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Schutzinteresse als objektivem Belang steht zunächst kein gleichermaßen verkollektiviertes Abwehrrecht, sondern eine herkömmlich subjektive Rechtsposition gegen-
über.774 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung läuft insofern Gefahr, zu einer normativ
konturenlosen Abwägung zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit
zu verkommen.775 Und so lässt die von der Legislative vorzunehmende Abwägung
zwischen den betroffenen Grundrechten und den zu schützenden Individualrechtsgütern und Allgemeinwohlbelangen zusehends eine differenzierte Auseinandersetzung
mit den Rechten der Betroffenen und die gebotene Zurückhaltung bei der Einschränkung grundrechtlicher Freiheitsrechte vermissen.
Insgesamt gerät die Verhältnismäßigkeitsprüfung in eine Schieflage zugunsten
der Sicherheit, die das Ergebnis der Abwägung bereits vorzeichnet und eine Angemessenheitsprüfung insofern letztlich überflüssig macht. Die rechtliche Aushöhlung
der Abwägung steht aber im Widerspruch zu entscheidenden Grundrechtslehren und
Verfassungsverbürgungen.
IV. Der Ausweg aus der „Quadratur des Kreises“
Eine angemessene Lösung dieses Problems kann nicht darin bestehen, den „untrennbaren Sach- und Sinnzusammenhang“776 zwischen Sicherheit und Freiheit
zugunsten eines der beiden Prinzipien abstrakt zu durchbrechen. Der Ausweg kann
vielmehr nur darin liegen, der Verhältnismäßigkeitsprüfung wieder Konturen zu
verleihen, die sie handhabbar und im Einzelfall nachvollziehbar gestalten.
Das BVerfG versucht, den derzeitigen Entwicklungen, die durch Eingang der oben777 beschriebenen neuen Sichtweisen in die Verhältnismäßigkeitsprüfung diese
an ihre Grenzen führen, auf insbesondere zwei Wegen entgegenzutreten:
Zum einen erkennt das Gericht den aufgezeigten Trend zur Entkonkretisierung
der Gefahr und zur Entindividualisierung der Adressaten im Bereich der sicherheitsbehördlichen Gefahrenvorsorge und Verdachtsgewinnung und versucht, die hierdurch drohende Konturenlosigkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Einbindung dieser Vorfeldmaßnahmen in den Bereich der Gefahrenabwehr und ihrer
Zurückführung auf die materiellen Determinanten des klassischen Polizeirechts in
den Griff zu bekommen. So postuliert das BVerfG, wie zuvor erörtert778, die Bindung von Maßnahmen der Gefahrenvorsorge und Straftatenverhütung von gewisser
Intensität an das Vorliegen einer konkreten Gefahr779 bzw. eines auf bestimmte
Tatsachen beruhenden Tatverdachts780, statuiert als Voraussetzung der staatlichen
774 Lepsius, Leviathan 2004, 64 (85).
775 Schulze-Fielitz, in: FS f. Schmitt Glaeser, S. 423.
776 Insoweit zutreffend das Sondervotum der Richterin Haas zum Rasterfahndungsurteil des
BVerfG, NJW 2006, 1939 (1950); s. dazu auch die Ausführungen unter A., II., 2., b.
777 Vgl. A., III.
778 Vgl. 6. Kap., F., I.
779 BVerfG NJW 2006, 1939 (1947); BVerfG, 1 BvR 2074/05 vom 11.3.2008, Absatz-Nr. 169.
780 BVerfG NJW 2000, 55 (66).
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Inanspruchnahme eine tatsachengestützte Verbindung zwischen dem Adressaten und
der Gefahr781 und erachtet derartige Maßnahmen nur zum Schutz bedeutender
Rechtsgüter, wie des Lebens, der Gesundheit und der persönlichen Freiheit, für
zulässig782. Das BVerfG versucht insofern, staatliches Sicherheitshandeln auf die
klassischen Bindungen zurückzuführen, an denen die Verhältnismäßigkeitsprüfung
in handhabbarer Weise durchzuführen ist.783
Dies ist sachgerecht und gelingt relativ leicht, solange die zu schützenden
Rechtsgüter konkret benannt werden. Soweit diese jedoch ebenfalls entkonkretisiert
und verkollektiviert werden, scheitert die vom BVerfG versuchte Zurückführung
staatlicher Maßnahmen auf die traditionellen Determinanten. Denn auch das Erfordernis konkreter Gefahren- und Verdachtslagen und die tatsachengestützte Verbindung zwischen Adressat und abzuwehrender Gefahr setzt zunächst eine Antwort auf
die Frage voraus, welchem Rechtsgut im Einzelnen Gefahr droht. Nur dann kann
geprüft werden, ob die drohende Gefahr konkret ist und ob der geforderte Gefahrenbezug zum Inanspruchgenommenen besteht. Wo es allerdings nicht näher spezifizierte kollektive Sicherheitsinteressen zu beschützen gilt, lässt sich die Frage nach
dem Grad der drohenden Gefahr kaum beantworten und ist nahezu jedermann zur
Gefahrenabwehr berufen. Denn Sicherheitsgewährleistung ist letztlich jedermanns
Aufgabe, die allerdings auch auf ebenso vielfältige Weise erfüllt werden kann. Allein durch die Zurückführung des Sicherheitsrechts auf die klassischen Determinanten der Gefahrenabwehr lässt sich die Schieflage, in die die Verhältnismäßigkeitsprüfung durch das Einstellen pauschaler Sicherheitsinteressen geraten ist, nicht beheben.
Zum anderen versucht das BVerfG den vorbezeichneten784 weiteren Trend zur
Verkollektivierung der auf Seiten der Sicherheit in die Verhältnismäßigkeitsprüfung
einzustellenden Rechtsgüter dadurch auszugleichen, dass es verstärkt den objektivrechtlichen Gehalt der Freiheitsrechte betont.785 Das BVerfG hat sich bei seinem
Versuch, die Balance von Sicherheit und Freiheit wiederherzustellen, dem Trend zur
Entindividualisierung der Rechtspositionen auf Seiten der Sicherheit nämlich grundsätzlich nicht entgegengesetzt. Während es sich ausweislich früherer Entscheidungen bislang stets um eine möglichst präzise Benennung des mit einer staatlichen
Maßnahme verfolgten Zwecks und der konkret zu schützenden Rechtsgüter bemüht786 und anhand deren Rang und dem Grad der ihnen drohenden Gefahren die
Verhältnismäßigkeit des staatlichen Handelns überprüft hat, greift auch das BVerfG
781 BVerfG NJW 2000, 55 (66); BVerfG NJW 2006, 1939 (1946).
782 VGH Mannheim NVwZ 2004, 498 (503); SächsVerfGH JZ 1996, 957 (960); s. auch BVerfG
NJW 2000, 55 (66); BVerfG NJW 2001, 879 (881); BVerfG NJW 2001, 2320 (2321).
783 Vgl. hierzu auch die Ausführungen im 6. Kap., F., I., 4.
784 Vgl. A., III.
785 BVerfG NJW 2000, 55 (57, 63); BVerfG NJW 2003, 1787 (1793); BVerfG NJW 2004, 999
(1013); BVerfG, 2 BvR 2099/04 vom 2.3.2006, Absatz-Nr. 87; BVerfG NJW 2006, 1939
(1944); BVerfG, 1 BvR 256/08 vom 11.3.2008, Absatz-nr. 148, BVerfG, 1 BvR 2074/05 vom
11.3.2008, Absatz-Nr. 173.
786 S. etwa BVerfGE 67, 157 (173ff.); BVerfG NJW 2000, 55 (60ff.).
198
zusehends auf den nur schwer fassbaren Zweck der Sicherheitsgewährleistung zurück787. So nannte beispielsweise das BVerfG noch 1984 in seinem „G 10-Urteil“
das „rechtzeitige Erkennen und Begegnen der Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf
die Bundesrepublik Deutschland“ als das von der strategischen Fernmeldekontrolle
zu schützende Rechtsgut.788 Dies wiederholte es 15 Jahre später in seinem „Staubsaugerurteil“789, das ebenfalls die Verfassungsmäßigkeit der strategischen Überwachung des Fernmeldeverkehrs betraf; allerdings stellte das BVerfG in dieser Entscheidung im Rahmen seiner Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Ausweitung der strategischen Fernmeldekontrolle schon verstärkt auf „außenund sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik“ ab.790 Ganz deutlich, so
etwa in seiner Entscheidung zur Rasterfahndung791, betont das Gericht neuerdings
die fundamentale Bedeutung der Sicherheit für das Gemeinwesen und die Rechtsgüter Einzelner und stellt insofern kollektive Sicherheitsbelange und Schutzinteressen
in die Abwägung ein.792.
Daneben aktiviert das BVerfG allerdings gerade in seiner jüngeren Judikatur zusätzlich auf Seiten der Freiheit unabhängig von der individuellen Grundrechtsbetroffenheit den objektiv-rechtlichen Gehalt des betroffenen Grundrechts und verleiht
den Freiheitsaspekten im Rahmen der Abwägung insofern stärkeres Gewicht. So
hob das Gericht im „Staubsaugerurteil“793 und in einem weiteren Urteil794 betreffend
die Einschränkung der Telekommunikation aus dem Jahr 2003 die Bedeutung der
freien Telekommunikation für das Gemeinwesen hervor. Mit der Unverletzlichkeit
des Fernmeldegeheimnisses solle auch vermieden werden, dass der Meinungs- und
Informationsaustausch aus Angst der Betroffenen vor staatlicher Kenntnisnahme
unterbleibt.795 Demnach gewährleiste Art. 10 GG in seinem objektiv-rechtlichen
Gehalt auch die Vertraulichkeit der Telekommunikation in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung.796 Das gleiche hob das BVerfG ein Jahr später in seiner Entscheidung zum „großen Lauschangriff“ für Art. 13 GG hervor, in der es auf die Auswirkungen von Einschüchterungseffekten auf eine unbefangene Kommunikation in der
Gesellschaft hinwies.797 Die Bedeutung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für die „elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten freiheitlichen demokratischen Ge-
787 S. nur BVerfG NJW 2006, 1939 (1942).
788 BVerfGE 67, 157 (173).
789 BVerfG NJW 2000, 55.
790 BVerfG NJW 2000, 55 (60ff.).
791 BVerfG NJW 2006, 1939.
792 S. nur BVerfG NJW 2006, 1939 (1942).
793 BVerfG NJW 2000, 55.
794 BVerfG NJW 2003, 1787.
795 BVerfG NJW 2000, 55 (57, 63).
796 BVerfG NJW 2003, 1787 (1793).
797 BVerfG NJW 2004, 999 (1013).
199
meinwesens“ hat das Gericht bereits im „Volkszählungsurteil“ und in seiner nachfolgenden Judikatur betont.798
Das BVerfG vollzieht insofern die Verobjektivierung der Rechtspositionen auch
auf Seiten der Freiheit nach. Darin ist das Bemühen des Gerichts zu erblicken, die
Schieflage, die durch die Verkollektivierung des Sicherheitszwecks im Rahmen der
Abwägung eingetreten ist, auszugleichen. Der individuell-subjektivrechtlichen Abwehrposition des Grundrechts wird ein kollektives Interesse des Gemeinwesens an
der Enthaltung staatlicher Eingriffe in die Kommunikationsgrundrechte zur Seite
gestellt. Das vormals rein individuelle Abwehrrecht des Einzelnen, das sich nur
schwer gegen kollektive Sicherheitsinteressen der staatlichen Gemeinschaft zu behaupten vermag, wird damit ein objektives, ebenfalls im Kollektivinteresse stehendes Gewicht verliehen, das eine ranggleiche Abwägung kollektiver Belange erlaubt.
So sehr diese die Freiheitsrechte stärkende Judikatur auch zu begrüßen ist, so
verwundert es doch zunächst, dass der vom BVerfG eingeschlagene Lösungsweg die
Verkollektivierung des Sicherheitszwecks durch die Legislative unkritisch übernimmt und erst auf Seiten der Freiheit den Ausgleich sucht. Die Verobjektivierung
der Rechtspositionen vermag nämlich letztlich nicht der individual-rechtlichen,
subjektiv-abwehrrechtlichen Position der Freiheitsrechte gerecht zu werden, da die
Grundrechte nunmehr vornehmlich in ihrem objektiv-rechtlichen Gehalt gesehen
werden. Dies begründet die bereits oben beschriebene Gefahr, dass nicht mehr die
Freiheit des Einzelnen, sondern nur noch die Freiheit der Allgemeinheit gewürdigt
wird, und der Einzelne lediglich als Rechtsreflex Schutz genießt.
Näher und dem Charakter der Freiheitsrechte als individuelle Abwehrrechte des
Einzelnen besser entsprechend würde daher zunächst die Überlegung liegen, schon
auf Seiten der Sicherheit die Ausgewogenheit der Rechtspositionen herzustellen,
indem der Verkollektivierung und Entindividualisierung der Rechtsgüter ein Riegel
vorgeschoben wird. Dieser könnte etwa darin bestehen, die Legislative durch die
Auferlegung von Begründungspflichten799 zu zwingen, die konkret bedrohten
Rechtsgüter zu benennen, anstatt sich auf den pauschalen Hinweis auf bestehende
Sicherheitsdefizite zurückzuziehen. Danach müsste der Gesetzgeber die Rechtsgüter
und die ihnen bei Tolerierung der Mängel im Bereich der inneren Sicherheit drohende Gefahr so konkret bezeichnen, dass nachvollziehbar wird, warum die für den
angestrebten Zugewinn an Sicherheit zu erduldende Beschränkung der Freiheit als
hinnehmbar erscheint.800 Dies hätte den Vorteil, dass damit die Verhältnismäßigkeitsprüfung von schwer fassbaren Kollektivinteressen auf konkrete, leichter handhabbare Rechtsgüter zurückgeführt wird.
Die Bedeutung von Begründungspflichten für die rechtsstaatliche Kontrolle und
die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns hat die Judikatur schon früh erkannt,
allerdings zuvörderst auf die Exekutive bezogen. So hat etwa das BVerfG bereits in
798 BVerfGE 65, 1 (43); BVerfG, 2 BvR 2099/04 vom 2.3.2006, Absatz-Nr. 87; BVerfG NJW
2006, 1939 (1944); BVerfG, 1 BvR 2074/05 vom 11.3.2008, Absatz-Nr. 173.
799 Kritisch hierzu Groß, KJ 35 (2002), 1 (14ff.).
800 So auch Kniesel, ZRP 1996, 482 (487).
200
seinem „G 10-Urteil“ der Normierung behördlicher Begründungspflichten durch das
den Grundrechtseingriff legitimierende Gesetz für die Frage der Angemessenheit
des Eingriffs besonderes Gewicht beigemessen.801 Dabei hat es als Voraussetzung
der Zulässigkeit der behördlichen Anordnung die konkrete, nachprüfbare Begründung der Eingriffsvoraussetzungen genannt und „unsubstantiierte Hinweise“ für
nicht ausreichend erachtet.802
Das Erfordernis der substantiierten Benennung der zu schützenden Rechtsgüter
und der ihnen drohenden Gefahren muss aber nicht nur für die Exekutive, sondern in
gleichem Maße für die Legislative gelten. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich,
nicht auch dem Gesetzgeber - unter Berücksichtigung seines gesetzgeberischen
Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums und der Tatsache, dass ein Gesetz regelmäßig eine gewisse Abstraktheit aufweisen muss, um flexibel auf im Zeitpunkt des
Gesetzgebungsverfahrens noch nicht voraussehbare Fallkonstellationen reagieren zu
können - die Pflicht zur substantiierten Bezeichnung der Rechtsgüter und der ihnen
drohenden Gefahren aufzuerlegen, anhand derer die Verhältnismäßigkeit der zu
erduldenden Freiheitsbeschränkung im Hinblick auf den angestrebten Zugewinn an
Sicherheit überprüft werden kann.
Als in diese Richtung zielend kann die Forderung des BVerfG, sowohl den Gesetzeszweck, als auch die Eingriffs- und Verwendungszwecke hinreichend konkret
und präzise zu benennen, angesehen werden, die es insbesondere in jüngeren Entscheidungen wiederholt bekräftigt hat. So hat das BVerfG gerade im Zusammenhang mit der Ausweitung informationeller Befugnisse des Staates verstärkt das aus
dem Grundsatz der Normenklarheit fließende Gebot der bereichsspezifischen und
präzisen Zweckfestlegung betont.803 Schon in seinem „Staubsaugerurteil“ etwa wies
das Gericht auf die gesetzgeberische Pflicht hin, die Gefahrenlagen, auf deren Früherkennung die Überwachung des Fernmeldeverkehrs zielt, und damit letztlich die
Rechtsgüter, deren Schutz die Fernmeldekontrolle dient, genau zu benennen.804 Dies
ist sachgerecht. Denn wenn das Gericht später im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Seiten der zu schützenden Gemeinwohlinteressen das Gewicht der
Ziele und Belange sowie das Ausmaß der Gefahren, die mit den Mitteln der Fernmeldeüberwachung erkannt werden sollen, heranzieht,805 müssen die Rechtsgüter,
denen Gefahr droht, als Bezugspunkt der Prüfung feststehen. Dies gilt für jede Einschränkung grundrechtlicher Freiheiten aufgrund sicherheitsrechtlicher Interessen.
Als jüngeres Beispiel für die Bedeutung dieser eher formellen Aspekte als letztlich entscheidende Voraussetzung für die nachvollziehbare Überprüfung der Ver-
801 BVerfGE 67, 157 (179f.).
802 BVerfGE 67, 157 (180).
803 BVerfG NJW 2000, 55 (57, 65); BVerfG NJW 2004, 2213 (2215); BVerfG, 1 BvR 668/04
vom 27.7.2005, Absatz-Nr. 116; BVerfG NJW 2006, 1939 (1947); BVerfG, 2 BvR 2099/04
vom 2.3.2006, Absatz-Nr. 94; BVerfG, 1 BvR 2368/06 vom 23.2.2007, Absatz-Nr. 46;
BVerfG, 1 BvR 1550/03 vom 13.6.2007, Absatz-Nr. 94ff.; BVerfG, 1 BvR 2074/05 vom
11.3.2008, Absatz-Nr. 93ff.; vgl. hierzu auch die Ausführungen im 6. Kap., A., I., 1.
804 BVerfG NJW 2000, 55 (60).
805 BVerfG NJW 2000, 55 (61).
201
hältnismäßigkeit staatlichen Handelns kann schließlich die Entscheidung des
BVerfG zur „Kontostammdatenabfrage“806 angeführt werden. In dieser Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der automatisierten Abfrage von Kontostammdaten
erachtet das Gericht eine der den Eingriff legitimierenden Regelungen807 für verfassungswidrig, da sie das Instrument der Kontodatenabfrage für eine unübersehbare,
den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nicht genügende Vielzahl
von Gesetzeszwecken zur Verfügung stelle808, weist aber gleichzeitig darauf hin,
dass die Regelung selbst verhältnismäßig sei, soweit sie den bislang allein im behördlichen Anwendungserlass genannten, gesetzlich noch zu normierenden Aufgaben und Zwecken dient809. Ähnliches gilt für das Urteil des BVerfG zur automatischen Erfassung von KFZ-Kennzeichen.810 Auch in dieser Entscheidung erklärt das
Gericht die der Informationsmaßnahme zugrunde liegende Ermächtigungsgrundlage
für verfassungswidrig, da lediglich das Mittel zum Zweck, nicht aber Anlass und
Zweck der Datenverarbeitung selbst ausreichend präzise bestimmt werden.811
Die Urteile schreiben somit die schon früher gewonnene Erkenntnis fort, dass
sich der Mangel hinreichender Normenklarheit und Bestimmtheit auch auf die Verhältnismäßigkeit auswirkt.812 Erst wenn Klarheit über das gefährdete Rechtsgut und
über die dieses gefährdende Handlung herrscht, kann das für die Abwägung entscheidende Kriterium der Schwere der dem Rechtsgut drohenden Gefahr beurteilt
werden.813 Erst durch die Benennung der konkreten Ziele, denen der Grundrechtseingriff dient, sieht sich das Gericht zutreffender Weise in der Lage, das freiheitsbeschränkende Gesetz auf seine Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen. Demnach hat der Gesetzgeber die mit der staatlichen Maßnahme zu schützenden Rechtsgüter und die ihnen drohenden Gefahren konkret zu benennen und darf er sich bei
der Rechtfertigung von Eingriffen in die Freiheitsrechte nicht auf den unsubstantiierten Hinweis auf kollektive Sicherheitsbelange zurückziehen.
Allerdings bleibt bei dieser Vorgehensweise der Verfassungsrang des Sicherheitszwecks als zuvörderst im Interesse des Gemeinwesens zu verwirklichender
Wert gänzlich außen vor. Die Gewährleistung der Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht ist nun mal eine im Interesse aller Bürger zu verwirklichende Aufgabe der Staatsgewalt, die in ihrem Kollektivbezug anzuerkennen
ist. Die Rückführung dieser Aufgabe allein auf die grundrechtlich verbürgten
Rechtsgüter Einzelner oder der Gemeinschaft wird dem Charakter der Sicherheit als
Staatszweck, Staatsaufgabe und Staatszielbestimmung nicht gerecht. Die Gewährleistung kollektiver Sicherheit als fundamentaler Staatszweck ist grundsätzlich ein
806 BVerfG, 1 BvR 1550/03 vom 13.6.2007.
807 § 93 Abs. 8 AO.
808 BVerfG, 1 BvR 1550/03 vom 13.6.2007, Absatz-Nr. 104.
809 BVerfG, 1 BvR 1550/03 vom 13.6.2007, Absatz-Nr. 129ff.
810 BVerfG, 1 BvR 2074/05 vom 11.3.2008.
811 BVerfG, 1 BvR 2074/05 vom 11.3.2008, Absatz-Nr. 93ff.
812 So schon BVerfG NJW 2004, 2213 (2216); BVerfG, 1 BvR 668/04 vom 27.7.2005, Absatz-
Nr. 147.
813 BVerfG NJW 2004, 2213 (2216).
202
legitimes Anliegen des Gesetzgebers, das er bei seiner Entscheidung über die Einschränkung von Grundrechten als abwägungsrelevanten Belang berücksichtigen
darf.
Um aber die Freiheitsrechte nicht in ihrem subjektiv-rechtlichen Gehalt auszuhöhlen, ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung, daher auf zwei Ebenen durchzuführen.
Auf der ersten Ebene hat sich der Gesetzgeber um eine konkrete Abwägung der
betroffenen, im Einzelnen zu benennenden Individual- und Gemeinschaftsrechtsgüter unter genauer Bezeichnung der den Rechtsgütern drohenden Gefahren zu bemühen. Spekulativen Annahmen von diffusen, nicht näher bestimmbaren Risiken hat
sich der Gesetzgeber dabei zu enthalten. Kann auf dieser Abwägungsebene die freiheitsbeschränkende Maßnahme gerechtfertigt werden, etwa weil der Eingriff in die
Freiheit des Einzelnen angesichts der zu schützenden Rechtsgüter und der ihnen
drohenden Gefahren nicht so schwer wiegt, so sind auf einer zweiten Ebene die
berührten objektiv-rechtlichen Belange gegeneinander abzuwägen. Hier ist den
kollektiven Sicherheitsinteressen der objektiv-rechtliche Gehalt des betroffenen
Grundrechts gegenüberzustellen und nach den Auswirkungen der Eingriffsmaßnahme auf die Allgemeinheit zu fragen. Im Rahmen dieser Prüfung können auch die
bereits bestehenden Sicherheitsgesetze kritisch einbezogen und die gesamte Rechtslage auf dem Gebiet der inneren Sicherheit gewürdigt werden.814 Offenbart sich
dabei die Tendenz einer Verrechtlichung im Bereich der inneren Sicherheit, die den
Einzelnen zwar im Hinblick auf die einzelnen Maßnahmen allein noch nicht übermäßig einschränkt, in ihrer Gesamtheit aber ein Klima der Überwachung erzeugt,
kann gemäß dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Freiheitsrechte sich das zu beurteilende Gesetzesvorhaben als unverhältnismäßig erweisen. Nur und erst bei verbleibenden, nicht näher aufzuklärenden Zweifeln etwa hinsichtlich des tatsächlichen
Zugewinns an Sicherheit (allerdings unter Zugestehung eines gewissen Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers) oder der Auswirkungen der Eingriffsmaßnahme
auf die Allgemeinheit, ist im vorher erörterten Sinne815 den Freiheitsrechten im
Hinblick auf „das unbedingte Bekenntnis des Grundgesetzes zu den Menschen- und
Bürgerrechten als Ausdruck der geschichtlichen Verantwortung“816 der Vorzug zu
geben. Der Gefahr eines schleichenden Umbaus des Rechtsstaats in den Präventionsstaat kann so im Einzelfall differenziert, insgesamt aber wirksam begegnet werden.
B. Die Verhältnismäßigkeit von Verbunddateien
Viele der im 5. und 6. Kapitel herausgearbeiteten Grenzen von Verbunddateien
fließen aus dem Gebot der Erforderlichkeit und der Angemessenheit der Datenerhe-
814 So auch die Forderung Waechters, JZ 2002, 854 (859f.), ohne allerdings die Gesamtbetrachtung systematisch zu verorten.
815 Vgl. A., II., 2., b., cc.
816 Limbach, Kollektive Sicherheit, S. 7.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Gemeinsame Verbunddateien der Sicherheitsbehörden auf dem Prüfstand: Kurz nach Inkrafttreten des in Politik und Rechtswissenschaft stark umstrittenen Antiterrordateigesetzes (ATDG) liefert das Werk eine wissenschaftlich fundierte Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der informationellen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im Allgemeinen und der Antiterrordatei im Besonderen. Am Beispiel der Antiterrordatei zeigt die Arbeit die verfassungsrechtlichen Grenzen auf, die das Trennungsgebot und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemeinsamen Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten setzen. Eingebettet werden die Erkenntnisse in die verfassungsrechtliche Diskussion um die Grenzen staatlicher Sicherheitsgewährleistung. Mit ihren Ausführungen zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit bezieht die Arbeit Position zur jüngsten Antiterrorgesetzgebung insgesamt.