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V. Gleichwertigkeit der Grundrechtsgewährleistungen in der EMRK, der
Rechtsprechung des EuGH und der EuGRCh
Am Ende der Untersuchung zu den gemeinschaftlichen und völkerrechtlichen Eigentumsschutzvorschriften stellt sich die Frage, ob die genannten Grundrechtsgewährleistungen im Ergebnis als gleichwertig zu betrachten sind.498 Schließlich
haben alle Vorschriften, wie dargelegt, Ausstrahlungswirkung auf die Rechtsprechung des EuGH.499 Grundlegend ist der rechtliche Kontext heranzuziehen, in
dem sich die Normen befinden. Der gemeinschaftliche Eigentumsschutz ist in
erster Linie wirtschaftlich geprägt. Er verfolgt das Ziel, die wirtschaftliche Einheit in Europa voranzutreiben und setzt damit Individualinteressen in ein besonderes politisches und wirtschaftliches Spannungsverhältnis. Ganz anders ist das
völkerrechtliche Eigentumsrecht ausgestaltet, in dem nicht vorrangig volkswirtschaftliche Ziele berücksichtigt, sondern die Messlatte als grundrechtlich gewährleisteter Mindeststandard auf völkerrechtlicher Ebene angelegt wurde.
Nichts desto trotz entspricht der gemeinschaftliche Eigentumsbegriff in seiner
Ausgestaltung und Schutzweite demjenigen des Völkerrechts nach Art. 1, 1. ZP
EMRK. Die Menschenrechtskonvention kann nicht als veraltet angesehen werden, da der EGMR die Konvention einer bewusst evolutiven Auslegung unterzieht
und so gewährleistet, dass sich der Konventionsstandard den sich verändernden
sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen anpasst.500 Die EMRK
wird vom EuGH entscheidend als Auslegungshilfe herangezogen, was sich auch
schriftlich in Art. 6 Abs. 2 EG manifestiert. Der EGMR hat zu dem Verhältnis von
gemeinschaftlichen Grundrechten zu denjenigen der EMRK jüngst in der Rs.
Bosphorus klargestellt, »dass der im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Schutz der
Grundrechte als dem der Konvention ‚gleichwertig‘ (…) angesehen werden
kann«501. Auf der Grundlage dieser Entscheidung hat der EGMR festgestellt, dass
für Maßnahmen unter EG/EU-Recht eine widerlegbare Vermutung der Vereinbarkeit mit der EMRK bestehe, da das Unionsrecht insgesamt einen gleichwertigen
Grund- und Menschenrechtsschutz gewährleiste.502 Es dürfte damit in Zukunft
nicht einfach werden, Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die diese ohne eigenen
Ermessenspielraum vollziehen, vor dem EGMR überprüfen zu lassen, da eine nur
schwer zu zerstreuende Vermutung der Konventionskonformität zugunsten der
Gemeinschaftsrechtsordnung besteht.503 Ein Grund, der die Konventionskonformität widerlegen könnte, ist beispielsweise in nicht ausreichend bestehenden
Möglichkeiten verfahrensrechtlicher Durchsetzung des Grundrechts anzusie-
498 Ausführlich zu möglichen Divergenzen im Grundrechtsschutz zwischen EuGH und
EGMR: Philippi, ZEuS 2000, S. 97, 98 ff.
499 Philippi, ZEuS 2000, S. 97, 98 f.
500 Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, S. 92, 94.
501 EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Rs. Bosphorus, NJW 2006, S. 197, 203.
502 Bröhmer, EuZW 2006, S. 71; Schohe, EuZW 2006, S. 33.
503 Bröhmer, EuZW 2006, S. 71.
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deln;504 ein Kritikpunkt, den mehrere Richter unter anderem mit Blick auf die beschränkten Zugangsmöglichkeiten zum EuGH in ihren Sondervoten zu diesem
Urteil ins Feld führten.505
Die EuGRCh fährt bislang noch ein wenig im »Windschatten« dieser Grundrechtsgarantien. Die Begründung liegt klar in der bislang fehlenden Rechtsverbindlichkeit der Charta. Ansonsten ist der Schutz der Charta ebenfalls als korrespondierend mit dem der vorgehend genannten Normen anzusehen. Vom materiellen Gehalt der verglichenen Normen ausgehend kann zusammenfassend festgehalten werden, dass alle Eigentumsgewährleistungen auf dem annähernd gleichen
Schutzniveau anzusiedeln sind, wobei die Charta aufgrund ihrer fehlenden
Rechtsverbindlichkeit in dieser Betrachtung noch etwas zurückstehen muss.
VI. Auswertung des Rechtsvergleichs und Konsequenzen für den
gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz
Auf gemeinschaftsrechtlicher und völkerrechtlicher Ebene, aber auch in den Verfassungen der Mitgliedstaaten (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und
Nordirland, wo es sich um ein ungeschriebenes Prinzip handelt) wird das Eigentum grundrechtlich geschützt. Enteignungen und andere wesensgehaltsantastende Eingriffe werden dem Verhältnismäßig-keits- und verbreitet dem Lastengleichheitsgrundsatz unterstellt und erfordern eine Entschädigung, ohne eine
solche ein gerechter Interessens-ausgleich nicht gewährleistet werden kann.506
Das Eigentumsrecht kann Beschränkungen unterworfen werden, wenn diese Beschränkungen den Zielen der Gemeinschaft entsprechen und keinen unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der den Wesensgehalt der Eigentums-gewährleistung antastet. Die Bearbeitung hat gezeigt, dass die Entschädigungspflicht für wesensgehaltsantastende Eigentumseingriffe in der EMRK und
der Europäischen Grundrechte Charta verankert ist und auf der Grundlage des nationalen Verfassungsvergleichs auch vom EuGH für das gemeinschaftsrechtliche
Eigentumsrecht anzuerkennen ist, um insofern einen Gleichlauf zu den lange bestehenden Forderungen der Generalanwälte herzustellen. Der gemeinschaftsrechtliche Eigentumsschutz wirft auch das Problem der gerichtlichen Durchsetzung
und Geltendmachung auf,507 wobei die Geltendmachung von Grundrechts-posi-
504 Bröhmer, EuZW 2006, S. 71, 73.
505 Bröhmer, EuZW 2006, S. 71, 73; Schohe, EuZW 1006, S. 33.
506 Vgl. jüngst zum Abwägungsgebot (»fair balance«), zu dem im Übrigen auch Entschädigungsregelungen gehören: EGMR, Urteil v. 28.7.2005, Rs. Rosenzweig an bonded Warehouses Ltd. ./. Polen, § 49 ff. siehe: http://worldlii.org/eu/cases/ECHR/ 2005/ 552.html.
507 Ein Problemkreis, der bereits in der Bosphorus-Entscheidung zu einem Sondervotum mehrerer Richter geführt hat. Letztlich könnte die Vermutung der Gleichwertigkeit des Grundrechtsschutzes der EMRK und den Gemeinschaftsgrundrechten auf dem Spiel stehen, vgl.
dazu nochmals: Bröhmer, EuZW 2006, S. 71, 73 ff.
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References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.