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7. Kapitel: Die Verhältnismäßigkeit von Verbunddateien zum Zweck der
Terrorismusbekämpfung und die mit der Antiterrorgesetzgebung verbundene Diskussion um das Verhältnis von Freiheit
und Sicherheit
Wie alle Eingriffe in Grundrechte Einzelner, müssen auch Eingriffe in das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit gerecht
werden. Dieser mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz folgt aus dem Wesen
der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des bürgerlichen Freiheitsanspruchs gegenüber dem Staat nur soweit eingeschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist.614 Danach muss eine staatliche Maßnahme
einen verfassungslegitimen Zweck verfolgen und zur Erreichung dieses Zwecks
geeignet und erforderlich sein. Der mit ihr verbundene Eingriff in das Grundrecht
darf seiner Intensität nach nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und den
vom Einzelnen hinzunehmenden Einbußen stehen.615 Demnach führen zwar Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person dazu, dass der
Einzelne Einschränkungen seiner Grundrechte im überwiegenden Allgemeininteresse hinzunehmen hat. Der Gesetzgeber hat aber zwischen Allgemein- und Individualinteressen einen angemessenen Ausgleich herbeizuführen.616
Bei Verbunddateien von Sicherheitsbehörden für Zwecke der Terrorismusbekämpfung erlangt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der Informationseingriffe die letztlich jeder Sicherheitsmaßnahme innewohnende Abwägung zwischen kollektiven Sicherheitsinteressen und individuellen Freiheitsrechten besonderes Gewicht. „Der Staat darf und muss terroristischen Bestrebungen - etwa solchen,
die die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben
und die planmäßige Vernichtung von Menschenleben als Mittel zur Verwirklichung
dieses Vorhabens einsetzen - mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegentreten. Auf die rechtsstaatlichen Mittel hat sich der Staat unter dem
Grundgesetz jedoch auch zu beschränken.“617 Ihre Grenze finden Maßnahmen der
Sicherheitsgewährleistung insbesondere in den Freiheitsrechten, mit denen die Belange der Sicherheit nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in einen angemessenen Ausgleich zu bringen sind. Daher soll in diesem Zusammenhang vor der eigentlichen Darstellung der bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Verbunddateien
relevanten Aspekte zunächst als staatstheoretischer Vorgriff auf die im Rahmen der
614 BVerfGE 19, 342 (348f.) st. Rspr.; BVerfGE 65, 1 (44).
615 BVerfGE 27, 344 (352f.); st. Rspr.
616 BVerfG NJW 2000, 55 (61).
617 BVerfG NJW 2006, 1939 (1945).
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Antiterrorgesetzgebung der letzten Jahre neu entflammte Diskussion um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit eingegangen werden.
A. Das staats- und verfassungstheoretische Verhältnis von Freiheit und Sicherheit
Die zahlreichen, zum Teil sehr eingriffsintensiven gesetzgeberischen Maßnahmen
der jüngsten Zeit belegen, dass das verfassungsrechtliche Verständnis von Freiheit
und Sicherheit jedenfalls in der Gesetzgebung seit dem 11. September 2001 dergestalt im Wandel ist, dass kollektive Sicherheitsbedürfnisse zunehmend über Freiheitsrechte Einzelner gestellt werden. Diese Tendenz offenbart sich des Weiteren in
der immer weitergehenden Verlagerung sicherheitsbehördlicher Tätigkeit in den
Vorfeldbereich konkreter Gefahren- und Verdachtslagen. Bei Würdigung der jüngsten gesetzgeberischen Aktivitäten, wie etwa dem ATDG, stellt sich insofern die
Frage, ob der Gesetzgeber Belange der Sicherheit angesichts neuartiger Bedrohungsszenarien ohne weiteres über die Freiheit des Einzelnen stellen darf oder ob
dem neuen Rangverständnis der Legislative verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt
sind. In diesem Zusammenhang ist zunächst kurz darauf einzugehen, inwieweit der
inneren Sicherheit Verfassungsrang etwa als Staatszweck/-aufgabe/-zielbestimmung,
staatlicher Schutzpflicht oder einem individuellen „Grundrecht auf Sicherheit“ zukommt. Im Anschluss daran ist zu untersuchen, ob von Verfassungs wegen ein Verfassungswert höher als der andere zu bewerten ist, etwa indem die Freiheitsrechte
als stets vorrangige Abwehrrechte angesehen werden oder indem die Sicherheit als
abstrakt vorrangige Voraussetzung von Freiheit zu beurteilen ist. Ist kein Rangverhältnis durch das Grundgesetz vorgegeben, kommt der konkreten Verhältnismäßigkeitsprüfung die entscheidende grundrechtssichernde Funktion zu. In rechtsstaatlich
problematischer Weise werden allerdings, wie zu zeigen sein wird, die Gefahren und
Rechtsgüter jüngst vermehrt im Rahmen der Abwägung entkonkretisiert und entindividualisiert, und legitimiert der Gesetzgeber Freiheitsverkürzungen Einzelner
zusehends undifferenziert durch kollektive Sicherheitsbedürfnisse. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung gerät insofern in eine Schieflage zugunsten des Sicherheitszwecks, die das Ergebnis der Abwägung bereits vorzeichnet und eine Verhältnismä-
ßigkeitsprüfung letztlich überflüssig macht. Der Verzicht auf eine Abwägung steht
aber im Widerspruch zu entscheidenden Grundrechtslehren und Verfassungsverbürgungen. Um diesen Widerspruch aufzulösen, ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung
daher in einer Art und Weise durchzuführen, die letztlich nicht ihr eigenes Ergebnis
vorzeichnet. Wie dies erreicht werden kann, ist näher zu untersuchen.
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I. Kollektive Sicherheit als Rechtfertigung für freiheitsbeschränkende Eingriffe und
das Verständnis von Freiheit und Sicherheit im Wandel
Sämtliche freiheitsbeschränkende Maßnahmen der Sicherheitsbehörden können auf
den übergreifenden Zweck der Gewährleistung der inneren Sicherheit zurückgeführt
werden. Der Begriff der inneren Sicherheit bezeichnet weithin den „Schutz und die
Unversehrtheit des jeweils vorhandenen Bestandes individueller und überindividueller Rechte und Güter, den Bestand, die Unversehrtheit und Funktionsfähigkeit der
Organe und Einrichtungen des Staates eingeschlossen“618. Innere Sicherheit als
Pendant zur äußeren Sicherheit verspricht dem Bürger also umfassenden Schutz vor
Gefahren und Straftaten, vor terroristischen und extremistischen Bestrebungen,
sowie vor Staatsstreich.619 Terroristische Aktivitäten berühren Belange der inneren
Sicherheit demnach gleich mehrfach. Denn diese betrachten die Verletzung und
Tötung Einzelner lediglich als Mittel und bloßes Zwischenziel, haben als eigentliches Ziel aber die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie des Bestands und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines
ihrer Länder auserkoren. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist insoweit
ohne Frage ein auf das Wohl der Allgemeinheit gerichteter und insofern legitimer
Zweck, der die Einschränkung grundrechtlicher Freiheiten im Einzelfall zu rechtfertigen vermag. Eingriffe in bürgerliche Freiheitsrechte sind aber auf das notwendige
Maß zu beschränken. Das Verhältnis von kollektiver Sicherheit zu den individuellen
Freiheitsgrundrechten ist demnach die entscheidende Frage im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von staatlichen Sicherheitsmaßnahmen.
Betreffend das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit lässt sich jüngst, verstärkt
insbesondere durch die terroristischen Anschläge in den USA vom 11. September
2001, beginnend aber bereits mit dem erweiterten Kampf gegen besondere Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität, ein grundlegender Verständniswandel
feststellen. Während sich der Gesetzgeber bislang stets um eine angemessene Balance von Freiheit und Sicherheit bemüht hat, ist in der jüngeren Gesetzgebungsgeschichte die Tendenz zu erkennen, kollektiven Sicherheitsbedürfnissen den Vorrang
vor freiheitlichen Errungenschaften einzuräumen.620 So hat die Legislative auf Bundes- und Landesebene auf die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus mit
einer Welle von Gesetzesvorhaben621 reagiert, die zum Teil massive Grundrechtseinschränkungen vorsehen und in ihrer Gesamtheit, nimmt man die bereits
zuvor eingeführten Befugnisse zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität hinzu, den Weg zum Präventionsstaat ebnen.
Erweitert wurden im Zuge der Terrorismusbekämpfung etwa die informationellen
Befugnisse der Sicherheitsbehörden, die unter anderem zum erleichterten Abruf und
618 Götz, in: HdbStR IV, § 85, Rdnr. 1.
619 Kniesel, ZRP 1996, 482 (484f.).
620 So auch Hassemer, in: FG f. Büllesbach, S. 236; ders., Vorgänge, 2002, 10 (11ff.); Schaar,
Innenausschussprotokoll Nr. 16/24, S. 34.
621 S. dazu im Einzelnen Lepsius, Leviathan 2004, 64 (68ff., 75ff.).
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der Übermittlung von Daten, insbesondere aus dem Ausländerzentralregister622, und
zur erleichterten Auskunft über Daten des Zahlungs-623, Post-624, Luft-625 und Telekommunikationsverkehrs626 ermächtigt wurden. Es wurde eine Rechtsgrundlage zur
Aufnahme von biometrischen Merkmalen in Ausweispapiere geschaffen627, sowie
schon länger bestehende Ermittlungsmöglichkeiten erweitert und technisch neue
Möglichkeiten legalisiert. So wurden die Befugnisse zur Rasterfahndung628 und zur
Telekommunikations- und Wohnraumüberwachung629 ausgeweitet. Möglichkeiten
zur Ermittlung des Standorts eines aktiv geschalteten Mobilfunkgerätes und zur
Ermittlung der Geräte- und Kartennummern (IMSI-Catcher) wurden legalisiert.630
Das Luftsicherheitsgesetz wurde durch eine Ermächtigung der Streitkräfte zum
Abschuss ziviler Luftfahrzeuge ergänzt.631
Im Kern dieser Neuerungen steht nicht die Begrenzung des Staates, sondern dessen Aktivierung. Nicht der Schutz vor dem Staat, sondern der Schutz durch den
Staat ist neues Leitmotiv rechtspolitischer Forderungen und legislativer Tätigkeit.632
Und so begnügt sich der Gesetzgeber, statt die einzelnen konkret gefährdeten
Rechtsgüter zu benennen, zusehends mit pauschalen Hinweisen auf Sicherheitsdefizite und vermutete Gewinne an Sicherheit zur Rechtfertigung für freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Die stets neu gebotene Artikulation und Abwägung von Freiheits- und Sicherheitsbedürfnissen im rechtspolitischen Diskurs fällt insgesamt der
Reaktionsgeschwindigkeit, mit der Gesetzgebungsverfahren zu Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen betrieben werden633, zum Opfer.634 So verwundert es zwar nicht,
stimmt aber doch nachdenklich, wenn etwa in der Gesetzesbegründung zum Terrorismusbekämpfungsgesetz 37 Mal von Sicherheit, aber kein einziges Mal von Freiheit die Rede ist.635
622 Z.B. § 18 Abs. 1a BVerfSchG; s. ferner zu den Änderungen des Gesetztes über das Ausländerzentralregister (AZRG), der AusländerdateienVO und der AZRG-DurchführungsVO
(BGBl. I/2002, S. 371ff.).
623 Z.B. § 8a Abs. 2 Nr. 2 BVerfSchG; § 2a BNDG, § 4a MADG.
624 Z.B. § 8a Abs. 1, 2 Nr. 3 BVerSchG, § 2a BNDG, § 4a MADG.
625 Z.B. § 8a Abs. 2 Nr. 1 BverfSchG, § 2a BNDG, § 4a MADG.
626 Z.B. § 8a Abs. 2 Nr. 4, 5 BVerfSchG, § 2a BNDG, § 4a MADG.
627 § 4 Abs. 3 PassG, § 1 Abs. 4 PersAuswG, § 5 Abs. 4 AuslG.
628 Z:B. Art. 44 BayPAG; § 26 HSOG, § 44 ThürPAG.
629 Z.B. § 9 Abs. 2 S. 8-12 BVerfSchG.
630 Z.B. § 9 Abs. 4 BVerfSchG; § 100i StPO.
631 § 14 Abs. 3 LuftSiG.
632 Horn, in: FS f. Schmitt Glaeser, S. 437.
633 S. etwa das Gesetzgebungsverfahren zum Terrorismusbekämpfungsgesetz (BGBl. 2002/I, S.
361, ber. S. 3142), das als Reaktion auf die terroristischen Anschläge in den USA vom
11.9.2001 durch den Bundestag nach nur einstündiger zweiter und dritter Lesung am
14.12.2001 verabschiedet wurde (Plenarprotokoll 14/209 S. 20747ff.), dem der Bundesrat am
20.12.2001 zustimmte (Plenarprotokoll 771, S. 744ff.) und das am 1.1.2002 in Kraft trat; s.
hierzu auch Lepsius, Leviathan 2004, 64 (69f.).
634 Hoffmann-Riem, ZRP 2002, 497 (498); Gusy, VVDStRL 63 (2004), 151 (182).
635 Denninger, StV 2002, 96 (101).
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Die Exekutive macht von den ihr eingeräumten Befugnissen zu Eingriffen in die
Grundrechte in einer oftmals eine gewisse Grundrechtssensibilität und Zurückhaltung vermissenden Weise Gebrauch. So hat sich etwa ausweislich der Unterrichtungen durch das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) seit 2001 allein die Anzahl der nach § 3 G 10 durchgeführten Individualkontrollen nahezu verdoppelt636
und hat sich beispielsweise die Anzahl der von einer strategischen Beschränkung
nach § 5 Abs. 1 Satz 1 und 3 Nr. 2 G 10 zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus betroffenen Telefongespräche in diesem Zeitraum sogar mehr als vervierzigfacht637. Der Nutzen dieser Maßnahmen ist dagegen beschränkt638 und erfolgt eine
wirksame Kontrolle der Effektivität der erlassenen Gesetze und angeordneten Maßnahmen nur hinlänglich zureichend639.
Die breite Bevölkerung ist - in nicht unerheblichem Maße als Folge dieses politischen Aktionismus und der medialen Berichterstattung - zutiefst verunsichert und
fühlt sich einer nicht greifbaren Bedrohung ausgesetzt.640 Dementsprechend ist auch
die Mehrheit der Bürger bereit, zum Teil massive Einschnitte bei der Grundrechtsausübung bereits für ganz geringe und zum Teil gänzlich zweifelhafte Gewinne an Sicherheit hinzunehmen. Die Angst vor Anschlägen überlagert die Furcht vor
einem staatlichen Missbrauch seiner Möglichkeiten und drängt die Gefahr der
zweckwidrigen Verwendung personenbezogener Daten hinter die Gefahr physischer
Verletzungen zurück.641 Nur so ist zu erklären, dass sich gegen Gesetzesvorhaben,
die zuvor keine Chance zur Umsetzung hatten und die nach den Anschlägen vom
11. September 2001 im Schnellverfahren verabschiedet wurden, kein nennenswerter
Widerstand regte.642
636 Von im Durchschnitt ca. 211 Betroffenen im Berichtszeitraum 1.7.2001 bis 30.6.2002 (s. BT-
Dr. 15/718, S. 4) auf durchschnittlich 378 betroffene Personen im Berichtszeitraum 1.1.2006
bis 31.12.2006 (die Zahl der Nebenbetroffenen nach § 3 Abs. 2 Satz 1 G 10 nicht mitgerechnet) (s. BT-Dr. 16/6880, S. 5).
637 Von 9.975 telekommunikationstechnisch übermittelten Nachrichten im Berichtszeitraum
1.7.2001 bis 30.6.2002 (s. BT-Dr. 15/718, S. 6) auf 462.432 Nachrichten im Berichtszeitraum
1.1.2006 bis 31.12.2006 (s. BT-Dr. 16/6880, S. 7).
638 Während sich im Berichtszeitraum 1.7.2001 bis 30.6.2002 von den 9.975 abgehörten Nachrichten noch 73 als nachrichtendienstlich relevant erwiesen und zu weiteren Ermittlungsmaßnahmen führten (s. BT-Dr. 15/718, S. 6), so erwiesen sich im Berichtszeitraum 1.1.2006 bis
31.12.2006 von den 462.432 abgehörten Nachrichten gerade mal neun als nachrichtendienstlich relevant (s. BT-Dr. 16/6880, S. 7).
639 So wurde z.B. ausweislich der Unterrichtungen durch das Parlamentarische Kontrollgremium
(PKGr) im Berichtszeitraum 1.7.2001 bis 30.6.2002 noch etwa ein Viertel der von einer Individualkontrolle nach § 3 G 10 Betroffenen über die Maßnahme unterrichtet (s. BT-Dr.
15/718, S. 4), während sich die Anzahl der Mitteilungen im Berichtszeitraum 1.1.2006 bis
31.12.2006 auf etwa ein Siebtel der Betroffenen reduzierte (s. BT-Dr. 16/6880, S. 6); s. im
Übrigen auch Düx, ZRP 2003, 189 (190); Mertin, RuP 41 (2005), 148 (149).
640 S. dazu Gusy, VVDStRL 63 (2004), 151 (159) m.w.N.; Hetzer, ZRP 2005, 132 (134).
641 So auch die geäußerte Einschätzung der Legislative im Gesetzgebungsverfahrens zur Antiterrordatei, Plenarprotokoll 16/71, S. 7112.
642 Hoffmann-Riem, ZRP 2002, 497 (500); Hetzer, ZRP 2005, 132 (134).
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Erst allmählich mit Abebbung der terroristischen Anschlagswelle in Europa und
der von der Regierung angekündigten und nicht abreißenden Flut an Gesetzesinitiativen, die auf weitere Einschränkungen grundrechtlicher Freiheit abzielen643, kehrt
das Gefahrbewusstsein der Gesellschaft gegenüber staatlichem Machtmissbrauch
zurück. Auch diese Entwicklung muss zu einem nicht unerheblichen Teil den Medien zugeschrieben werden, die jüngst vermehrt den Blick von der in Deutschland
und Europa nach wie vor bestehenden Anschlagsgefahr auf die Maßnahmen der
Legislative richten. Ist aber der Bürger in seiner Meinungsbildung in nicht unerheblichem Maße von der medialen Berichterstattung über die mit dem internationalen
Terrorismus verbundenen Risiken, sei es die unmittelbare Gefahr durch terroristische Anschläge oder aber die Gefahr staatlichen Machtmissbrauchs bei der Bekämpfung des Terrorismus, abhängig, steht zu befürchten, dass bei erneuten Anschlägen
und die dadurch ausgelöste Hysterie in Medien und Politik die Angst vor physischer
Verletzung allzu schnell erneut die Oberhand gewinnen wird und eine rationale
Abwägung zwischen dem von der Maßnahme zu befürchtenden Freiheitsverlust und
dem konkret zu erwartenden Zugewinn an Sicherheit unmöglich macht. Sicherheitsbedürfnisse und -ansprüche der Menschen treten dann wiederum an die Legislative
heran, denen sich die Politik, insbesondere wenn sie die Sicherheit als Grundrecht
ansieht644, nur begrenzt entziehen kann.645 Politik und Gesellschaft bedingen sich
insofern gegenseitig. Auch in der gesellschaftspolitischen Diskussion ist daher das
Verhältnis von Freiheit und Sicherheit auf das rechte Maß zurückzuführen. Bislang
ist der Blick aber einseitig auf die Risiken der Freiheit und die Notwendigkeit einer
effektiven Sicherheitspolitik gerichtet. Die Chancen einer Freiheitspolitik, die bei
den Ursachen des Terrorismus ansetzt, haben bislang kaum Eingang in das gesellschaftspolitische Bewusstsein gefunden.646
Das gewandelte Verständnis von Freiheit und Sicherheit, von Rechtsstaatlichkeit
und Prävention, das Politik und Gesellschaft zeichnet, hat auch die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung nicht unberührt gelassen. Während der überwiegende Teil des Schrifttums dem politischen, insbesondere gesetzgeberischen Umgang
mit der terroristischen Bedrohung kritisch gegenübersteht und eine Neujustierung
von Sicherheit und Freiheit anmahnt647, befürwortet ein Teil der rechtswissenschaftlichen Lehre dagegen die neue Gangart der Legislative und sucht nach Wegen, eine
643 S. etwa zur Diskussion um die automatische Gesichtserkennung, die Verwendung von Mautdaten zur Fahndung und Überwachung, die Vorratsspeicherung von Fingerabdrücken und
Passfotos aller Bürger und die heimliche Online-Durchsuchung privater Computer Prantl,
Süddeutsche Zeitung vom 21./22. April 2007, S. 15.
644 S. zur Diskussion im Gesetzgebungsverfahren zur Antiterrordatei Plenarprotokoll 16/71, S.
7095.
645 Gusy, VVDStRL 63 (2004), 151 (175).
646 So auch Gusy, VVDStRL 63 (2004), 151 (188).
647 S. etwa Hirsch, Grundrechte-Report 2002, 15; ders., Vorgänge 2002, 5; Hassemer, Vorgänge
2002, 10; Hoffmann-Riem, ZRP 2002, 497; Waechter, JZ 2002, 854; Hetzer, StraFo 2006,
140; Roellecke, JZ 2006, 265; Düx, ZRP 2003, 189; Denninger; StV 2002, 96; ders., KJ 35
(2002), 467; Limbach, Kollektive Sicherheit, S. 6ff.; Schulze-Fielitz, in: FS f. Schmitt Glaeser, S. 407; Hetzer, ZRP 2005, 132; Scholz, in: FS f. Meyer, S. 177.
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Abkehr von rechtsstaatlichen Grundsätzen zu rechtfertigen. Dies belegt insbesondere die Diskussion um die Einführung eines Feindstrafrechts648 und die Zulässigkeit
von Folter zur Gefahrenabwehr649.
Vorrangig die Judikatur versucht diesem Verständniswandel entgegenzutreten
und die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit wieder herzustellen. So hat insbesondere das BVerfG zahlreiche Ermächtigungsgrundlagen, die im Zuge der Terrorismusbekämpfung Eingang in die Gesetze gefunden haben, jedenfalls in Teilen für
verfassungswidrig erklärt. Regelungen zur Brief- und Telefonüberwachung durch
das Zollkriminalamt650, zur vorbeugenden Telefonüberwachung durch die Länderpolizeien651, zum Abschuss ziviler Luftfahrtzeuge durch die Streitkräfte652 sowie zur
Rasterfahndung653 fanden die Kritik des Gerichts. Deutlich hat das BVerfG in seinen
Entscheidungen die Unausgewogenheit, mit der individuelle Grundrechte für die
Befriedigung kollektiver Sicherheitsbedürfnisse eingeschränkt werden, beanstandet
und den zunehmenden Verlust bürgerlicher Freiheit kritisiert.654
II. Verfassungsrechtliche Grenzen des Verständniswandels betreffend das Verhältnis
von Freiheit und Sicherheit
Im Hinblick auf den aufgezeigten Verständniswandel der jüngeren Zeit ist zu untersuchen, ob dem Gesetzgeber in seiner Tendenz, der inneren Sicherheit Vorrang vor
individuellen Freiheitsrechten einzuräumen, von Verfassungs wegen Grenzen gesetzt sind.
1. Der Verfassungsrang der Sicherheit
Insofern ist zunächst der Verfassungsrang der inneren Sicherheit zu problematisieren. Denn nur soweit ihr Verfassungsrang als Staatszweck, Staatsaufgabe, Staatszielbestimmung, staatlicher Schutzpflicht oder gar als individuellem „Grundrecht
auf Sicherheit“ zukommt, ist eine ranggleiche Abwägung mit den Freiheitsrechten
des Einzelnen denkbar.655
648 S. hierzu Düx, ZRP 2003, 189 (194) m.w.N.
649 Zum Streitstand s. Bielefeldt, APuZ 36 (2006), 3; Ekhardt, NJ 2006, 64; Gusy, VVDStRL 63
(2004), 151 (176); Jerouschek/Kölbel, JZ 2003, 613; Schulze-Fielitz, in: FS f. Schmitt Glaeser, S. 416ff. jeweils m.w.N.; befürwortend Brugger, JZ 2000, 165; ders., Freiheit und Sicherheit, S. 56ff.; wohl auch Wittreck, DÖV 2003, 873.
650 BVerfG NJW 2004, 2213.
651 BVerfG, 1 BvR 668/04 vom 27.7.2005.
652 BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006.
653 BVerfG NJW 2006, 1939.
654 Kritisch zur jüngsten Judikatur Hillgruber, JZ 2007, 209 (212ff.).
655 BVerfGE 28, 243 (260f.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Gemeinsame Verbunddateien der Sicherheitsbehörden auf dem Prüfstand: Kurz nach Inkrafttreten des in Politik und Rechtswissenschaft stark umstrittenen Antiterrordateigesetzes (ATDG) liefert das Werk eine wissenschaftlich fundierte Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der informationellen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im Allgemeinen und der Antiterrordatei im Besonderen. Am Beispiel der Antiterrordatei zeigt die Arbeit die verfassungsrechtlichen Grenzen auf, die das Trennungsgebot und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemeinsamen Verbunddateien von Polizei und Nachrichtendiensten setzen. Eingebettet werden die Erkenntnisse in die verfassungsrechtliche Diskussion um die Grenzen staatlicher Sicherheitsgewährleistung. Mit ihren Ausführungen zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit bezieht die Arbeit Position zur jüngsten Antiterrorgesetzgebung insgesamt.