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III. Sekundärrechtsschutz gegen rechtswidrige und rechtmäßige
Rechtsetzungsakte der Europäischen Gemeinschaft nach
Art. 288 Abs. 2 EG
Die Schwierigkeiten, die einer Haftung für rechtmäßige Rechtsetzungsakte entgegenstehen, sind hinsichtlich der gemeinschaftlichen Haftung für rechtswidrige
Rechtsetzungsakte bereits seit langem – zumindest in der Rechtsprechung – überwunden.
1. Außervertragliche Haftung der Europäischen Gemeinschaft für
rechtswidrige Rechtsetzungsakte
Seit dem Urteil in der Rs. Schöppenstedt hat der EuGH die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtswidrige Rechtsetzungsakte (sog. normatives Unrecht) und damit für rechtswidrig zugefügte Vermögensopfer anerkannt.549 In dieser Entscheidung entwickelte der Gerichtshof die Voraussetzungen, die im Vergleich zum Tatbestand für administratives Unrecht erfüllt sein müssen, damit die
Gemeinschaft auch für legislatives Unrecht haftet. Die Haftungsvoraussetzungen
für administratives Unrecht sind zuvor in der Entscheidung Lütticke dahingehend
umschrieben worden, dass die Haftung der Gemeinschaft nach Art. 215 Abs. 2
EWG a. F. das Vorliegen eines Schadens voraussetze, der im kausalen Zusammenhang mit dem Verhalten der Gemeinschaftsorgane stehe und dem ein rechtswidriges Verhalten zugrunde liege.550
Das Urteil in der Rs. Schöppenstedt knüpft an die Rechtsprechung im Fall Lütticke an551 und entgegen vielfach vorgebrachten anfänglichen Bedenken kommt es
mittlerweile auch im Bereich der Haftung für rechtswidrige Rechtsetzungsakte
nicht mehr auf ein Verschulden des Organs der Gemeinschaft für die Auslösung
der Haftung an.552 Der Europäische Gerichtshof führt zu den Haftungsvoraussetzungen für normatives Unrecht jedoch noch über die Lütticke-Kriterien hinaus
weiter an, dass die Haftung für einen rechtswidrigen Rechtsetzungsakt nur durch
eine hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz des
Einzelnen dienenden Rechtsnorm ausgelöst werden könne.
Die sog. Schöppenstedt-Formel der »hinreichend qualifizierten Verletzung« gab
Anlass für lebhafte Diskussionen um ihre inhaltliche Auslegung und Reichweite,
549 EuGH, Urteil v. 2.12.1971, Rs. 5/71, Schöppenstedt, Slg. 1971, S. 975 ff.; EuGH, Urteil
v. 19.5.1992, verb. Rs. C-104/89 u. C-37/90, Mulder, Slg. 1992, S. I-3061 ff.; Czaja, Die
außervertragliche Haftung der EG für ihre Organe, S. 17.
550 EuGH, Urteil v. 28.4.1971, Rs. 4/69, Lütticke, Slg. 1971, S. 325 ff.
551 EuGH, Urteil v. 2.12.1971, Rs. 5/71, Schöppenstedt, Slg. 1971, S. 975, 984 f. Rn. 11.
552 Kritisch insoweit noch: Gilsdorf/Oliver, in: v.d.Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 215,
Rn. 43 ff.
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auf die an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden soll.553 Einigkeit
besteht jedoch darin, dass diese Bedingung eine Ausuferung der Haftung verhindern soll und insoweit den Schutz der Gemeinschaftsorgane vor Überlastung
durch eine übermäßig hohe Zahl von Schadensersatzklagen verfolgt.
2. Außervertragliche Haftung der Europäischen Gemeinschaft für
rechtmäßige Rechtsetzungsakte – Entwicklungen in Rechtsprechung und
Literatur
Der Ersatz von Aufopferungsschäden, die betroffene EU-Bürger infolge rechtmä-
ßiger Rechtsetzungsakte erlitten haben, war lange Zeit von den europäischen Gerichten offen gelassen worden und wurde erst jüngst vom EuG angenommen. Eine
Stellungnahme des EuGH steht bislang noch aus. Der Weg hin zur Anerkennung
der Haftungserweiterung hat viel Zeit in Anspruch genommen und ist bis zum
heutigen Tage in der Literatur nicht unumstritten. Im Folgenden soll ein Überblick über die Rechtsprechung des EuG und des EuGH und den Meinungsstand
in der Literatur bezüglich der Haftung für rechtmäßiges gemeinschaftliches Handeln (in Form von Rechtsetzungsakten) gegeben werden.
a) Rechtsprechung von EuG und EuGH zur Frage der Haftung für
rechtmäßiges Handeln der Gemeinschaft
aa) Ältere Rechtsprechung
Das erste Mal hatte sich der EuGH bereits im Jahre 1972 mit der Frage der Rechtmäßigkeitshaftung zu befassen, die in dieser Entscheidung, wie in vielen nachfolgenden auch, noch als Hilfsantrag geltend gemacht worden ist.554 In der Rs.
Compagnie d’approvisionnement hatte die Klägerin auf der Grundlage von Art.
215 Abs. 2 EWG a. F. einen Schadensersatzanspruch geltend gemacht, der ihr
durch den Vollzug einer rechtswidrigen VO entstanden sei. Hilfsweise stützte sie
den Schadensersatzanspruch auf die Verletzung des Grundsatzes der »Gleichheit
aller Bürger vor den öffentlichen Lasten«,555 infolge zu niedriger Festsetzung von
Ausgleichsubventionen für Währungsmaßnahmen, was zu einem »außergewöhnlichen und besonderen Schaden« geführt habe.556 Die erhoffte Stellungnahme des
553 Dazu eingehend: Grabitz, in: FS Kutscher, S. 215, 222 ff.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art.
288, Rn. 12 ff. mit weiteren Nachweisen.
554 EuGH, Urteil v. 13.6.1972, verb. Rs. 9 u. 11/71, Compagnie d’approvisionnement, Slg.
1972, S. 391 ff.
555 Es handelt sich hierbei um das aus dem französischen Staatshaftungsrecht bekannte Haftungsinstitut der »rupture de l’égalité devant les charges publiques«.
556 EuGH, Urteil v. 13.6.1972, verb. Rs. 9 u. 11/71, Compagnie d’approvisionnement, Slg.
1972, S. 391, 395 f., 402.
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References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.