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Durch die Vermeidung von Konflikten zwischen nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten kann der Rechtmäßigkeitshaftung sogar letztlich eine
vermittelnde Rolle zugesprochen werden.
3. Mögliche Arbeitsüberlastung der europäischen Gerichtsbarkeit durch die
Zunahme der Schadensersatzklagen
Die Öffnung der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft auch für rechtmä-
ßiges Handeln könnte die zuständige europäische Gerichtsbarkeit vor das Risiko
einer unübersehbaren Prozessflut stellen, welche in der Folge zu einer kontraproduktiven Überbelastung von EuG und EuGH führte. Das Problem ergibt sich aus
einer erleichterten Beweislage für den Betroffenen, welcher nunmehr von dem
schwierigen Nachweis rechtswidriger Amtstätigkeit befreit ist.1033 Die begrenzten
Kapazitäten von EuG und EuGH erfordern daher ein prozessökonomisches Vorgehen. Die Grenze der Prozessökonomie liegt dabei in dem Anspruch des Einzelnen auf Justizgewährung, der wiederum Teil des in der Gemeinschaft geltenden
Rechtsstaatsprinzips ist.1034 Um das Risiko einer »Popularklage«1035 ausschließen
zu können, muss zunächst auf der Zulässigkeitsebene die Sachurteilsvoraussetzung des substantiierten Klägervortrages Beachtung finden.1036 Da die Haftung
nicht schon bei bloßer Rechtmäßigkeit des Handelns greift, sondern das Sonderopfer das entscheidende Kriterium der Haftungsauslösung ist, muss der Kläger
dieses im Rahmen der Zulässigkeit darlegen. Zwar wird er von der Pflicht des
Nachweises der Amtspflichtverletzung befreit. Dies führt aber nicht dazu, dass
die Darlegungslast der lastengleichheitswidrigen Diskriminierung aufgehoben
wird. Damit schränkt sich der Personenkreis potentieller Kläger bereits im Vorfeld weitgehend ein. Das Postulat, der Gesetzgeber könne einer Prozesslawine
durch möglichst umfassende Beachtung aller Grundrechtspositionen entgegenwirken,1037 erscheint dagegen zu theoretisch, um lösungswirksam an dem Problem
mitzuwirken. Diese Verpflichtung des Normgebers ergibt sich überdies bereits
aus dem Anspruch des EU-Bürgers auf rechtmäßiges Verhalten der Gemeinschaftsorgane und ihrer Bediensteter.1038 Gleichwohl kommt der anerkannten
Rechtmäßigkeitshaftung auch eine Präventivfunktion zu, die dem Haftungsrecht
1033 Grabitz, in: EurVerwR, S. 167, 193; Couzinet, RTDE 1986, S. 367, 370 ff. Diese Bedenken
bestehen zugleich für die Haftung für normatives Unrecht, vgl.: Engler, EuGRZ 1979,
S. 377, 382.
1034 Winkler/Trölitzsch, EuZW 1992, S. 663, 668.
1035 Schmitz, Die Haftung der EWG für Verordnungsunrecht, S. 105.
1036 So bereits für die Klage gegen normatives Unrecht: Herdegen, Die Haftung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für fehlerhafte Rechtsetzungsakte, S. 150.
1037 Vgl. dazu: Haack, Die außervertragliche Haftung der Europäischen Gemeinschaften für
rechtmäßiges Verhalten ihrer Organe, S. 120 f.
1038 Modest, RIW 1978, S. 530, 532; Meinhold, RIW 1989, 455, 460; Fuß, EuR 1968, S. 353,
357.
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generell zueigen ist. Das System geht davon aus, dass der Schädiger sich in Zukunft vorsichtiger verhalten wird, so dass es nicht zu einem wiederholten Schadensfall kommen wird. Darüber hinaus entfaltet die bloße Haftungsandrohung
schon generalpräventive Wirkung.1039 Unter entsprechend engen Tatbestandsvoraussetzungen ist das Risiko von erhöhten Klageaufkommen im Fall der Rechtmä-
ßigkeitshaftung nicht ersichtlich höher als das solche im Falle normativen Unrechts, zumal die Möglichkeit der Haftbarmachung auch vorbeugenden, präventiven Charakter haben kann.1040
IV. Ergebnis der Konformitätsprüfung
Das Resümee der gemeinschaftsrechtlichen Konformitätsprüfung geht dahin,
dass einer Haftungserweiterung im Rahmen der außervertraglichen Haftung der
Gemeinschaft auch für rechtmäßige Rechtsetzungsakte nach dem allgemeinen
Rechtsgrundsatz der Lastengleichheit keine spezifisch gemeinschaftsrechtliche
Gründe entgegenstehen. Insbesondere im Bezug auf den Grundrechtsschutz als
Teil des Rechtsstaatsprinzips hat die Haftungserweiterung positiven Einfluss, da
sie dazu beiträgt, ein bislang bestehendes Rechtsschutzdefizit zu verringern und
den Grundrechten, insbesondere dem Eigentumsrecht, die Funktion als Abwehrrechte zu sichern, auch wenn das Haftungsinstitut nicht selbst als Abwehrmechanismus dienen, sondern »nur« einen demgegenüber schwächeren Ausgleichsanspruch gewähren kann. Auch verstößt die Rechtmäßigkeitshaftung nicht gegen
die Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts. Mit der Anerkennung der Haftung für rechtmäßige Verordnungen und Richtlinien wird nicht der »ordre public«
der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen missachtet. Wenngleich eine Zuordnung von Verordnungen und Richtlinien der Gemeinschaft zu den nationalen Exekutivakten nicht zwingend ist, so ist sie doch am naheliegensten und mit Rechtsschutzgesichtspunkten zu vereinbaren. Die Gründe, die auf nationaler Ebene für
die Haftungsimmunität des Gesetzgebers herangezogen werden, können auf Gemeinschaftsebene nicht zur Verhinderung der Haftungserweiterung führen. Die
Haftungsform erweist sich als vereinbar mit den Fundamentalprinzipien der
Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Ausrichtung, welche in dargelegter
spezifischer Form auf Gemeinschaftsebene Geltung beanspruchen. Insbesondere
verstößt sie nicht gegen das Demokratieprinzip. Die Haftungserweiterung lässt
auch keine Befürchtung finanzieller Überbelastung des Gemeinschaftshaushalts
durch eine erhöhte Zahl von Klagen zu. Die konsequente Anwendung des Sonderopfergedankens steht diesen Bedenken entgegen. Auch der prognostizierte Eingriff in die Kompetenzen und Gestaltungsfreiheiten von Rat und Kommission
1039 Der Grundsatz der Prävention ist auch in den Rechtsordnungen mancher Mitgliedsstaaten
verankert. Vgl. für das italienische und niederländische Recht: Magnus, in: Unification of
Tort Law, S. 185 f.
1040 Das Argument gilt ebenso für die Klage wegen normativen Unrechts, vgl.: Gründisch, RIW
1979, S. 850, 851; Ewert, Funktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 144 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.