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Da letztlich auch die faktische Wirkung des Eigentumseingriffs entscheidungserheblich ist, werden auch die bereits vom Schutzbereich des Eigentumsrechts der
EMRK berücksichtigten de facto Enteignungen von der gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgarantie umfasst. GA Capotorti führt in den Schlussanträgen weiter aus, dass zur Qualifizierung einer eigentumsbeschränkenden Maßnahme als
Enteignung ebenfalls der Umfang des dem Beteiligten auferlegten wirtschaftlichen Opfers richtungsweisend sei. Ein Eingriff habe enteignende Wirkung, wenn
dem Eigentumsobjekt kein nennenswerter wirtschaftlicher Wert mehr verbliebe.256 Der Generalanwalt stellt auf die Schwere des Eingriffs ab und führt mit
diesen materiellen Überlegungen Gedanken einer Sonderbelastung in das Gemeinschaftsrecht ein.
Der EuGH greift diese materiellen Abgrenzungskriterien nicht auf, sondern verbleibt bei seiner formalen Bestimmung der zielgerichteten Antastung des Wesensgehalts der geschützten Eigentumsposition.257 Zusammenfassend lässt sich
feststellen, dass der Begriff der Eigentumsentziehung unter formalen Gesichtspunkten verwandt ist mit demjenigen, der sich im Rahmen des Art. 1, 1. ZP
EMRK entwickelt hat. Materielle Aspekte des Eigentumsentzugs werden nur von
den Generalanwälten berücksichtigt.
b) Benutzungsregelung
Wie schon der Begriff der Eigentumsentziehung, so lehnt sich auch derjenige der
Benutzungsbeschränkung an die für das Eigentumsrecht der EMRK getroffene
Definition an. So ist eine Nutzungsregelung dann anzunehmen, wenn nur eine bestimmte Ausübung einer eigentumswerten Rechtsposition beschränkt oder verboten wird. Darüber hinaus muss es dem Eigentümer jedoch unbenommen bleiben,
weiterhin über sein Eigentum zu verfügen und es anderen, nicht untersagten Nutzungen zuzufügen.258
6. Rechtfertigung von Eigentumseingriffen
a) Gesetzliche Grundlage
Wie bereits bei Art. 1, 1. ZP EMRK ausgeführt wurde, bedarf auch der Eigentumseingriff im Gemeinschaftsrecht einer gesetzlichen Grundlage. Dieses Erfordernis ergibt sich aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die der EuGH
256 GA Capotorti, Schlussanträge v. 8.11.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3752, 3762.
257 Vgl.: EuGH, Urteil v. 10.6.2003, verb. Rs. C-20/00 u. C-64/00, Booker Aquaculture, Slg.
I-2003, S. 7446, 7477, Rn. 79.
258 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3746, Rn. 19.
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rechtsvergleichend als Erkenntnisquelle heranzieht wonach eine gesetzliche Eingriffsermächtigung zum europäischen »ordre public« gehört.259 Damit korrespondierend verlangt der Gerichtshof, dass Eingriffe in das Eigentum eine entsprechende Rechtsgrundlage im Gesetz erfordern, um nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EG) willkürliche und unverhältnismäßige
Eingriffe im Rahmen eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts auszuschließen.260
b) Allgemeinwohlgebundenheit als Ausdruck der eigentumsrechtlichen
Sozialbindung
Aus dem Wortlaut von Art. 1, 1. ZP EMRK entnimmt der EuGH den Grundsatz,
dass Eigentumseinschränkungen nur dann zulässig sind, wenn sie im Interesse
der Allgemeinheit durch die hoheitliche Gewalt für erforderlich gehalten werden.
Die Eruierung erfolgt anhand des vom Gerichtshof in offenen Fragen durchgeführten Rechtsvergleichs. Auch wenn dieser nicht immer als umfassend bezeichnet werden kann, so greift der Gerichtshof doch regelmäßig auf die Gemeinsamkeiten vieler nationaler Rechtsordnungen zurück, um sie für seine eigene Argumentation fruchtbar zu machen. Der EuGH gelangt so zu der Überzeugung, dass
der Grundsatz der Sozialbindung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten
verankert sei und daher müsse es auch im Gemeinschaftsrecht zulässig sein, über
die Allgemeinwohlklausel die Sozialbindung des Eigentums zum Ausdruck zu
bringen.261 Das gemeinschaftliche Allgemeininteresse ergibt sich aus den Gründungsverträgen, bspw. Art. 2 EG. Die Prüfung der Gemeinwohlnützigkeit stellt
auf den verfolgten Zweck ab und untersucht, ob dieser dem in den Gründungsverträgen zum Ausdruck kommenden Allgemeinwohl entspricht.262
c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgt nicht nur im Rahmen der EMRK, sondern auch im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte. Auch
wenn die Gründungsverträge nicht explizit zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit
anhalten, so wird der Grundsatz letztlich als allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gemeinsamer allgemeiner Rechtsgrundsatz herausgelesen. Demzufolge
259 GA Lenz, Schlussanträge v. 25.9.1984, Rs. 232/81, Agricola Commerciale Olio, Slg. 1984,
S. 3900, 3912.
260 EuGH, Urteil v. 21.09.1989, Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst, EuGRZ 1989, S. 395, 401, Rn.
19. Vgl. auch: Held, Die Haftung der EG für die Verletzung von WTO-Recht, S. 223.
261 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3746, Rn. 19; EuGH,
Urteil v. 11.7.1989, Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, S. 2263, 2267 f., Rn. 14 f.; EuGH,
Urteil v. 10.01.1992, Rs. 177/90, Kühn, EuZW 1992, S. 155, 156, Rn. 16.
262 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 200; siehe
auch: Schilling, EuZW 1991, S. 310, 311.
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muss jeder Eingriff in das Eigentumsrecht ein Ziel des Allgemeinwohls verfolgen
und zu diesem in einem angemessenen Verhältnis stehen, welches dann nicht besteht, wenn es zu einem für den Einzelnen untragbaren Eingriff kommt.263 Ähnlich dem deutschen Verfassungsrecht ermittelt der Gerichtshof die Verhältnismä-
ßigkeit der Maßnahme, indem er sie unter den Gesichtspunkten der »Geeignetheit«, »Erforderlichkeit« und »Angemessenheit« überprüft. Die Kriterien werden
wie folgt ausgefüllt:
aa) Geeignetheit der Eingriffsmaßnahme
Die Frage der Geeignetheit wird selten zu einer Verneinung der Verhältnismäßigkeit führen, da der Gerichtshof diesem Kriterium nicht den höchsten Stellenwert
zukommen lässt. Vielmehr spricht er dem handelnden Organ einen weiten Beurteilungsspielraum im Rahmen der Erwägungen zu, inwiefern die fragliche Maßnahme geeignet ist, das Ziel zu erreichen. Die Prüfung beläuft sich vielmehr auf
eine Willkürkontrolle.264
bb) Erforderlichkeit der Eingriffsmaßnahme
Anders als der EGMR prüft der EuGH die Erforderlichkeit einer hoheitlichen
Maßnahme dahingehend, ob sie von mehreren zur Zielerreichung möglichen
Handlungen die mildeste Eingriffsform darstellt.265 Dabei steht dem EuGH die alleinige und vollständige Überprüfbarkeit der gewählten Maßnahme zu, so dass
dieses Kriterium zum effektivsten Prüfungspunkt gegen Eingriffe durch Hoheitsakte wird.266
cc) Angemessenheit der Eingriffsmaßnahme
Vergleichbar der Prüfung, wie sie auch vom Bundesverfassungsgericht vorgenommen wird, überprüft der EuGH, ob ein angemessenes Verhältnis zwischen
dem Eingriff als Belastung des Einzelnen und dem verfolgten Ziel des Allgemeinwohls besteht.267 Dabei muss die Eigentumseinschränkung tatsächlich dem allgemeinen Wohl dienen und darf dabei keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck
als unverhältnismäßig zu qualifizierenden untragbaren Eingriff darstellen, wel-
263 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3747, Rn. 23.
264 Siehe u.a.: EuGH, Urteil v. 25.1.1979, Rs. 98/78, Racke, Slg. 1979, S. 69, 81, Rn. 5.
265 EuGH, Urteil v. 11.7.1989, Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, S. 2237, 2269, Rn. 21.
266 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 205.
267 EuGH, Urteil v. 11.7.1989, Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, S. 2237, 2269, Rn. 21; Schiller, RIW 1983, S. 928, 929; Thiel, JuS 1991, S. 274, 280.
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cher das Eigentum in seinem Wesensgehalt antastet.268 Darin liegt ein gravierender Unterschied zu der Prüfung, wie sie im deutschen Verfassungsrecht bekannt
ist. Während in Deutschland und auch sonst im Gemeinschaftsrecht die Wesengehaltsgarantie einen institutionellen Schutz des Grundrechts gewährleistet, wird
sie durch die Integration in den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu einem Instrument individuellen Schutzes, was dazu führt, dass eine unverhältnismäßige Einschränkung des Eigentumsrechts zugleich an dessen Wesensgehalt rührt.269 Der
Wesensgehalt bietet gerade keinen absolut unantastbaren Bereich. Diese Gleichstellung bedingt die Misslichkeit, dass im Bereich des Wesensgehalts des gemeinschaftlichen Eigentumsgrundrechts für dieses keine allgemeingültige Definition
getroffen werden kann.270 Der EuGH hat allerdings in der Rs. von Deetzen angedeutet, dass der Wesensgehalt der Eigentumsgarantie dann eine Verletzung ausschließe, wenn dem Eigentümer ein elementarer Teil seiner das Eigentum konstituierenden Verfügungsmacht verbleibe.271 Damit wird zugleich ausgeschlossen,
dass der Wesengehalt im Fall einer Nutzungsbeschränkung angetastet wird.272
Konstituierend für den Wesengehalt und die Angemessenheit eines Eigentumseingriffs ist in der Zusammenschau mit der Rechtsprechungspraxis des EGMR,
dass ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den Belangen der Allgemeinheit und
dem Individuum besteht, wobei gerade diese konkrete Abwägung in der EuGH-
Rechtsprechung bislang zu kurz kam. Stattdessen führte der Gerichtshof eine abstrakte Betrachtung der widerstreitenden Werte an.273 Der EuGH sieht sich nicht
in der Lage, die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind durch
seine eigene Beurteilung zu ersetzen.274 An einem gerechten Gleichgewicht fehlt
es im Ergebnis aber dann, wenn der Entziehung einer Eigentumsposition unter
Lastengleichheitsgesichtspunkten keine angemessene Entschädigung folgt.275 Im
Falle einer entschädigungslosen Enteignung wird dem Eigentümer der in der Sache innewohnende wirtschaftliche Wert entzogen und das Eigentum kann nicht
mehr seinem bestimmungsgemäßen Zweck zugeführt werden. Denn letztlich ist
das Eigentum Voraussetzung für eigenverantwortliche, wirtschaftlich unabhängige Lebensführung. Eine entschädigungslose Enteignung kann damit mit Brandt
268 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, 3747, Rn. 23; EuGH,
Urteil v. 10. Juli 2003, verb. Rs. C-20/00 u. C-64/00, Booker Aquaculture, Slg. I-2003,
S. 7446, 7477, Rn. 79.
269 Ebenso: Thiel, JuS 1991, S. 274, 280.
270 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 205.
271 EuGH, Urteil v. 22.10.1991, Rs. 44/89, Von Deetzen, Slg. 1991, S. I-5119, 5157, Rn. 29.
272 Müller-Michaels, Eigentumsschutz in der EU, S. 53.
273 Vgl. EuGH, Urteil v. 5.10.1994, Rs. C-280/93, BRD, EuGRZ 1995, S. 151, 156, Rn. 79
f.; kritisch zu dieser Vorgehensweise: Borchardt, in: Handbuch des EU-Wirt-schaftsrechts,
P I, Rn. 302.
274 Held, Die Haftung der EG für die Verletzung von WTO-Recht, S. 227.
275 Vgl. bereits: EGMR, Urteil v. 23.9.1982, Rs. Sporrong und Lönnroth, EuGRZ 1983,
S. 523, 527, Rn. 73.
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als Verletzung des Wesensgehalts der Eigentumsgarantie angesehen werden.276
Gleichzeitig folgt daraus, dass die Entschädigungsfrage im Gemeinschaftsrecht
nur im Zusammenhang mit einer Enteignung oder einer sonstigen unverhältnismäßigen, wesensgehaltsantastenden Maßnahme gestellt wird.
7. Entschädigung für Eigentumsbeeinträchtigungen
a) Zur Entschädigungsproblematik im Gemeinschaftsrecht
Der EuGH hat bislang zur Frage der Entschädigung für Eigentumsentziehungen
nicht ausdrücklich Stellung bezogen.277 Aus der Rechtsprechung lassen sich nur
Indizien für die Haltung des Gerichtshofes entnehmen. Während er in der Rs.
Hauer die Entschädigungsfrage gänzlich außen vor ließ, hat er sich zumindest ansatzweise kritisch gegenüber einem Grundsatz der Eigentumsentschädigung in
der verb. Rs. Booker Aquaculture geäußert. Der EuGH hatte sich mit dem Vorbringen der Klägerin zu beschäftigen, ob die durch die Notschlachtung von verseuchten Zuchtfischbeständen verursachten Beschränkungen des Eigentumsrechts bei Fehlen einer Entschädigung einen im Hinblick auf den verfolgten
Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der dieses Recht
in seinem Wesensgehalt antaste.278 Das Gericht verneinte zunächst das Vorliegen
des Nutzungsentzugs des Eigentums.279 Im Gegenteil führe die Schlachtung der
befallenen Fischbestände nicht zu einem Nutzungsentzug, sondern trage dazu bei,
dass die Nutzung des Betriebs wieder aufgenommen werden könne.280 Eine Ansicht, der man durchaus skeptisch gegenüberstehen kann. Die Argumentation vermischt offenbar das Eigentum an den Fischbeständen mit demjenigen an dem
Zuchtbetrieb, welches von der Klägerin nicht in Abrede gestellt worden ist. Es
geht der Klägerin um Ersatz für die geschlachteten Fischbestände; einen Entzug
der Nutzung ihres eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes macht sie dagegen nicht geltend. In Bezug auf die einer Vermarktung entzogen geschlachteten
Fische ist der Klägerin die Eigentumsposition formal entzogen worden, ohne dass
sie dafür ein Äquivalent erhielt. Unabhängig von der Frage, ob die Maßnahme im
Sinne des Allgemeinwohls vorgenommen worden ist, ist das Eigentum an den Fischen durch deren Schlachtung in seinem Wesensgehalt angetastet worden. Der
EuGH ließ die Frage, ob eine wesensgehaltsantastende Maßnahme entschädigungspflichtig sei, ausdrücklich dahin stehen und stellte statt dessen fest, dass es
276 Brandt, Eigentumsschutz in europäischen Völkerrechtsvereinbarungen, S. 208.
277 So auch: Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 162.
278 EuGH, Urteil v. 10.7.2003, verb. Rs. C-20/00 u. C-64/00, Booker Aquaculture, Slg. I-2003,
S. 7446, 7477, Rn. 79.
279 EuGH, Urteil v. 10.7.2003, verb. Rs. C-20/00 u. C-64/00, Booker Aquaculture, Slg. I-2003,
S. 7446, 7476 ff., Rn. 79 ff.
280 EuGH, Urteil v. 10.7.2003, verb. Rs. C-20/00 u. C-64/00, Booker Aquaculture, Slg. I-2003,
S. 7446, 7477, Rn. 79 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie begründet, weshalb die Haftung der Europäischen Gemeinschaft für rechtmäßige Rechtsetzungsakte keinen Verstoß gegen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt. Im Gegenteil: Diese Haftung für Sonderopfer ist gemeinschaftsrechtskonform und liefert zugleich einen Beitrag zur grundrechtlichen Anerkennung der Entschädigungspflicht für eigentumsentziehende oder -entwertende Maßnahmen. Mittels einer detaillierten rechtsvergleichenden Untersuchung zur Entschädigungspflicht bei Eigentumsentzugsmaßnahmen und zur gemeinschaftsrechtlichen Grundlage der europäischen Sonderopferhaftung stellt die Bearbeitung einen alternativen Ansatzpunkt für die Sonderopferhaftung bereit und liefert einen neuen Diskussionspunkt zu einer aktuellen Rechtsprechung.