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gründung nach daher nie Selbstzweck, sie findet ihre Rechtfertigung erst in dem
Schutz der Freiheit. Dort, wo sie der Freiheit nicht mehr dient, findet sie ihr Ende.
Ein Staat, in dem es keine Freiheit mehr zu sichern gibt, entbehrt jeder Legitimation.
Ein Staat, in dem die Sicherheit zum Selbstzweck wird, ist nicht mehr Rechtsstaat,
sondern Präventionsstaat. Nur in diesem Sinne ist der These Denningers beizupflichten, nach der „die an Freiheit und Autonomie des Einzelnen orientierte
Funktionslogik des liberalen Rechtsstaats und die an Sicherheit und Effizienz orientierte Logik des Sicherheits- oder Präventionsstaats“ sich einander tendenziell ausschließen.765 Die den Präventionsstaat kennzeichnenden Versuche, staatliches Handeln zum Zwecke der Risikoabwehr und -verhütung von den Determinanten des
polizeirechtlichen Gefahr- und Störerbegriffs zu lösen und die Beweislast der Gefährlichkeit zu Lasten des Bürgers umzukehren, sind daher nur in den durch die
Freiheitsrechte gesetzten Grenzen zulässig. Ist der Dienst der Sicherheit an der Freiheit zweifelhaft, muss Sicherheitsgewährleistung durch Freiheitseinschränkung
daher notwendig unterbleiben. In letzter Konsequenz ist mit diesem Verständnis von
einem Grundsatz „in dubio pro libertate“ auszugehen. Dieser steht aber nicht am
Anfang der Abwägung, sondern an ihrem Ende, greift also nur dort ein, wo die Abwägung der grundsätzlich ranggleichen Werte ein Patt ergibt.
Das Grundgesetz schließt demnach sowohl grenzenlose Freiheit als auch Sicherheit um jeden Preis aus. Absolute Sicherheit kann und darf es nie geben. Der Staat
kann und darf allenfalls ein hohes Maß an Sicherheit versprechen und umsetzen. Die
maßlose Verfolgung eines „unerreichbaren Ideals“766 von optimaler Sicherheit ist
ihm dagegen auch bei neuartigen Herausforderungen durch diffuse Bedrohungen
rechtsstaatlich verwehrt. Nicht die Gewährleistung absoluter Sicherheit, sondern das
zur Verwirklichung eines Höchstmaßes an Freiheit notwendige Maß an Sicherheit
ist das Ideal des Rechtsstaats.767
III. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung als entscheidende grundrechtssichernde Funktion und ihre Auflösung durch Entindividualisierungstendenzen
Das maßgebende verfassungsrechtliche Instrument zur Umsetzung dieses Ideals ist
und bleibt die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dieser kommt demnach die entscheidende grundrechtssichernde Funktion zu. Allerdings stößt vermehrt auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an seine Grenzen. Als Antwort auf die neue Qualität
und Erscheinungsform der kriminellen und terroristischen Bedrohung768 erhalten
nämlich neue Sichtweisen Eingang in die rechtliche Abwägung von Freiheit und
Sicherheit, die die Rechtfertigungslast zum Nachteil der Freiheitsrechte verschieben.
765 Denninger, StV 2002, 96 (97); ders., KJ 35 (2002), 467 (470).
766 Denninger, KJ 35 (2002), 467 (472).
767 So auch Denninger StV 2002, 96 (97); ders., KJ 35 (2002), 467 (472).
768 S. hierzu A., II., 2., b., bb.
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Zunächst führt der Wandel der terroristischen Bedrohung von individualisierbaren Tätergruppen hin zu diffusen Terrornetzwerken, die sich bis zu ihrer Aktivierung
unauffällig in die Rechtsgemeinschaft eingliedern, zu einem Verlust an Bestimmbarkeit der Gefahr und ihrer individuellen Zurechenbarkeit zu einzelnen Tätern. Als
Antwort hierauf werden daher die herkömmlichen polizeirechtlichen Determinanten
des Gefahren- und Störerbegriffs, die eine Konkretisierung und individuelle Zurechenbarkeit der Gefahr verlangen und insofern eine klare Verhältnismäßigkeitsprüfung ermöglichen, zusehends aufgegeben.769 An ihre Stelle treten Maßnahmen der
Gefahrenvorsorge und Verdachtsgewinnung bzw. gänzlich verdachts- und ereignisunabhängige Maßnahmen, die gleichsam alle Bürger als Teil der Gesellschaft und
nicht mehr als Individuum erfassen. Entscheidendes Kriterium in der Abwägung
wird insofern die Entkonkretisierung und Entindividualisierung der Gefahr, die
fortan die Entindividualisierung der Adressaten rechtfertigen soll.770
Daneben wird der Terrorismus als Angriff gegen die Grundordnung des Staates
an sich und gegen das den Bürgern in ihrer Gesamtheit zukommende Gefühl der
Sicherheit begriffen. Nicht die Rechtsgüter der von den Anschlägen konkret bedrohten Personen, sondern die kollektive Sicherheit ist gefährdet, da letztlich jeder Opfer
terroristischer Gewalt werden kann, und sich daher - wie von den Terroristen beabsichtigt - alle Bürger gleichermaßen, also gleichsam als Kollektiv verunsichert fühlen. Die bedrohten Rechtsgüter werden daher nicht mehr individuell, sondern kollektiv betrachtet. Insofern werden auch die in die Abwägung auf Seiten der Sicherheit
einzustellenden Rechtsgüter entindividualisiert und verkollektiviert.771 Kollektive
Sicherheitsinteressen sollen fortan individuelle Grundrechtseingriffe rechtfertigen.
Durch erstere Entwicklung verschiebt sich die Abwägung von individuellen
Rechtspositionen zu einer Abwägung von objektiv-rechtlichen Gesichtspunkten.772
Dies ist auf Seiten der durch den Eingriff zu schützenden Belange deutlich zu sehen
und greift auch auf die Seite der durch die Maßnahme betroffenen Positionen über.
Denn wird bei den verdachtslosen Eingriffen und Vorfeldmaßnahmen die Allgemeinheit der Maßnahme unterworfen, so steht auch nicht mehr die Freiheit des Einzelnen im Vordergrund der Abwägung, sondern die Freiheit der Allgemeinheit. Die
Freiheit des Einzelnen wird insofern zusehends nur noch als Reflex der gesellschaftlichen Freiheit geschützt.773 Dies vernachlässigt die Bedeutung der Freiheitsrechte
als individuelle Abwehrrechte gegen den Staat.
Werden in zweiter Tendenz dagegen kollektive Sicherheitsbelange herangezogen,
um die Einschränkung individueller Rechtspositionen zu rechtfertigen, wird dem
Gesetzgeber der Weg bereitet, Freiheitsverkürzungen Einzelner pauschal durch
gesellschaftliche Sicherheitsbedürfnisse zu legitimieren. Denn dem kollektiven
769 Vgl. dazu 1. Kap., C, I., 2., b. und 6. Kap., F.
770 Ähnlich auch Schulze-Fielitz, in: FS f. Schmitt Glaeser, S. 410ff.; Lepsius, Leviathan 2004,
64 (67, 78ff.).
771 Ähnlich auch Schulze-Fielitz, in: FS f. Schmitt Glaeser, S. 409f.
772 So auch Lepsius, Leviathan 2004, 64 (83).
773 Lepsius, Leviathan 2004, 64 (83).
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Schutzinteresse als objektivem Belang steht zunächst kein gleichermaßen verkollektiviertes Abwehrrecht, sondern eine herkömmlich subjektive Rechtsposition gegen-
über.774 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung läuft insofern Gefahr, zu einer normativ
konturenlosen Abwägung zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit
zu verkommen.775 Und so lässt die von der Legislative vorzunehmende Abwägung
zwischen den betroffenen Grundrechten und den zu schützenden Individualrechtsgütern und Allgemeinwohlbelangen zusehends eine differenzierte Auseinandersetzung
mit den Rechten der Betroffenen und die gebotene Zurückhaltung bei der Einschränkung grundrechtlicher Freiheitsrechte vermissen.
Insgesamt gerät die Verhältnismäßigkeitsprüfung in eine Schieflage zugunsten
der Sicherheit, die das Ergebnis der Abwägung bereits vorzeichnet und eine Angemessenheitsprüfung insofern letztlich überflüssig macht. Die rechtliche Aushöhlung
der Abwägung steht aber im Widerspruch zu entscheidenden Grundrechtslehren und
Verfassungsverbürgungen.
IV. Der Ausweg aus der „Quadratur des Kreises“
Eine angemessene Lösung dieses Problems kann nicht darin bestehen, den „untrennbaren Sach- und Sinnzusammenhang“776 zwischen Sicherheit und Freiheit
zugunsten eines der beiden Prinzipien abstrakt zu durchbrechen. Der Ausweg kann
vielmehr nur darin liegen, der Verhältnismäßigkeitsprüfung wieder Konturen zu
verleihen, die sie handhabbar und im Einzelfall nachvollziehbar gestalten.
Das BVerfG versucht, den derzeitigen Entwicklungen, die durch Eingang der oben777 beschriebenen neuen Sichtweisen in die Verhältnismäßigkeitsprüfung diese
an ihre Grenzen führen, auf insbesondere zwei Wegen entgegenzutreten:
Zum einen erkennt das Gericht den aufgezeigten Trend zur Entkonkretisierung
der Gefahr und zur Entindividualisierung der Adressaten im Bereich der sicherheitsbehördlichen Gefahrenvorsorge und Verdachtsgewinnung und versucht, die hierdurch drohende Konturenlosigkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Einbindung dieser Vorfeldmaßnahmen in den Bereich der Gefahrenabwehr und ihrer
Zurückführung auf die materiellen Determinanten des klassischen Polizeirechts in
den Griff zu bekommen. So postuliert das BVerfG, wie zuvor erörtert778, die Bindung von Maßnahmen der Gefahrenvorsorge und Straftatenverhütung von gewisser
Intensität an das Vorliegen einer konkreten Gefahr779 bzw. eines auf bestimmte
Tatsachen beruhenden Tatverdachts780, statuiert als Voraussetzung der staatlichen
774 Lepsius, Leviathan 2004, 64 (85).
775 Schulze-Fielitz, in: FS f. Schmitt Glaeser, S. 423.
776 Insoweit zutreffend das Sondervotum der Richterin Haas zum Rasterfahndungsurteil des
BVerfG, NJW 2006, 1939 (1950); s. dazu auch die Ausführungen unter A., II., 2., b.
777 Vgl. A., III.
778 Vgl. 6. Kap., F., I.
779 BVerfG NJW 2006, 1939 (1947); BVerfG, 1 BvR 2074/05 vom 11.3.2008, Absatz-Nr. 169.
780 BVerfG NJW 2000, 55 (66).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Gemeinsame Verbunddateien der Sicherheitsbehörden auf dem Prüfstand: Kurz nach Inkrafttreten des in Politik und Rechtswissenschaft stark umstrittenen Antiterrordateigesetzes (ATDG) liefert das Werk eine wissenschaftlich fundierte Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der informationellen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im Allgemeinen und der Antiterrordatei im Besonderen. Am Beispiel der Antiterrordatei zeigt die Arbeit die verfassungsrechtlichen Grenzen auf, die das Trennungsgebot und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemeinsamen Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten setzen. Eingebettet werden die Erkenntnisse in die verfassungsrechtliche Diskussion um die Grenzen staatlicher Sicherheitsgewährleistung. Mit ihren Ausführungen zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit bezieht die Arbeit Position zur jüngsten Antiterrorgesetzgebung insgesamt.