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gegen Rechtsverordnungen oder die mangelhafte parlamentarische Kontrolle hingewiesen hat.664
Der wertende, funktionale Rechtsvergleich erlaubt es, sich an besonders rechtsschutzfreundlichen Rechtsordnungen zu orientieren, sofern sie mit der Struktur
der Gemeinschaft übereinstimmen.665 Bereits 1971 hat der EuGH auf diesem
Wege die Haftung der Gemeinschaft für normatives Unrecht anerkannt,666 obgleich diese Haftung in nationalen Rechtsordnungen allenfalls in Ansätzen vorhanden war.667 An diesem Beispiel zeigt sich eindeutig, dass die weite Verbreitung für die Konkretisierung eines Rechtsgrundsatzes sicherlich förderlich ist und
ihn leichter begründbar macht. Es kann aber bei Vorliegen besonderer Gründe sogar eine Lösung favorisiert werden, die nicht in allen Rechtsordnungen Eingang
gefunden hat.668 Ein besonderer Grund liegt hier auf jeden Fall in dem effektiven
Eigentumsgrundrechtsschutz, für die Fälle, in denen das Grundrecht in seinem
Wesensgehalt tangiert wird. Dieses Ergebnis stellt auch keinen Widerspruch zur
oben dargestellten Ablehnung der fortschrittlichsten Lösung dar, weil hier nicht
spezifisch auf eine Rechtsordnung abgestellt wird, von deren Veränderungen das
gesamte Gemeinschaftsrecht abhängen würde, sondern gerade auf mehrere,
wenngleich im Verhältnis zu anderen rechtsschutzfreundlichere Rechtsordnungen.
4. Einbeziehung der Rechtsordnungen neuer Mitgliedstaaten
Es stellt sich die Frage, ob der Rechtsvergleich auch neuere Mitgliedstaaten einbezieht. Theoretisch kann sich dadurch auch eine Änderung des Inhalts der allgemeinen Rechtsgrundsätze über die Staatshaftung ergeben.669 Der GA Roemer
hat bereits in den Schlussanträgen zur Rs. Werhahn darauf hingewiesen, dass die
Rechtsordnungen der drei neu hinzugetretenen Mitgliedstaaten (Großbritannien,
Irland und Dänemark) eine deutliche Entwicklungstendenz aufweisen.670 Thiesing hat diese These später dahingehend erläutert, dass die Staatshaftung zum Teil
durch Gesetze, zum Teil aber auch durch Rechtsprechung ausgeweitet wurde, so
dass der Abstand zwischen den neuen und den alten Rechtsordnungen weiter ver-
664 Haack, Die außervertragliche Haftung der Europäischen Gemeinschaften für rechtmäßiges
Verhalten ihrer Organe, S. 26.
665 Borchardt, in: Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, P I, Rn. 301; Schmahl, ZEuS 1999,
S. 415, 428.
666 EuGH, Urteil v. 2.12.1971, Rs. 5/71, Schöppenstedt, Slg. 1971, S. 975, 984, Rn. 11.
667 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 288, Rn. 94.
668 Heukels/McDonnell, in: The Action for Damages in Community Law, S. 1, 4; Schoißwohl,
ZEuS 2001, S. 689, 722.
669 Insoweit kritisch: Nicolaysen, EuR 1972, S. 375, 382.
670 GA Roemer, Schlussanträge v. 18.9.1973, verb. Rs. 63-69/72, Werhahn, Slg. 1973, S. 1254,
1258.
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ringert würde. Es sei daher nicht zu erwarten, dass Art. 215 Abs. 2 EWG a. F.
künftig enger ausgelegt würde.671
Gelegentlich wird jedoch gegen die Einbeziehung der »neuen« Rechtsordnungen
eingebracht, dass die Ausfüllung von Lücken des Gemeinschaftsrechts ex tunc zu
erfolgen habe und bei einer Vergrößerung der Zahl der Mitglieder und der in den
Rechtsvergleich einzubeziehenden Rechtsgrundsätze eine stillschweigende Ab-
änderung aus Rechtsvergleich gewonnenen Gemeinschaftsrechts erfolge.672 Ein
daraus abzuleitender entgegenstehender Wille der Vertragspartner der Gründungsverträge ist dagegen nicht festzustellen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb die
Gründungsväter der EWG die Rechtsordnungen der neuen Mitgliedstaaten hätten
ausschließen wollen, wo doch bereits in Art. 3 Abs. 1 lit. h EG das einhellige Ziel
definiert worden ist, die Rechtsordnungen einander anzugleichen und bestehende
Unterschiede zu minimieren, um somit die Integration weiterhin zu fördern.673
Andererseits dürfte es auch genauso wenig die Intention der neuen Mitgliedstaaten sein, einen minderwertigen Status hinzunehmen, indem sie einem Ausschluss
ihrer Rechtsordnungen bei der Analyse allgemeiner Rechtsgrundsätze zustimmen.674
Die Vorschrift des Art. 288 Abs. 2 EG ist »offen« ausgestaltet in der Hinsicht,
dass sie einer Anpassung der gemeinschaftlichen Haftungsregelung an Entwicklungen innerhalb der Gemeinschaft durch den Gerichtshof nicht entgegensteht.
Mit dem Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen wird einer Erstarrung entgegengewirkt und der Weg für Innovationen weiterhin offen gehalten. Die Verweisung muss insoweit »dynamisch« ausgestaltet sein, wobei eine Veränderung
der Rechtslage nicht bloß zu einer Lockerung des Standards führen muss, sondern
genauso gut auch strengere Maßstäbe setzen kann.675 Auch können Änderungen
in der Struktur der Gemeinschaft zu einer Verschiebung der Anknüpfungspunkte
des Rechtsvergleichs führen, was eine »Wandlung des gemeinschaftsrechtlichen
Haftungsregimes« nach sich ziehen könnte.676 Das Ergebnis des Rechtsvergleichs
soll sein, dass der Gemeinschaftshaftung eine dogmatisch haltbare Grundlage geliefert wird, basierend auf der ratio legis der einzelnen Mitgliedstaaten, die wiederum konform ist mit den strukturellen Besonderheiten der Europäischen Gemeinschaft.677
671 Thiesing, in: v.d.Groeben/v.Boeckh/Thiesing, Kommentar zum EWG-Vertrag, 2. Aufl.
1974, Art. 215, Rn. 11.
672 Oppermann/Feige, JuS 1974, S. 484, 485 f.
673 So auch: Meessen, Jahrbuch f. intern. Recht 1974, S. 283, 299.
674 Fuß, in: FS Raschhofer, S. 43, 51; im Ergebnis ebenso: Gilsdorf, EuR 1975, S. 73, 94;
Meessen, Jahrbuch f. intern. Recht 1974, S. 283, 298.
675 Herdegen, Die Haftung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für fehlerhafte Rechtsetzungsakte, S. 42.
676 Herdegen, Die Haftung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für fehlerhafte Rechtsetzungsakte, S. 42.
677 Zum Ganzen siehe auch: Jaenicke, in: Haftung des Staates, S. 859, 863.
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5. Kritische Auseinandersetzung mit der wertenden, funktionalen
Rechtsvergleichung
Die wertende, funktionale Rechtsvergleichung hat den entscheidenden Vorteil,
dass sie sich mit den Prinzipien beschäftigt, die den Grund der nationalen Staatshaftung ausmachen. Die mittlerweile große Anzahl der Mitgliedstaaten macht es
beinahe unmöglich, einen umfassenden Rechtsvergleich in der Hinsicht durchzuführen, dass wirklich jede – neue – Rechtsordnung, insbesondere im ost-europäischen Teil, mit einbezogen wird.678 Dies ist auch nicht unbedingt erforderlich,
vergegenwärtigt man sich nochmals die Funktion und die Funktionsweise des Art.
288 Abs. 2 EG: Es geht weder darum, einen Minimalstandard, noch einen Maximalstandard herauszufiltern. Ebenso wenig ist gewollt, sich sklavisch an die Haftungsgrundsätze zu halten, sondern das Augenmerk liegt auf den Rechtsgrundsätzen. Die Gemeinschaft, um deren Haftung es schließlich geht, hat eine eigene Organisationsstruktur, die bei der Verankerung von Haftungsinstituten im Gemeinschaftsrecht beachtet werden muss. Das primäre rechtspolitische Ziel, dass Art.
288 Abs. 2 EG von Anbeginn an verfolgt, liegt darin, dem EU-Bürger einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten679 und die Funktion des Gemeinschaftsrechts als »Integrationsrecht« zu fördern.680 Mit Blick auf diesen ganz entscheidenden Gesichtspunkt – welcher zugleich Grundlage dieser Bearbeitung ist – bestätigt sich die These, dass sich der wertende, funktionale Rechtsvergleich auch
an besonders rechtsschutzfreundlichen Rechtsordnungen orientieren kann, auch
wenn die dort gefundenen Ergebnisse nicht in allen Rechtsordnungen gleichfalls
beheimatet sind. Voraussetzung ist, dass die gefundene Lösung mit den spezifisch
gemeinschaftlichen Organisationsstrukturen übereinstimmt,681 welche im Weiteren noch untersucht werden müssen. Die Orientierung an den rechtsschutzfreundlichsten nationalen Varianten darf nicht gleichgesetzt werden mit dem teilweise
vorgebrachten Ansatz, dass die Rechtsgrundsätze aus der Heranziehung der »repräsentativsten« Rechtsordnungen gewonnen werden. Diese aus dem Völkerrecht
stammende Einordnung erfährt ihre Berechtigung daher, dass ein in den repräsen-
678 Der umfassende, jede einzelne Rechtsordnung mit einbeziehende Rechtsvergleich bezog
sich in seiner Begründung seinerzeit auch entscheidend auf die Überschaubarkeit der
Anzahl der Mitgliedstaaten, vgl. Meessen, Jahrbuch f. intern. Recht 1974, S. 283, 299.
679 Gilsdorf, EuR 1975, S. 73, 96, setzt Kritikern entgegen, dass Bedenken mittels rechtspolitischer Erwägungen bezüglich des Rechtsschutzes gegen normative Handlungen ausgeräumt werden können.
680 Das Gemeinschaftsrecht ist als Integrationsrecht auf Schaffung eines Konsenses ausgelegt. Der EuGH erhält damit eine größere Ermächtigung, sich vom »gemeinsamen Nenner
nationaler Rechtsordnungen weiter zu entfernen«, vgl. Meessen, Jahrbuch f. intern. Recht
1974, S. 283, 303.
681 Hoffmann-Becking, Normaufbau und Methode, S. 369 f.; so auch Grabitz, in: FS Kutscher,
S. 215, 220, der darauf hinweist, dass der Rechtsvergleich allein nicht zur Auffindung allgemeiner Rechtsgrundsätze herangezogen werden kann, sondern im Verhältnis zu sehen
ist mit den Gemeinschaftsfunktionen und den Strukturprinzipien der Gemeinschaftsverfassung. Ders. in: Non-contractual liability of the European Communities, S. 2, 3.
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References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.