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Fünfter Teil:
Verhältnis der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft für
rechtmäßige Rechtsetzungsakte zu nationalen Rechtsbehelfen
I. Problemdarstellung
Das Verhältnis der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft für rechtmäßiges Handeln könnte sich als Problem der Haftungskonkurrenz zu mitgliedstaatlichen Rechtsbehelfen darstellen. Die Frage möglicher Haftungskonkurrenz betrifft die Abgrenzung der Geltungsbereiche der Haftungssysteme der Europäischen Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. Aufschluss wird insoweit das Verhältnis der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft (für rechtmäßiges und
rechtswidriges Handeln) zu nationalstaatlichen Rechtsbehelfen geben.
Wesentlich für die Abgrenzung der Verantwortlichkeit ist, dass dem nationalen
Gesetzgeber oder der vollziehenden mitgliedstaatlichen Behörde eine eigene Gestaltungsbefugnis bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts verbleibt.1042 Hierbei ist grundlegend zwischen dem Vollzug einer Verordnung der Gemeinschaft
und der nationalen Umsetzung einer Richtlinie zu unterscheiden, da letztere nur
den Rahmen für die Umsetzung darstellt, wohingegen die Verordnung unmittelbare Wirkung entfaltet.1043 Das bedeutet, dass die eigene Verantwortung des nationalen Gesetzgebers gerade bei der Umsetzung von Richtlinien bedeutsam wird,
wohingegen bei Verordnungen die Gestaltungsfreiheit der Vollzugsbehörde eher
selten, aber möglich ist.
Der Fall echter Haftungskonkurrenz, in der ein Sonderopfer einer begrenzten Personengruppe als nachteilige Folge eines an sich rechtmäßigen Rechtsetzungsaktes der Gemeinschaft auferlegt wird, ist für Verordnungen und Richtlinien daher
gedanklich zu trennen.
Im Anschluss daran wird untersucht, ob das nationale Staatshaftungsrecht auch
die Funktion totalen Rechtsschutzes übernehmen kann.
1042 Schockweiler, RTDE 1990, S. 29, 67.
1043 Unter der Voraussetzung, dass die Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt worden ist, kann
sie auch unmittelbare Wirkung im Mitgliedsstaat erlangen. Siehe zu den weiteren Voraussetzungen: Oppermann, Europarecht, § 6, Rn. 92 ff.; Scherzberg, Jura 1993, S. 225, 226;
Trüe, EuR 1996, S. 179, 183 ff.
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II. Konkurrierende Haftung von Gemeinschaft und Mitgliedstaat
1. Konkurrierende Verantwortlichkeit im Bereich des Vollzuges rechtmäßiger
Verordnungen?
Die Verantwortlichkeit von Staat und Gemeinschaft beim Vollzug von Verordnungen ist im Bereich der Rechtswidrigkeitshaftung festgestellt worden, wenn einerseits die Verordnung gemeinschaftsrechtswidrig und der innerstaatliche Vollzugsakt seinerseits rechtswidrig ist.1044 Der entscheidende Gesichtspunkt für die
Haftung des Mitgliedstaates ist dabei, dass die Rechtswidrigkeit der Verordnung
sich nicht in dem Vollzugsakt fortsetzt, sondern dort gerade eine neue, eigene Ursache der Rechtswidrigkeit gesetzt wird.1045 Diesen Fall hatte der EuGH bislang
nur ein einziges Mal in der Rs. Kampffmeyer zu entscheiden.1046 Die Frage ist nun,
ob sich eine solche Situation zumindest logisch für den Vollzug einer rechtmäßigen Verordnung denken lässt. Vorausgesetzt ist zunächst, dass die inhaltlich determinierte Verordnung selbst bereits ein atypisches Sonderopfer für betroffene
Bürger statuiert, das über die unmittelbare Geltung von Verordnungen im nationalen Recht die Rechtsposition Einzelner beeinträchtigt. Es ist zumindest denkbar, dass der staatliche Vollzugsakt auf der Grundlage der Verordnung ein zusätzliches, von der Verordnung unabhängiges, Sonderopfer auferlegt. Gleichwohl
kann nicht geleugnet werden, dass die Situation konstruiert ist.1047 Auch ist der
eigene Gestaltungsspielraum, der die Verantwortlichkeit der Umsetzungsbehörde
zum Ausdruck bringt, gerade bei unmittelbar wirkenden Verordnungen wohl eher
gering. Allenfalls kann für die Mitgliedstaaten die Pflicht bestehen, Durchführungsvorschriften oder organisatorische, verwaltungsrechtliche Einzelmaßnahmen zu erlassen, um die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu ermöglichen
oder dessen Regelungsgehalt zur Wirkung zu bringen.1048 Hier kommen – zumindest theoretisch – ein Anspruch gem. Art. 288 Abs. 2 EG gegen die Gemeinschaft
und ein Anspruch aus enteignendem Eingriff gegen die deutsche Vollzugsbehörde
in Betracht, wenn auch nur insoweit, als der Vollzugsakt nicht legislativer Natur
ist.1049
1044 Schmahl, ZEuS 1999, S. 415, 423 f.
1045 Stefanou/Xanthaki, in: Lonbay/Biondi, Remedies for Breach of EC Law, S. 90 f.; Renzenbrink, Gemeinschaftshaftung und mitgliedstaatliche Rechtsbehelfe, S. 114 f.; Allkemper,
Rechtschutz des einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 138. Zu weiteren denkbaren Konstellationen, siehe: Oliver, in: The Action for Damages in Community Law, S. 285, 299 ff.
1046 EuGH, Urteil v. 14.7.1967, verb. Rs. 5, 7, 13-24/66, Kampffmeyer, Slg. 1967, S. 331 ff.
1047 Wenngleich die Situationen echter Haftungskonkurrenz eher selten sein dürften, gibt Oliver zu bedenken, dass »there is no a priori reason why it should not occur«. Oliver, in:
The Action for Damages in Community Law, S. 285, 303.
1048 Hetmeier, in: Lenz, Art. 249, Rn. 7.
1049 Zumindest, wenn man den Ausschluss der Haftung des deutschen Gesetzgebers zugrunde
legt.
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References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.