sicherheit, S. 7.
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bung und -verarbeitung, wurzeln also im Übermaßverbot. Sie stellen damit speziell
für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung entwickelte, besondere Ausprägungen des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips dar. Auf diese ist bei der
verfassungsrechtlichen Beurteilung von Informationseingriffen vorrangig abzustellen, da sie spezifische, klar und objektiv überprüfbare Anforderungen an die
Einschränkbarkeit des Grundrechts bereithalten. Dem allgemeinen Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit kommt insofern im Rahmen des Rechts auf informationelle
Selbstbestimmung nur noch die Aufgabe einer Stimmigkeitskontrolle zu. Der mit
der staatlichen Maßnahme verbundene Eingriff in das Grundrecht ist noch einmal
hinsichtlich der von ihm ausgehenden Wirkungen in seiner Gesamtheit einer abschließenden Angemessenheitskontrolle zu unterwerfen, im Rahmen derer bislang
nicht relevant gewordene Besonderheiten der zur Beurteilung anstehenden Maßnahme berücksichtigt werden können. Im Folgenden seien die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Verbunddateien Bedeutung erlangenden Aspekte kurz
skizziert.
I. Der Zweck der Verbunddatei, Geeignetheit und Erforderlichkeit
Jeder Grundrechtseingriff und so auch die bei der Verbunddatei in Frage stehenden
Eingriffe müssen einem legitimen Zweck dienen und zur Erreichung dieses Zwecks
geeignet und erforderlich sein. Bei der Definition des Zwecks kommt dem Gesetzgeber ein breiter politischer Gestaltungsspielraum zu.817 Die Wahrnehmung von
bedeutenden Staatsaufgaben zum Wohle der Allgemeinheit ist grundsätzlich als
legitimes Anliegen anzusehen. Allerdings hat der Gesetzgeber die verfolgten Ziele,
insbesondere die Rechtsgüter, zu deren Schutze er handelt, möglichst konkret zu
benennen. Kollektivinteressen können grundsätzlich erst auf zweiter Ebene unter
Berücksichtigung des objektiv-rechtlichen Gehalts der betroffenen Grundrechte,
insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, in die Abwägung
eingestellt werden.818
Hinsichtlich der Auswahl der zur Zweckverfolgung eingesetzten Mittel kommt
der Legislative ebenfalls ein nur beschränkt überprüfbarer Einschätzungs- und Prognosespielraum zu.819 Hinsichtlich der Geeignetheit der Mittel lässt das BVerfG bereits die „abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung“ genügen, bzw. verlangt, dass
die Maßnahme „nicht von vorneherein untauglich“ ist, sondern „dem gewünschten
Erfolg förderlich“ sein kann.820 Dementsprechend werden Verbunddateien kaum
jemals als ungeeignet anzusehen sein. Bereits die durch die Verbunddatei zu erwartende Verfahrensvereinfachung beim Informationsaustausch und die damit einhergehende Beschleunigung der staatlichen Aufgabenerfüllung begründet grundsätzlich
817 Groß, KJ 35 (2002), 1 (9).
818 Vgl. A., IV.
819 Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 20, Rdnr. 87.
820 Vgl. nur BVerfG NJW 2000, 55 (61) m.w.N.
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die Geeignetheit der Datei und der durch sie einhergehenden Eingriffe. Die große
Streubreite der von der Datei erfassten Daten vermag die Eignung der Datenbank
grundsätzlich nicht in Frage zu stellen, soweit sie nicht bereits durch die schiere
Datenmenge abstrakt in keiner Weise praktisch handhabbar ist und insofern keinerlei Erfolg verspricht.821 Allerdings ist zu vergegenwärtigen, dass bei einem Datenabruf im Online-Verfahren, die im Rahmen der konventionellen Datenübermittlung
erfolgende und zum Verständnis und zur Würdigung der Informationen regelmäßig
erforderliche Kommunikation zwischen der die Daten einstellenden und der abfragenden Behörde unterbleibt. Der tatsächliche Nutzen der abgefragten Daten kann
daher gegebenenfalls zweifelhaft sein. Jedenfalls aber für den standardisierten
Zugriff auf Daten, die keiner interpretatorischen Auswertung bedürfen, ist der Online-Zugriff und insofern die Verbunddatei geeignet.822 Allein bei nicht standardisierten Daten könnte der Prüfung der Geeignetheit der mit der Verbunddatei erfolgenden Eingriffe nähere Aufmerksamkeit zu schenken sein.
Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung ist den verschiedenen Varianten von
Verbunddateien Bedeutung beizumessen. So ist stets zu prüfen, ob der angestrebte
Zweck sich nicht in gleicher Weise durch eine weniger einschneidende Dateienvariante erreichen lässt. Demnach dürfte die Volltextdatei als eingriffsintensivste Form
der Verbunddatei, sofern sie nicht bereits wegen des Eingriffs in den unantastbaren
Kernbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung von vornherein unzulässig ist, kaum zu rechtfertigen sein. Insbesondere kann ihr Nutzen im Vergleich
zur zweistufigen Verbunddatei angezweifelt werden, und vermag sie den schweren
Grundrechtseingriff insofern nicht zu legitimieren. So ist nämlich der regelmäßig
beträchtliche Datenumfang bei Volltextdateien kaum zu bewältigen und begründet
die beim Online-Abruf der Daten im Volltext unterbleibende Kommunikation zwischen den verschiedenen Stellen die Gefahr von Missverständnissen. Darüber hinaus
besteht bei Verbunddateien unter Beteiligung der Nachrichtendienste aufgrund des
bei Volltextdateien in der Regel nur noch in geringem Umfang umsetzbaren Geheimhaltungs- und Quellenschutzes die Gefahr, dass ausländische Partnerdienste
ihre Informationen nicht mehr an die deutschen Behörden weiterleiten, wenn sie
befürchten müssen, dass auch von ihnen nicht autorisierte Stellen im Rahmen des
Volltextverbundes Kenntnis von den Daten erhalten.823
II. Angemessenheit
Das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt, dass „die Schwere
des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der
821 BVerfG NJW 2000, 55 (57); BVerfG NJW 2006, 1939 (1941).
822 Scherzberg, in: Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, S. 222.
823 So die geäußerte Befürchtung im Gesetzgebungsverfahren zur Antiterrordatei, Plenarprotokoll 16/71, S. 7094.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Gemeinsame Verbunddateien der Sicherheitsbehörden auf dem Prüfstand: Kurz nach Inkrafttreten des in Politik und Rechtswissenschaft stark umstrittenen Antiterrordateigesetzes (ATDG) liefert das Werk eine wissenschaftlich fundierte Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der informationellen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im Allgemeinen und der Antiterrordatei im Besonderen. Am Beispiel der Antiterrordatei zeigt die Arbeit die verfassungsrechtlichen Grenzen auf, die das Trennungsgebot und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemeinsamen Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten setzen. Eingebettet werden die Erkenntnisse in die verfassungsrechtliche Diskussion um die Grenzen staatlicher Sicherheitsgewährleistung. Mit ihren Ausführungen zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit bezieht die Arbeit Position zur jüngsten Antiterrorgesetzgebung insgesamt.